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Modi 3.0 – Zurück zur parlamen­tarischen Normalität in Indien

SWP-Aktuell 2024/A 29, 26.06.2024, 4 Seiten

doi:10.18449/2024A29v02

Forschungsgebiete

Die Bharatiya Janata Party (BJP) von Premierminister Narendra Modi wurde bei der 18. Parlamentswahl in Indien zum dritten Mal in Folge stärkste politische Kraft. Aller­dings verlor sie ihre absolute Mehrheit, Modi ist nun erstmals auf seine Koalitionspartner in der National Democratic Alliance (NDA) angewiesen. Seine dritte Amtszeit wird von der parlamentarischen Normalität der 1990er/2000er Jahre geprägt sein, mit Koalitionsregierungen, Regionalparteien und zentristischer Politik. In Reaktion auf die Stimmenverluste wird im Rahmen der Wirtschaftsreformen mehr noch als zuvor die Schaffung von Arbeitsplätzen in den Mittelpunkt rücken. Modis hindu-nationalis­tische Agenda hat einen Rückschlag erlitten. Außenpolitisch könnte sich dies für ihn aber sogar als Vorteil erweisen, denn die Kritik aus westlichen Staaten am Niedergang der indischen Demokratie dürfte schwächer werden.

Für Modi war der erneute Wahlsieg, gemes­sen an Ausgangslage und selbstgesteckten Zielen, ein politischer, ideologischer und auch persönlicher Rückschlag. Er zog als mit Abstand beliebtester Politiker in den Wahlkampf. Seine Partei verfügte über die größten Finanzmittel und die beste Organisa­tion, vor allem dank ihrer engen Zusammen­arbeit mit der nationalen Freiwilligenorgani­sation (Rashtriya Swayamsevak Sangh, RSS). Die Vorstellung, Indien zu einem Hindu-Staat zu transformieren, war ein zentraler Bestandteil von Modis Agenda seit 2014.

Modi konnte eine Reihe von Erfolgen vorweisen. In seiner Regierungszeit hatte sich Indien zur am schnellsten wachsenden Demokratie und zur fünftgrößten Volkswirtschaft entwickelt. Umfangreiche Inve­sti­tionen hatten die Infrastruktur verbessert und die Armut verringert. Die Mondlandung im Sommer 2023 unterstrich Indiens techno­logische Kapazitäten, und als Gastgeber des G20-Gipfels im September präsentierte sich Modi als Fürsprecher des Globalen Südens.

Der Wahlkampf der BJP war denn auch ganz auf die Person Modi zugeschnitten. Ziel waren 370 bzw. 400 Sitze, um das hindu-nationalistische Projekt weiter vorantreiben zu können. Modi präsentierte sich als Ga­rant der künftigen Entwicklung des Landes. Er absolvierte 206 Wahlkampfveranstaltun­gen und gab 80 Interviews, obwohl er bis dahin kaum mit den Medien gesprochen hatte. Modi inszenierte sich mit der Eröff­nung des Ram-Tempels in Ayodhya im Janu­ar 2024 zudem als Hüter des Hinduismus.

Ihm gegenüber stand die aus mehr als zwei Dutzend Parteien bestehende India National Developmental Inclusive Alliance (I.N.D.I.A.). In diesem Bündnis gab es zahl­reiche Friktionen, unter anderem weil die Kongresspartei und einige Regionalparteien erbitterte Rivalen in den jeweiligen Bundes­staaten waren. Wichtige Regionalparteien wie der All India Trinamool Congress (AITC) in Westbengalen sind der I.N.D.I.A. deshalb auch nicht beigetreten. Wenige Monate vor der Wahl wechselte Nitish Kumar mit seiner Janata Dal-United (JD-U) aus Bihar von der I.N.D.I.A. zur NDA.

