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Unsichtbare Besatzung: Die Türkei und Russland in Libyen

Megatrends Spotlight 35, 10.07.2024

Westliche Regierungen werfen Russland und der Türkei vor, mit ihren Militäreinsätzen Libyen zu destabilisieren. Doch deren Präsenz ist im libyschen Alltag kaum spürbar, selbst in unmittelbarer Nähe ihrer Militärbasen. In diesem Megatrends Afrika Spotlight argumentiert Wolfram Lacher (SWP), dass beide Staaten bewusst Zurückhaltung üben, um langfristig in Libyen Fuß zu fassen – ein Ansatz, der bisher zu funktionieren scheint.

Bei meinen Besuchen in Tripolis in den letzten zwei Jahren fuhr ich immer wieder zu Treffen auf einer Militärbasis am westlichen Stadtrand der Hauptstadt. Die Basis liegt am Ende einer Sackgasse einige hundert Meter von der Küstenstraße entfernt. Um dorthin zu kommen, muss man an einem anderen Stützpunkt in unmittelbarer Nähe vorbei, Sidi Bilal – einer von mehreren Stützpunkten syrischer Söldner, die seit 2020 von der Türkei im Westen Libyens stationiert wurden. Bei meinen ersten Besuchen konnte ich deutlich die türkische Flagge an der Mastspitze im Inneren der Basis erkennen. Syrische Kämpfer beäugten mich misstrauisch, während ich vorbeifuhr. Bei meinen letzten beiden Besuchen, Ende 2023 und Mitte 2024, war die Flagge von außen nicht mehr zu sehen. Durch einen schmalen Spalt im Tor konnte ich gerade noch den Blick eines syrischen Wachmanns erhaschen. Offensichtlich waren Maßnahmen getroffen worden, um die Anwesenheit der Syrer so unauffällig wie möglich zu gestalten. 

Diese Veränderungen sind repräsentativ für die jüngere Entwicklung des militärischen Engagements der Türkei und Russlands in Libyen. Beide Staaten haben ihre Präsenz dem politischen Kontext vor Ort angepasst, um sich langfristig zu etablieren. Anfängliche Episoden zeigten, welches Spannungspotenzial die Kontakte zwischen dieser Präsenz und der libyschen Gesellschaft bergen. Seither haben beide Staaten und ihre Proxies ihre Präsenz zunehmend unsichtbarer gemacht und ihre Interaktionen im Umfeld ihrer Stützpunkte sukzessive reduziert. Die Strategie scheint bisher im Großen und Ganzen aufzugehen. Beide Akteure konnten ein gewisses Maß an Akzeptanz für die ausländische Militärpräsenz erreichen und verhindern, dass diese politisiert wird.

Einnisten

Westliche Staaten, allen voran die Vereinigten Staaten (USA), behaupten häufig, dass die russische Präsenz Libyen destabilisiere. Mit Ausnahme Frankreichs stellen sie den türkischen Einsatz nur selten in ähnlich negativer Weise infrage. Aber alle fordern gebetsmühlenartig, alle ausländischen Truppen aus Libyen abzuziehen.

Dass der libysche Konflikt seit dem Ende der Offensive Khalifa Haftars auf Tripolis im Juni 2020 eingefroren ist, ist jedoch vor allem dem Kräftegleichgewicht zu verdanken, das durch die russische und türkische Militärpräsenz geschaffen wurde. Beide Staaten hatten während dieses Konflikts militärisch in Libyen Fuß gefasst, nachdem westliche Regierungen Haftars Offensive unbeteiligt zugesehen und die USA und Frankreich beschlossen hatten, dem Krieg eine Chance zu geben. Seit dem Ende dieses Konflikts verlässt sich Haftar auf Russland - zunächst in Form der Gruppe Wagner -, um Proteste zu unterbinden und sich vor möglichen Angriffen seiner westlibyschen Gegner zu schützen. Diese wiederum setzen auf die Türkei, um eine erneute Offensive Haftars zu verhindern. Beide Seiten bezahlen ihre ausländischen Unterstützer für ihren Schutz, so dass diese kostengünstig eine dauerhafte Präsenz in Libyen aufbauen konnten. Nachdem Libyens Kontrahenten den Schluss ziehen mussten, dass auf westliche Staaten kein Verlass war, fehlt es letzteren nun an konkreten Ideen, wie sie ihre ständigen Forderungen nach einem Abzug der ausländischen Truppen in die Tat umsetzen könnten.

