Bei den Regierungen arabischer Staaten trifft Deutschland auf Ablehnung, wenn es darum wirbt, die Menschenrechte zu achten. Sofern sich die Adressaten nicht vollständig dem Dialog verweigern, stützen sie sich zumeist auf vier Argumentationsmuster, um entsprechende Forderungen abzuwehren: (1) Die Menschenrechtslage im eigenen Land verbessere sich bereits, doch benötige dieser Prozess noch Zeit; (2) Anliegen wie wirtschaftliche Entwicklung und Terrorismusbekämpfung hätten Vorrang gegenüber bürgerlichen Rechten; (3) Menschenrechte seien ein westliches Konstrukt und ignorierten die kulturellen Eigenheiten der angesprochenen Gesellschaften; (4) westliche Menschenrechtspolitik sei geprägt von Doppelmoral. Deutsche Offizielle sollten diese Einwände kennen und ihnen proaktiv begegnen, wenn sie sich in den Dialog über Menschenrechte begeben. Vor allem mit den Vorwürfen von Kulturimperialismus und Doppelmoral sollte die Bundesregierung sich auch inhaltlich auseinandersetzen, denn in der Bevölkerung arabischer Länder sind sie weit verbreitet. Um ihnen entgegenzutreten, sollten der universale Anspruch von Menschenrechten gerade im Rahmen einer feministischen Außenpolitik stärker herausgestellt, mögliche konkurrierende Eigeninteressen klarer benannt und der Dialog über Menschenrechte mit konkreten Maßnahmen unterlegt werden.
Es ist schlecht bestellt um die Menschenrechte im Nahen Osten und in Nordafrika. Diese Schlussfolgerung ergibt sich nicht nur aus den einschlägigen Berichten von Organisationen wie Amnesty International oder Human Rights Watch. Im aktuellen »Freedom in the World«-Report der US-amerikanischen Nichtregierungsorganisation Freedom House werden 16 der 22 Mitglieder der Arabischen Liga als unfrei und die restlichen sechs als nur partiell frei eingestuft. Im Index des V-Dem-Instituts schneidet die Region hinsichtlich der bürgerlichen Freiheiten weltweit am schlechtesten ab. Und auch der jüngste Bericht von Reporter ohne Grenzen zeichnet ein düsteres Bild: Unter den 31 Schlusslichtern auf der Rangliste der Pressefreiheit finden sich gleich zehn Länder des Nahen und Mittleren Ostens, in fast allen anderen wird die Lage als »schwierig« bewertet – Tendenz fallend.
Diese anhaltend prekäre Menschenrechtslage ist für Deutschland eine Herausforderung angesichts des eigenen Anspruchs einer wertegeleiteten Außenpolitik. An einem konstruktiven, ergebnisorientierten Dialog über Menschenrechte sind die politischen Führungen in der Region indes kaum interessiert. Gleichzeitig schränken anderweitige Interessen die Bereitschaft und Fähigkeit Deutschlands ein, hier gezielt Druck auszuüben. Die Staaten der Region gewinnen spätestens seit dem russischen Einmarsch in der Ukraine als Energielieferanten an Gewicht; sie werden zunehmend als potentielle Partner bei der Bewältigung irregulärer Migration wahrgenommen und steigerten zuletzt durch substantielle Kooperationen mit deutschen Unternehmen, vor allem im Infrastrukturbereich, ihre wirtschaftspolitische Bedeutung. Vor diesem Hintergrund treten sie westlicher Menschenrechtspolitik immer häufiger selbstbewusst entgegen. Der Bundesregierung wurde das einmal mehr im Februar dieses Jahres vor Augen geführt, als die Beauftragte für Menschenrechtspolitik und humanitäre Hilfe eine geplante Reise nach Ägypten absagen musste. Kairo hatte ihr brüsk zu verstehen gegeben, dass ihr Besuch derzeit nicht erwünscht sei.
Diese komplette Dialogverweigerung ist zwar kein Novum, aber auch keineswegs der Regelfall. Vielmehr lassen sich vier Argumentationsmuster erkennen, die seitens arabischer Regierungen in Gesprächen über Menschenrechte bemüht werden – in verschiedenen Kombinationen und dabei nicht immer konsistent.