Ergebnis der 18. Parlamentswahl

Tabelle 1

Die Ergebnisse der 18. Parlamentswahl (Lok Sabha) in Indien


Partei


Zahl der Sitze

Stimmenanteil
(in Prozent)

Bharatiya Janata Party (BJP)

240

36,56

Indian National Congress (INC)

99

21,19

Samajwadi Party (SP)

37

4,58

All India Trinamool Congress (AITC)

29

4,37

Dravida Munnetra Kazhagam (DMK)

22

1,82

Telugu Desam Party (TDP)

16

1,98

Janata Dal-United (JD-U)

12

1,25

Shiv Sena (Uddhav Balasaheb Thackrey) (SHSUBT)

9

1,48

Nationalist Congress Party – Sharadchandra Pawar (NCPSP)

8

0,92

Shiv Sena (SHS)

7

1,15

Lok Janshakti Party (Ram Vilas) (LJPRV)

5

0,44

Andere Parteien

59

24,26

Gesamt

543

100,00

Quelle: <https://results.eci.gov.in/PcResultGenJune2024/index.htm> (Zugriff 6.6.2024)

Bei einer Wahlbeteiligung von 65,79 Pro­zent wurde die BJP mit 240 Sitzen erneut stärkste Partei, verfehlte aber ihre selbst­gesteckten Wahlziele deutlich. Insgesamt verlor sie 63 Sitze. Da sie die absolute Mehr­heit einbüßte, ist die BJP somit erstmals auf ihre Koalitionspartner in der von ihr geführten National Democratic Alliance (NDA) angewie­sen. Die Kongresspartei konnte die Zahl ihrer Sitze auf 99 erhöhen (2014: 52). Die NDA verfügt über 292 Sitze im neuen Parlament, die I.N.D.I.A. über 233.

Diverse Faktoren sind für die Verluste der BJP verantwortlich. Erstens ging es Modi im Wahlkampf mit Angriffen auf Muslime vor allem um seine hindu-nationalistische Agenda. Laut Umfragen standen aber für große Teile der Bevölkerung Themen wie Arbeitslosigkeit, Inflation und die Verbesserung ihrer Lebensumstände im Vordergrund. Die Verluste der BJP, die 75 Sitze in länd­lichen Regionen einbüßte, zeigten, dass das Hindutva-Narrativ bei den ärmeren Bevöl­kerungsgruppen nicht mehr in dem Maße verfing wie bei früheren Wahlen. Neben ihren Hochburgen in Uttar Pradesh, Bihar und Rajasthan verbuchte die BJP auch Ver­luste in Maharashtra und Westbengalen. Ihre Zugewinne im Osten und Süden des Landes konnten die Verluste nicht ausgleichen.

Ein zweiter Faktor war das selbstgesteckte Wahlziel der BJP, 370 bzw. 400 Sitze zu erreichen, was ihr Verfassungsänderungen ermöglicht hätte. Untere Kasten- und Stam­mesgruppen, die ebenfalls zur Wählerschaft der BJP zählen, fürchteten, dass damit ihre rechtlich festgeschriebenen Quoten und Reservierungen gefährdet würden. BJP und RSS stehen diesen aus ideologischen Gründen kritisch gegenüber, da ihr Kon­zept von Hindutva die Einheit der Hindus betont. Das ambitionierte Wahlziel der BJP hat vermutlich dazu beigetragen, dass sie 22 der für die unteren Stammes- und Kastengruppen reservierten Sitze verlor.

Modis erneuter politischer Triumph war für ihn persönlich eher eine Niederlage. Hatte die BJP bei seiner ersten Wahl 2014 282 Sitze errungen, waren es jetzt nur noch 240. Die BJP konnte auch den Wahlkreis mit der Stadt Ayodhya und dem dortigen Ram-Tempel nicht für sich verbuchen. Modi gewann zwar seinen Wahlkreis, erzielte aber gemessen an der Zahl der Voten eines der schlechtesten Ergebnisse eines amtierenden Premierministers.