Als die beiden Staaten 2019 intervenierten, unterstrich ihr plötzliches Auftreten eindrucksvoll, wie schnell sich die internationale Ordnung veränderte – und wies damit den Weg für spätere Interventionen in afrikanischen Konflikten. Unter Libyern wie auch unter Beobachtern des Konflikts sorgte es für Verblüffung. Sowohl Russland als auch Haftars Streitkräfte bestritten die Intervention der Gruppe Wagner – die zu diesem Zeitpunkt offiziell gar nicht existierte. Beweise für die Präsenz von Wagner tauchten zunächst in Form von Dokumenten und Fotos auf, die Haftars Gegner auf dem Schlachtfeld erbeuteten.

Die Türkei hingegen intervenierte ganz offiziell, doch ihr Einsatz syrischer Kämpfer ab Dezember 2019 brachte die Anti-Haftar-Kräfte in Verlegenheit. Während letztere über die Söldner schwiegen und Journalisten den Zugang zu ihnen verwehrten, veröffentlichten die Syrer Videos von ihren ersten Kämpfen. Als die türkische Intervention Wagner schließlich zu einem überstürzten Rückzug zwang, geriet die heimliche Operation der Russen kurzzeitig ins Rampenlicht. Bilder von russischen Kämpfern, die am helllichten Tag auf offenen Lastwagen durch die Straßen einer westlibyschen Stadt evakuiert wurden, sorgten in den libyschen sozialen Medien für Aufsehen.

Unsichtbar werden

Als der Krieg zu Ende ging, die ausländischen Streitkräfte aber blieben, schienen die Ereignisse anfänglich das mit der ausländischen Militärpräsenz verbundene Spannungspotenzial zu unterstreichen. In der Nähe der neuen Frontlinie in Sirte terrorisierte Wagner die Bevölkerung, indem die Söldner ein Wohngebiet beschossen, die Bewohner vertrieben, ihre Häuser besetzten und die Umgebung verminten. Wer sich dem Gebiet näherte, riskierte den Tod. In einem südlichen Vorort von Misrata richteten sich syrische Kämpfer in den Häusern vertriebener Bewohner ein, was Spannungen mit den Nachbarn schürte. Als es im August 2020 in Tripolis angesichts der Wirtschaftskrise und maroder öffentlicher Dienstleistungen zu Protesten kam, prangerten die Demonstranten an, dass die syrischen Kämpfer in kostbaren US-Dollar bezahlt wurden, während Libyer kaum ihre Dinar-Gehälter im öffentlichen Dienst erhielten.

Als die westlibyschen Gegner Haftars wieder in Rivalitäten verfielen, versuchten manche, ihren Konkurrenten zu schaden, indem sie sie fälschlicherweise beschuldigten, syrische Kämpfer in lokalen Konflikten einzusetzen. Unterdessen schürten Pro-Haftar-Propagandisten Wut und Angst, indem sie erfundene Geschichten über die Entführung libyscher Frauen durch syrische Söldner verbreiteten.

Dass die ausländische Präsenz eine Gegenreaktion provozieren würde, schien umso wahrscheinlicher, da Kontakte zwischen den Söldnern und der einheimischen Bevölkerung nicht ungewöhnlich und weitgehend unreguliert waren. In Sirte und Jufra tauchten Russen häufig in Geschäften und Restaurants auf und trugen zuweilen offen Waffen. Sudanesische Kämpfer, die Haftar nicht mehr bezahlen konnte, wurden für die Bevölkerung zu einem noch größeren Ärgernis, als sie anfingen, an Checkpoints Zölle zu erheben und ihre Vorstöße in den Treibstoffschmuggel zu Engpässen für libysche Verbraucher führten. In Tripolis verließen die Syrer auch regelmäßig zu Fuß ihre Stützpunkte, um Lebensmittel einzukaufen. Im August 2021 protestierten sie offen vor einer Basis gegen verspätete Gehaltszahlungen.

Seitdem aber ist die türkische, syrische und russische Präsenz nach und nach weitgehend unsichtbar geworden. In Sirte zogen sich die Wagner-Kämpfer aus den von ihnen besetzten Gebieten im Laufe des Jahres 2021 in einen gesonderten Bereich auf dem Luftwaffenstützpunkt Qardhabiya zurück. Ihre Besuche in lokalen Geschäften in Sirte und Jufra, oft zusammen mit ihren syrischen Übersetzern, sind deutlich seltener geworden. Zeigen sie sich doch in der Öffentlichkeit, tragen sie nun ausnahmslos Zivilkleidung und signalisieren damit, dass sie an ihrem freien Tag unterwegs sind.

In den südlichen Stützpunkten Brak und Tamanhant, wo die Russen ebenfalls präsent sind, sind sie außerhalb der Stützpunkte noch seltener anzutreffen, wie Anwohner berichten. Gesprächspartner aus dem äußersten Süden berichten, dass sie gelegentlich von russischen Besuchen an abgelegenen Orten wie Goldminen oder Militärbasen hören – aber selten, dass sie sie mit eigenen Augen gesehen haben.