Menschenrechte als Zukunftsversprechen
»Ich möchte die Welt nur daran erinnern, dass die amerikanischen Frauen lange warten mussten, um ihr Wahlrecht zu erhalten. Wir brauchen also Zeit.« So antwortete 2016 der saudische Kronprinz Muhammad Bin Salman, als er in einem Interview nach der Stellung von Frauen im Königreich gefragt wurde. Er folgte damit einem erprobten Argumentationsmuster, das regionale Autokraten schon vor den Umbrüchen des sogenannten Arabischen Frühlings gerne bemüht hatten. Der Wert von Menschenrechten wird hier nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Vielmehr werden sie als langfristiges Ziel dargestellt, das im Sinne einer nachholenden Entwicklung nur schrittweise zu erreichen sei und daher Zeit benötige. Dieses Narrativ erweist sich als besonders effektiv, um externe Kritik abzuwehren, da es Missstände teilweise anerkennt, politische Verantwortung aber zumindest relativiert, indem auf die Vorlaufzeit von Reformen, auf technische Hürden oder strukturelle Kapazitätsdefizite verwiesen wird.
Tatsächlich lassen sich nicht alle Menschenrechte über Nacht durchsetzen. Allerdings liegen gerade politische Freiheitsrechte in der Hand der jeweiligen Regime. Ob etwa inhaftierte Frauenrechtlerinnen in Saudi-Arabien freigelassen werden, entscheidet allein das Königshaus. Statt aber Fakten zu schaffen, simuliert man oftmals Reformbereitschaft, indem Institutionen wie nationale Menschenrechtsräte geschaffen oder staatliche Strategiepapiere veröffentlicht werden. Dazu gehört auch, internationale wie regionale Menschenrechtsvereinbarungen zu unterzeichnen, die kaum Wirkung erzielen, weil es an Überwachungs- und Durchsetzungsmecha-nismen fehlt.
Zukunftsversprechen über Menschenrechte sind primär nach außen gerichtet. Sie finden sich kaum in offiziellen arabischsprachigen Diskursen wieder, weder in Regierungserklärungen noch in staatsnahen Medien. Denn es bedeutet ein gewisses Maß an Selbsterniedrigung gegenüber externen Kritikerinnen und Kritikern, eigene Entwicklungsdefizite einzuräumen. Eine solche Haltung bricht mit dem Selbstbild von Unabhängigkeit und Stärke, wie es innenpolitisch als Teil populistischer und nationalistischer Herrschaftsdiskurse gepflegt wird.
Selektiver Umgang mit Menschenrechten
»Man darf die Menschenrechte nicht so eng fassen […]. Wenn Sie keine Schulbildung erhalten, kein Dach über dem Kopf haben, wenn Sie keinen Job finden, keine Hoffnung auf eine Zukunft haben, dann werden Ihre Menschenrechte verletzt«, so 2015 der ägyptische Präsident Abdel Fatah al-Sisi. Er antwortete damit auf Vorwürfe von Menschenrechtsorganisationen, unter seiner Herrschaft habe sich die staatliche Repression im Vergleich zu seinen Vorgängern noch verschärft. Sozioökonomische Entwicklung und wirtschaftliche Teilhabe erscheinen hier als vorrangig. Mit diesen Anliegen wird gleichsam aufgewogen, dass der Staat die physische Integrität der Bevölkerung, identitätsbezogene Menschenrechte oder den Minderheitenschutz verletzt. Dies ist ein weiteres gängiges Argumentationsmuster regionaler Entscheidungsträger, das auch im innenpolitischen Diskurs oft verwendet wird.
Zugrunde liegt dieser Argumentation ein selektiver Umgang mit den einzelnen Elementen eines an sich ganzheitlichen Menschenrechtskonzepts. Dabei werden vom jeweiligen Regime nur bestimmte Ziele als erstrebenswert dargestellt bzw. öffentlich überhaupt thematisiert. Jene Bestandteile des Menschenrechtskanons, die sich zu Imagezwecken und politischer Mobilisierung ausschlachten lassen, werden überhöht und gegebenenfalls durch Rentenverteilung auch ökonomisch bedient. Andere Rechtsansprüche wiederum, welche die autoritäre Herrschaft bedrohen könnten – etwa die Wahrung von Rede- und Versammlungsfreiheit –, werden bei diesem »cherry-picking« marginalisiert oder gleich ganz außen vorgelassen.
