Militärische Großübungen im Umfeld von Krisengebieten dienen nicht nur der Ausbildung. Mit ihnen senden Staaten politische Signale. Solche Manöver verstärken Bedrohungsperzeptionen und bergen die Gefahr der Eskalation. Als Moskau ab Ende März 2021 seine Truppenpräsenz östlich der Ukraine und auf der Krim erhöhte, warnten der ukrainische Präsident Selenskyj und westliche Militärexperten, Russland könne die Ukraine angreifen. Moskau beschuldigte Kiew, die Lage im Donbass zu verschärfen. Die Nato versicherte Kiew ihrer Solidarität. Auch das Manöver Defender Europe 21, das im März unter US-Führung begann, enthält eine politische Botschaft an Alliierte und Russland. Teile der bisher größten Militärübung von Nato-Staaten auf dem Balkan finden in unmittelbarer Nachbarschaft zur Ukraine statt. Moskau erklärte am 22. April die »Ausbildung« für beendet und kündigte an, bis zum 1. Mai die Truppen zurückzuverlegen. Doch die Lage bleibt instabil. Um Berechenbarkeit wiederherzustellen, müssen gegenseitige militärische Beschränkungen vereinbart werden. Dazu sollte die Allianz das Gespräch mit Moskau suchen.
Russland hat im April 2021 den jährlichen Frühjahrstest der Einsatzbereitschaft von Verbänden aller Militärbezirke abgehalten. Von der Arktik bis zum Kaukasus, von der Ostsee bis zum Pazifik wurden über 4 000 Ausbildungsabschnitte auf 520 Übungsstätten und 101 Schießplätzen von der Zug- bis zur Bataillonsebene absolviert. Zugleich verstärkte Moskau die präsenten Truppen östlich der Ukraine und auf der Krim. So demonstrierte es seine Fähigkeit, Verbände aus Süd- und Zentralrussland rasch an die Peripherie zu verlegen. Außerhalb der Halbinsel jedoch hielt es 150 bis 250 Kilometer Abstand zur Grenze. Operative Gefechtsübungen in Angriffsformationen fanden nicht statt.
Gleichwohl warnten hochrangige westliche Militärexperten, mit einem Angriff könne Moskau beabsichtigen, den gesamten Donbass zu besetzen, eine Landverbindung zur Krim herzustellen oder bis in die Republik Moldau durchzumarschieren.
Westliche Einschätzungen über den Umfang der Truppenkonzentration variieren. Die EU korrigierte ihre erste Annahme von 150 000 auf 100 000. Ähnliche Angaben machten Kiew und das Pentagon.
Präsenzkräfte in Südwestrussland
Zu unterscheiden sind der Umfang zusätzlich verlegter Kräfte und die Zahl russischer Truppen, die in Südrussland und auf der Krim ständig präsent sind. Vor dem Ukraine-Konflikt hatte Moskau keine größeren Kräftegruppierungen in Grenznähe zur Ukraine stationiert. Ab 2015 hat es Einheiten aus anderen Regionen dorthin verlegt und drei Divisionen sowie zwei Armeestäbe gebildet.
Die 144. Motorisierte (Mot) Schützendivision in Jelnja bei Smolensk und die 3. Mot Schützendivision in Bogutschar sind der 20. Gardearmee in Woronesch unterstellt, die den nördlichen Grenzraum zur Ukraine abdeckt. Beide Divisionen mit ihrer Personalstärke von je etwa 14 000 verfügen über je zwei Mot Schützenregimenter, ein bis zwei Panzerregimenter, ein Artillerie- und ein Flugabwehrregiment sowie diverse Unterstützungsverbände. Hinzu kommen selbständige Verbände der 20. Gardearmee. Sie dürfte etwa 35 000 Soldaten, 400 Kampfpanzer und 600 Schützenpanzer umfassen.