Die Parteien der I.N.D.I.A. waren erfolgreicher als 2019, weil es ihnen gelang, Sitz­absprachen zu treffen, die wirtschaftliche Unzufriedenheit der ländlichen Bevölkerung für sich zu nutzen und teilweise neue Kastenallianzen zu schmieden. So gewann die Samajwadi Party (SP) im größten Bun­desstaat Uttar Pradesh, einer BJP-Hochburg, 37 von insgesamt 80 Sitzen, während die BJP dort 29 Sitze verlor.

Innenpolitische Herausforderun­gen für die neue NDA-Regierung

Die neue NDA-Regierung lässt insofern eine große Kontinuität erwarten, als die vier wich­tigsten Ministerien – Finanzen, Außen, Innen und Verteidigung – von denselben BJP-Politikern wie zuvor geführt werden. Als Lehre aus dem Wahlergebnis wird die neue Regierung einen größeren Schwerpunkt auf die Schaffung von Arbeitsplätzen und die Verbesserung der Lebensumstände im ländlichen Raum legen. Noch immer leben ca. 65 Prozent der indischen Bevölke­rung auf dem Land, 47 Prozent sind nach wie vor von landwirtschaftlicher Beschäf­tigung abhängig. Rund 90 Prozent der Beschäftigten sind im informellen Sektor tätig. Ein weiterer Schwerpunkt der Regie­rung dürfte die Bekämpfung der hohen Jugendarbeitslosigkeit vor allem unter den gut ausgebildeten Schichten sein.

Modis NDA-Regierung hängt ab von der Telugu Desam Party (TDP; 16 Sitze), geführt von Chandrababu Naidu aus Andhra Pra­desh, und von der Janata Dal-United (JU-D; 12 Sitze), geführt von Nitish Kumar aus Bihar. Beide Landesfürsten hatten in der Vergangenheit ihre Konflikte mit der BJP und haben die politischen Lager gewechselt. Nitish Kumar und seine JU-D stehen eher für eine Ausweitung des öffentlichen Sektors. Seine Landesregierung hatte 2023 einen ersten Kastenzensus durchgeführt und in der Folge die Quoten für untere Kas­ten- und Stammesgruppen über die vom Obersten Gericht festgelegte Höchstgrenze von 50 Prozent angehoben. Chandrababu Naidu und die TDP sind hingegen eher Verfechter einer wirtschaftsliberalen Ord­nung und wollen eine stärkere Öffnung nach außen.

Trotz des Rückschlags bei der Wahl ist das hindu-nationalistische Experiment nicht beendet. Die TDP und die JD-U sind säku­lar orientiert, die hindu-nationalis­tische Agenda dürfte darum eher in den von der BJP regierten Bundesstaaten weiter­verfolgt werden. So hat im Bundesstaat Uttara­khand die dortige BJP-Landesregie­rung bereits ein einheitliches Zivilrecht verabschiedet, das ein zentrales Wahlkampfthema der BJP war.

Mittel- bis langfristig könnte die BJP durchaus wieder zu alter Stärke gelangen. Der seit 2021 überfällige Zensus wird unter anderem eine Neufestlegung der Wahlkreise nach sich ziehen, deren aktueller Zuschnitt auf dem Zensus von 1971 beruht. Bedingt durch die Bevölkerungsverteilung wird In­diens Norden, Kernland der BJP und des Hindu-Nationalismus, künftig noch mehr Wahlkreise erhalten als der Süden.

Die I.N.D.I.A.-Opposition ist zwar nach den Wahlen gestärkt, doch ist fraglich, ob ihr Zusammenhalt auch in der parlamentarischen Arbeit Bestand haben wird. Die näch­sten Landtagswahlen werden die alten Kon­flikte zwischen der Kongresspartei und den Regionalparteien wieder zutage treten lassen, die Zusammenarbeit auf nationaler Ebene könnte also rasch untergraben werden.