Ähnliches gilt für die von der Türkei stationierten syrischen Kämpfer. In Suq al-Khamis, südlich von Tripolis, hatten sich Anwohner früher darüber beschwert, dass die syrischen Kämpfer oft zu Fuß von einem dortigen Stützpunkt kamen. Seit mindestens einem Jahr beschränken sie sich jedoch auf eine wöchentliche Autofahrt zu lokalen Geschäften. Dies deutet darauf hin, dass ein Regime eingeführt wurde, um die Interaktion mit der lokalen Bevölkerung zu regulieren - was die Langeweile für die Syrer zu einem großen Problem macht.

Die formelle türkische Militärpräsenz selbst ist noch weniger sichtbar und beschränkt sich auf einige wenige Militärstützpunkte zwischen Misrata und der tunesischen Grenze. Außerhalb dieser Stützpunkte ist türkisches Militärpersonal nur äußerst selten anzutreffen.

Implausible Deniability

Bei dieser Selbstisolierung von der libyschen Gesellschaft geht es nicht um deniability – oder zumindest nicht mehr. Russland hat lange (und unplausibel) bestritten, Truppen in Libyen zu haben. Doch seit der Rebellion und dem Tod des Wagner-Gründers, Jewgeni Prigoschin, geht Russland langsam dazu über, seine Präsenz offen zuzugeben. Das russische Verteidigungsministerium übernimmt nun schrittweise die frühere Rolle von Wagner. Der russische Botschafter in Tripolis erklärte 2024 in mehreren Interviews, dass russische "Elemente" - nicht Streitkräfte - mit Haftars Verbänden in Ostlibyen zusammenarbeiteten. Die viel beachtete Lieferung von Waffen durch russische Schiffe über den Hafen von Tobruk im April 2024 und der Besuch mehrerer russischer Kriegsschiffe dort im Juni verstärkten den Eindruck, dass die russische Präsenz offenkundiger und offizieller wird.

Stattdessen gibt der Modus Operandi der Türkei und Russlands in Libyen Aufschluss über den Zweck ihrer Präsenz. In Mali und der Zentralafrikanischen Republik verfolgte Wagner Ziele, die eine viel stärkere Interaktion mit der Bevölkerung erforderten: Ihre brutale Aufstandsbekämpfung forderte viele zivile Opfer, aber sie machten auch Geschäfte oder unternahmen PR-Kampagnen, die die Russen als Verfechter der nationalen Souveränität gegen den französischen Neokolonialismus heroisierten.

In Libyen dagegen hat die türkische und russische Präsenz seit dem Ende des Krieges um Tripolis nur sehr wenige bewaffnete Interventionen gegen lokale Akteure mit sich gebracht. Ebenso wenig haben die beiden Staaten ihre Truppenstationierung dazu genutzt, Kontrolle über die Ressourcengewinnung zu erringen – auch wenn die Präsenz selbst Möglichkeiten zum Profit bietet, etwa durch die Ausbeutung syrischer Kämpfer.

Vielmehr scheint der Sinn darin zu bestehen, die Präsenz aufrechtzuerhalten. Für die Türkei, so ein libyscher Kommandeur mit engen Beziehungen zu türkischen Offizieren, bestehe der Zweck der Stationierung syrischer Söldner darin, die Stellung der Türkei zu sichern. Eines Tages könnten die Türkei und Russland ihre militärische Rolle in politischen Einfluss und wirtschaftlichen Gewinn umwandeln – was ihnen bisher weitgehend verwehrt geblieben ist. Für Russland dienen Basen in Libyen auch als Drehscheibe für Einsätze in Afrika südlich der Sahara und potenziell für die maritime Machtprojektion im Mittelmeer. Um diese Ziele zu erreichen, scheint es der richtige Ansatz zu sein, sich zurückhaltend zu verhalten.

... und es funktioniert

Dort, wo zu erwarten ist, dass Interaktionen zwischen ausländischen Truppen und der einheimischen Bevölkerung zu Konflikten führen, werden sie häufig so weit wie möglich eingeschränkt. Diese Logik scheint auch dem russischen und türkischen Ansatz in Libyen zugrunde zu liegen, wo zwei Faktoren eine solche Stationierung besonders anfällig für Kontroversen machen: Erstens ist die libysche Öffentlichkeit ausländischen Truppen gegenüber ausgesprochen abgeneigt; zweitens ist die Legitimität sämtlicher libyscher Regierungsinstitutionen bestenfalls zweifelhaft, was bedeutet, dass weder Russland noch die Türkei über solide Beziehungen verfügen, auf die sie ihre Präsenz stützen könnten.