Die 20. Armee ist eine der drei Armeen, die zum Militärbezirk (MB) West gehören. Er deckt den größten Teil Europas zwischen dem Ural, der Arktik und den Westgrenzen Russlands bis knapp nördlich vom Unterlauf des Don ab. Dort grenzt der kleinere MB Süd mit ebenfalls drei Armeen an. Er ist für den Kaukasusraum zwischen dem Schwarzen und dem Kaspischen Meer zuständig. In Nowotscherkassk entstand ab 2017 die 150. Mot Schützendivision durch Zusammenfassung kleinerer Verbände. Sie untersteht der neuen 8. Armee im Bezirk Rostow am Don und ist ähnlich strukturiert wie die beiden Divisionen der 20. Armee.
Auf der Krim und in Sewastopol befinden sich Einheiten der russischen Schwarzmeerflotte, die 810. Marineinfanteriebrigade und in Simferopol das 22. Armeekorps, das über je eine Aufklärungs-, Küstenschutz- und Küstenraketenbrigade und ein Artillerieregiment verfügt. Die Präsenzstärke auf der Krim umfasst etwa 28 000 Militärangehörige.
Die Schwarzmeerflotte war seit Auflösung der Sowjetunion ununterbrochen in Sewastopol und Stützpunkten auf der Krim stationiert. Nach drei bilateralen Teilungsverträgen von 1997 erhielt Russland etwa 82% der Einheiten und 50% der Stützpunkte der vormals sowjetischen Flotte. 2010 wurde der Stationierungsvertrag bis 2042 verlängert. Er erlaubte Russland, bis zu 25 000 Soldaten zu dislozieren. Vor der Annexion der Krim im März 2014 waren dort etwa 13 000 präsent. Den ukrainischen Kräften waren sie an Zahl unterlegen.
Die Feststellung der russischen Präsenzstärke in Grenznähe zur Ukraine hängt von geographischen Annahmen ab. Zieht man eine Distanz von bis zu 200 Kilometern zur Grenze in Betracht, sind die 20. Gardearmee sowie die 150. Mot Schützendivision in Nowotscherkassk, die 7. Luftsturmdivision in Noworossijsk und die Kräftegruppierung auf der Krim anzurechnen. Der präsente Personalumfang beträgt dann 70- bis 80 000.
Konzentrische Verstärkungen
Sollten die Präsenzkräfte auf 100- bis 110 000 angewachsen sein, müssen die Verstärkungskräfte einen Personalumfang von 30- bis 35 000 erreicht haben. Dazu wurden offenbar Verbände aus drei Militärbezirken von weither konzentrisch herangeführt, darunter ein Luftlanderegiment der 76. Luftsturmdivision aus Pskow nahe den Grenzen zu Estland und Lettland, zwei weitere Luftlandeverbände aus den Regionen um Moskau und Wolgograd sowie eine Artilleriebrigade aus Inguschetien und die 136. Mot Schützenbrigade aus Buinaksk in Dagestan, die zur 58. Armee des MB Süd gehören.
Den weitesten Weg legten Verbände der 41. Armee mit Hauptquartier in Nowosibirsk zurück. Sie untersteht zusammen mit der 2. Armee in Samara dem MB Mitte, der vom Ural bis tief nach Mittelsibirien reicht. Er ist für Zentralasien zuständig, zudem für die Militärbasis in Tadschikistan, kann aber auch strategische Reserven in andere Militärbezirke entsenden. Die 41. Armee verfügt über drei Mot Schützenbrigaden und über die 90. Garde-Panzerdivision (ab 2016) mit einem Mot Schützenregiment und drei Panzerregimentern im Gebiet Tscheljabinsk.
Aus diesen Kräften wurden vermutlich sieben bis acht Kampfbataillone auf Truppenübungsplätze bei Woronesch verlegt, dazu je eine Raketen- und eine Artilleriebrigade. Ein Großteil befindet sich auf dem Übungsplatz Pogonowo, etwa 200 Kilometer nordöstlich der ukrainischen Grenze. Parallel dazu hat Russland sieben Patrouillen- und acht Landungsboote aus dem Kaspischen in das Asowsche Meer verlegt und die Meerenge von Kertsch für Kriegsschiffe gesperrt.