Weil fortan eine Koalition regiert und die Opposition erstarkt ist, dürfte das Parlament wieder an Bedeutung gewinnen. Dank der BJP-Dominanz waren in der letzten Legis­laturperiode viele wichtige Gesetze ohne größere Diskussion verabschiedet worden. Die Notwendigkeit, Kompromisse einzu­gehen, könnte wieder einer zentristischen Politik Auftrieb geben, die für Indien lange charakteristisch war. Abzuwarten bleibt, inwieweit die autokratischen Tendenzen in der NDA-Regierung nachlassen werden. Die Eröff­nung des Prozesses gegen die Schriftstellerin Arundathi Roy signalisiert aller­dings, dass auch die neue NDA-Regierung gegen kri­tische Stimmen vorgehen wird. Das neue Gewicht der Regionalparteien dürfte Anlass sein, die für die frühere BJP-Regierung typi­schen Zentralisierungsversuche einzuschrän­ken, was den Föderalismus stärken wird.

Außenpolitische Herausforderungen

In der Außenpolitik sind wenig Änderungen von der neuen NDA-Regierung zu erwarten. Es gibt einen parteiübergreifenden Konsens, Indiens internationale Position zu stärken. Die NDA dürfte daher die Politik der außen­politischen Unabhängigkeit fortsetzen und sich als Vertreter des Globalen Südens posi­tionieren. Am schwierigsten gestalten sich die Beziehungen zu China, das trotz der Spannungen entlang der gemeinsamen Grenze zu den wichtigsten Handelspartnern Indiens zählt. Da Modi in den Augen der Regierung in Beijing durch das Wahlergebnis geschwächt ist, dürfte sie kaum zu Kom­promissen in den Verhandlungen über eine mögliche Truppenreduktion entlang der Grenzlinie bereit sein.

Mit Blick auf die westlichen Staaten las­sen sich aus Sicht der NDA positive und weniger positive Tendenzen ausmachen. Positiv dürfte sein, dass es der NDA-Regie­rung mit Verweis auf ihre Koalitionspartner künftig leichter fallen dürfte, westliche Kri­tik an der Erosion der indischen Demokratie zurückzuweisen. Zivilgesellschaftliche Gruppen werden weiterhin auf Missstände in der indischen Demokratie aufmerksam machen, dürften jedoch damit weniger Gehör bei westlichen Staaten finden. Schwie­riger könnten dagegen die Verhandlungen mit der EU über ein Freihandelsabkommen werden. Regionalparteien wie die JD-U werden sich vermutlich gegen eine Öffnung des indischen Agrarsektors sperren.

Ausblick

Modis dritte Amtszeit wird geprägt von den Rahmenbedingungen der 1990er/2000er Jahre: einer Koalitionsregierung, einer weni­ger ideologischen Politik, einer wieder grö­ßeren Rolle von Regionalparteien. Die Wahl hat zugleich die Demokratie gestärkt und dem Hindutva-Projekt zunächst Gren­zen aufgezeigt. Innen- und außenpolitisch ist vor allem Kontinuität zu erwarten. Als eine der ersten Maßnahmen hat die neue Regie­rung ein Wohnbauprogramm für ärmere ländliche Gruppen ausgeweitet. Zu­dem soll das neue System der Aufnahme in die Armee (das sogenannte Agnipath/Agni­veer-System) überprüft werden.

Modis erneute Teilnahme am G7-Gipfel in Italien unterstrich Indiens geopolitische Be­deutung. Eine weitere Kontinuität der indischen Außenpolitik zeigte sich wenige Tage später, als Indien aufgrund seiner guten Beziehungen zu Russland das Abschluss­dokument der Ukraine-Konferenz im schwei­zerischen Bürgenstock nicht unterzeichnete.

Außenpolitisch könnte sich Modis demo­kratischer Rückschlag gerade im Verhältnis zum Westen als Vorteil erweisen, denn die Kritik am Niedergang der indischen Demo­kratie dürfte deutlich nachlassen. Das könnte auch dem gewünschten Ausbau der bilateralen Beziehungen zu Deutschland und Europa einen weiteren Schub geben.

Dr. habil. Christian Wagner ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Asien.

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