Im Großen und Ganzen scheint es, dass dieser Ansatz wie beabsichtigt funktioniert. Die ausländische Militärpräsenz ist mittlerweile nur noch selten Gegenstand von Kontroversen, und die Öffentlichkeit scheint sich an sie gewöhnt zu haben – mit zwei großen Ausnahmen. Die erste betraf Drohnenangriffe, die im August 2022 den Versuch eines politisch-militärischen Bündnisses vereitelten, in Tripolis eine neue Regierung einzusetzen. Die zweite Ausnahme war eine weitere Serie von Drohnenangriffen im Mai 2023, die unter dem Vorwand der Schmuggelbekämpfung Gegner des amtierenden Premierministers in Tripolis ins Visier nahm. In beiden Fällen beschuldigten die Opfer der Angriffe die Türkei öffentlich der Beteiligung. Öffentliche und private Dementis von türkischen Diplomaten und Militärs konnten die Libyer kaum überzeugen. Ein hochrangiger Politiker, der die türkische Intervention gegen Haftar begrüßt hatte, sagte mir nach den Angriffen im August 2022, er könne nicht akzeptieren, dass ein ausländischer Staat entscheide, wer in Tripolis regiere.

Solche Kontroversen legten sich jedoch schnell, und da es im Allgemeinen keine weiteren Zwischenfälle gab, ist die Frage der ausländischen Präsenz selten Gegenstand alltäglicher politischer Diskussionen. Ein Bewohner der Region Jufra ging sogar so weit zu behaupten, die Menschen seien "froh über die Russen, weil sie sich zurückhalten, sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern" und nichts tun, was die Lage vor Ort destabilisieren könnte. Natürlich dürfte diese Ansicht kaum repräsentativ sein. Vor allem lässt sie außer Acht, dass die Angst vor Repressionen durch Haftars Streitkräfte jegliche Äußerung von Unmut über die russische Präsenz praktisch ausschließt.

Die Zurückhaltung hilft Russland und der Türkei sicher auch dabei, Verbindungen mit ihren ehemaligen libyschen Gegnern zu knüpfen. Türkische Unternehmen sind jetzt im von Haftar kontrollierten Osten Libyens tätig, wo sie im Rahmen des von Haftars Söhnen kontrollierten Wiederaufbaus Aufträge ergattert haben. Die russische Botschaft kehrte Mitte 2023 unter einem Botschafter nach Tripolis zurück, der fließend Arabisch spricht und eine Charmeoffensive begonnen hat. Generell ist die Polarisierung unter den ausländischen Unterstützern der rivalisierenden Kräfte in Libyen längst der Ambiguität gewichen. Die Regierung in Tripolis umwirbt unermüdlich zwei andere wichtige ausländische Mächte, die traditionell Haftar unterstützt haben: Ägypten und die Vereinigten Arabischen Emirate. Für libysche Akteure bedeutet Multipolarität, dass sie mit konkurrierenden ausländischen Interessen jonglieren, anstatt sich zwischen ihnen zu entscheiden.

In anderen Kontexten hat sich die Isolierung ausländischer Truppen von ihrem sozialen Umfeld zuweilen nachteilig ausgewirkt, indem sie die Verbreitung von Gerüchten über angeblich verborgene Motive und bösartige Aktivitäten ausländischer Streitkräfte begünstigte. Dies galt beispielsweise für die französische und US-amerikanische Präsenz in den Sahel-Staaten, bevor die Anführer der Militärputsche sie zum Abzug zwangen.

Interessanterweise wird über die russische und türkische Präsenz in Libyen weit weniger spekuliert als über die Aktivitäten westlicher Staaten – insbesondere der USA, Großbritanniens und Frankreichs, obwohl alle drei eine weitaus geringere militärische Präsenz in Libyen haben als Russland und die Türkei. In den vergangenen zwei Jahren haben die USA, Großbritannien und Italien jeweils getrennt Beziehungen zu ausgewählten westlibyschen Kommandeuren aufgebaut, indem sie eine kleine Anzahl ihrer Truppen ausbildeten. Dieses bescheidene Engagement hat hartnäckige – aber meines Wissens völlig unbegründete – Gerüchte genährt, dass westliche Staaten eine libysche Truppe ausbilden und ausrüsten, um die Russen anzugreifen. Ironischerweise sieht also selbst die libysche Gerüchteküche in distanzierten westlichen Mächten eine wahrscheinlichere Quelle der Instabilität als in der türkischen und russischen Militärpräsenz.

Dr. Wolfram Lacher ist Projektleiter von Megatrends Afrika und Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Afrika und Mittlerer Osten der SWP.