Am 22. April erklärte Verteidigungsminister Schoigu die »Ausbildung« für beendet. Ihr Ziel, die unangekündigte Überprüfung der Gefechtsbereitschaft, sei erreicht worden. Die Truppen sollten bis zum 1. Mai in ihre Standorte zurückkehren. Das Material der 41. Armee solle aber bei Woronesch verbleiben, um bei der Großübung Zapad 2021 im Herbst zum Einsatz kommen. Das Personal kann rasch auf dem Luftweg zurückgebracht werden.
Defender Europe 21
Anfang April jedoch hatten Schoigu und der stellvertretende Außenminister Gruschko von einer russischen Antwort auf bedrohliche Aktivitäten der Nato gesprochen. Gemeint war die jährliche Großübung Defender Europe 21, die im März unter US-Führung begann. Sie ist das bisher größte Manöver alliierter Mächte auf dem Balkan. Schwerpunkte liegen auch am Schwarzen Meer, in Rumänien und Bulgarien und damit in unmittelbarer Nachbarschaft zur Ukraine und zu Transnistrien (das zur Republik Moldau gehört), wo Russland seit 1992 ein kleines Truppenkontingent unterhält. Zuvor waren Routineübungen von Alliierten in und mit der Ukraine abgeschlossen worden.
Defender Europe 21 soll Einsatzbereitschaft und Interoperabilität zwischen US-Kräften und Nato-Partnern in weiten Operationsräumen erhöhen. Bis Ende Juni werden etwa 28 000 Soldaten aus 26 Staaten auf 31 Übungsplätzen in zwölf Ländern simultane Operationen der Land-, Luft- und Seestreitkräfte sowie von Raketenabwehreinheiten üben. Das Manöver soll die Fähigkeit demonstrieren, »als strategische Sicherheitspartner in den Regionen des westlichen Balkan und des Schwarzen Meeres zu dienen und gleichzeitig unsere Fähigkeiten [i.e. der Nato, der USA, der Ukraine und Georgiens, d. Verf.] in Nordeuropa, dem Kaukasus, der Ukraine und Afrika aufrechtzuerhalten«. Auch ukrainische Truppen nehmen am Manöver teil.
Militärische Ziele und Optionen
Um das Übungsziel von Defender Europe 21 zu erreichen, nämlich von der logistischen Drehscheibe Deutschland aus Verbündete an den Nord- und Südostflanken der Nato zu verstärken, müssen Truppen über große Entfernungen verlegt werden. Eben diese Fähigkeit hat Moskau mit der Kräftekonzentration an seiner Peripherie bewiesen.
Bei dem medienwirksamen russischen Aufmarsch ging es nicht um Überraschung, sondern um eine Demonstration. Militärisch bildet die Führung so vieler heterogener Verbände eine Herausforderung. Zusammenhängende Angriffsoperationen wurden aber nicht geübt. Die Militärführung begnügte sich mit Schießübungen kleiner Einheiten auf Übungsplätzen, die – außerhalb der Krim – 150 bis 250 Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt liegen.
Als Präsident Selenskyj am 21. April vor einem Krieg warnte, erklärten ukrainische Militärexperten, Moskau gehe ein hohes Risiko ein. Es sei nicht in der Lage, die Ukraine rasch zu überrennen. Kiews Streitkräfte seien auf 250 000 aktive Soldaten und eine Million Reservisten angewachsen. Die Nato helfe, die Führungsfähigkeit zu verbessern, die USA stellten Aufklärungsergebnisse, Artillerieradargeräte und über 300 Javelin-Panzerabwehrraketensysteme bereit. Die Türkei liefere sechs Bayraktar-TB2-Kampfdrohnen. Kiew will weitere 48 Systeme kaufen. Kanada, Großbritannien, Polen, Litauen und die USA haben 469 Ausbilder im Land stationiert.
Veröffentlichten Streitkräftevergleichen zufolge ist Moskau mit 900 000 aktiven Soldaten, 2 840 Kampfpanzern (Kiew: 860) und 1 800 Kampfflugzeugen (Kiew: 125) zwar der Ukraine deutlich überlegen. Jedoch muss Russland mit der größten Landfläche und den längsten Grenzen weltweit mehrere strategische Richtungen abdecken, von der Arktik bis zum Schwarzen Meer und von der Ostsee bis zum Pazifik. Es kann nicht überall regionale Überlegenheit herstellen.
Im Konflikt ist Moskau darauf angewiesen, die Peripherie schnell mit Reserven aus anderen Landesteilen zu verstärken. Seine Fähigkeit zu hochintensiven Operationen an mehreren Fronten zugleich ist begrenzt. Daher sollten Bedrohungsanalysen auch für die baltischen Staaten nicht auf taktisch-operative Optionen in einer Subregion verengt und die strategischen Implikationen nicht ausgeblendet werden. Ein Angriff Moskaus auf Bündnispartner würde weltweite Reaktionen der insgesamt überlegenen Nato provozieren. Dass dies nicht in Moskaus Interesse ist, belegt auch die Kräfteordnung im MB West. Die 6. Armee in St. Petersburg ist deutlich schwächer ausgestattet als die Kräfte in Südrussland. Dort scheint Moskau den strategischen Schwerpunkt zu erkennen.
Geopolitischer Kontext
Dieser Schwerpunkt weist auf ein strategisches Hauptinteresse Moskaus hin. Es will verhindern, dass die Ukraine und Georgien der Nato beitreten und die USA dann das Schwarze Meer und die Flottenstützpunkte auf der Krim kontrollieren, Russland hinter die Mündung des Don zurückdrängen und näher an russisches Kernland heranrücken.
Moskau hat die Routineüberprüfung der Einsatzbereitschaft mit einer Truppenverstärkung verbunden, um Präsident Biden davor zu warnen, eine härtere Gangart im Ukraine-Konflikt einzuschlagen. Anlass waren mögliche weitere Waffenlieferungen an Kiew, Präsident Selenskyjs Werben für den Nato-Beitritt, Solidaritätsadressen Bidens und der Alliierten und vor allem die Truppenentsendung in Kiews regionale Nachbarschaft im Zuge der Übung Defender Europe 21.
Zugleich will Moskau erreichen, dass Washington es als ebenbürtigen Partner wahrnimmt. Die strategische Stabilität zu erhalten, etwa durch ein New-Start-Nachfolgeabkommen, gehört zu den wenigen verbliebenen gemeinsamen Interessen. Zur Deeskalation dürfte beigetragen haben, dass Präsident Biden ein Gipfeltreffen mit Präsident Putin anbot und darauf verzichtete, wie angekündigt Kriegsschiffe ins Schwarze Meer zu entsenden.
Politische Stabilitätsmaßnahmen
Gleichwohl bleibt die militärische Lage instabil, solange die Konfliktursachen nicht beseitigt sind. Der Schlüssel dafür liegt in einem strategischen Interessenausgleich, der normative Grundsatzpositionen und die Sicherheit aller Konfliktparteien wahrt.
Bis dahin sollte die Stabilisierung der militärischen Lage im Vordergrund stehen, denn jede weitere Großübung nährt die Bedrohungsperzeptionen und birgt die Gefahr der Eskalation. Um dies zu verhindern, müssen die Nato und Moskau stabilisierende Maßnahmen vereinbaren. Das Wiener Dokument der OSZE über Vertrauens- und Sicherheitsbildende Maßnahmen reicht dafür nicht aus, denn weder Alarmübungen noch parallele Übungen, die nicht unter einheitlicher operativer Führung stehen, müssen angekündigt werden.
Notwendig sind vor allem konkrete Beschränkungen militärischer Aktivitäten in Grenznähe. Dazu sollten der Dialog zwischen der Nato und Russland sowie militärische Expertengespräche wiederaufgenommen werden. Für die Nato-Russland-Kontaktzonen und sensible Grenzräume sollte vereinbart werden, auf umfangreiche Aufmärsche zu verzichten, Präsenzkräfte und Übungen zu limitieren, militärische Daten darüber auszutauschen und diese gegenseitig vor Ort zu verifizieren. Zu diesem Zweck ist auch der gefährdete Open-Skies-Vertrag besonders geeignet. Er sollte bewahrt und wiederbelebt werden.
Oberst a.D. Wolfgang Richter ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik.
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doi: 10.18449/2021A39