So haben einige Regierungen insbesondere das Profilierungspotential erkannt, das darin liegt, Frauen- und Gleichstellungsrechte zu institutionalisieren. Jordanien erklärte Männer und Frauen vor dem Gesetz als gleichberechtigt, Marokko ratifizierte das Fakultativprotokoll zum Übereinkommen der Vereinten Nationen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW). Oman wiederum etablierte öffentlichkeitswirksam eine Hotline für Fälle häuslicher Gewalt, ohne jedoch solide Mechanismen wie Schutzräume oder rechtlichen Beistand zu schaffen, mit denen sich Betroffene unterstützen ließen. Saudi-Arabien führte im März 2022 sein erstes Personenstandsgesetz ein, das die politische Führung seither als großen Sieg für Frauenrechte preist. Gleichzeitig hapert es – wenn auch unterschiedlich stark – in allen vier Ländern an der Umsetzung. Vor allem aber kritisieren Menschenrechtsorganisationen, das punktuelle Engagement der Regierungen überdecke gravierende Missstände bei der Wahrung ganz basaler Rechte wie physische Unversehrtheit, faire Gerichtsverfahren oder Bewegungsfreiheit.
Auf die Spitze getrieben wird die selektive Betonung von Menschenrechten bei der Terrorismusbekämpfung. Diese wurde vom ägyptischen Präsidenten sogar zu einem »neuen Menschenrecht« erklärt. Tatsächlich geht es dabei in Ägypten, aber auch in anderen Ländern der Region nicht in erster Linie um den Schutz der Bevölkerung, sondern um die Rechtfertigung exzessiver polizeistaatlicher Repression.
Vorwurf des Kulturimperialismus
»Wir sind nicht kolonialisiert, wir sind ein unabhängiges, souveränes Land, und wir wissen genau, was wir tun«, erwiderte Tunesiens Präsident Kais Saied im Februar 2023 auf US-amerikanische und deutsche Kritik an der sich verschlechternden Menschenrechtssituation in seinem Land. Diesem Argumentationsmuster zufolge sind Menschenrechte Ausdruck eines neuen westlichen »Werte-Imperialismus«, der in Kontinuität zur historischen Kolonialpolitik Europas steht. Sie dienen demnach dazu, Regierungen und Gesellschaften der arabischen Welt moralisch abzuwerten. Hinter der externen Kritik stünden neokoloniale Ambitionen sowie islamophobe und rassistische Motive. Was früher die mission civilisatrice gewesen sei, so der Vorwurf, seien heute vermeintlich universell geltende Menschenrechtsnormen. Sie würden herangezogen, um die Konditionierung sicherheits- und wirtschaftspolitischer Zusammenarbeit, die Einmischung in innere Angelegenheiten und im Extremfall militärische Interventionen zu rechtfertigen.
Dieses Argumentationsmuster ist konfrontativer und war lange Zeit vor allem bei Paria-Regimen zu finden. Es erlebt derzeit aber ein überregionales Comeback – insbesondere dort, wo Nationalismus und Populismus zur Legitimation autoritärer Herrschaft mobilisiert werden, wie etwa in Ägypten, Tunesien und Saudi-Arabien.
Gleichzeitig sind antikoloniale Rahmungen aber auch auf gesellschaftlicher Ebene überaus populär. Dies gilt nicht nur für islamistische oder nationalistische Kreise, deren politische Programmatik bzw. Staatsvisionen ohnehin oft vom Motiv eines »eigenen Weges« in die Moderne geprägt sind (etwa auf Basis islamischer Dogmen oder eines Gesellschaftsvertrags, der nationale Sicherheit und gesellschaftliche Homogenität gegenüber individuellen Freiheits- und Gleichheitsrechten priorisiert). Auch in zivilgesellschaftlichen Kreisen, die im vergangenen Jahrzehnt federführend daran beteiligt waren, antiautoritären Protest in der Region zu mobilisieren, äußert sich teils massive Kritik an der als interventionistisch und wenig kontextsensibel empfundenen Menschenrechts- und Wertepolitik des Westens.
Die Ursachen für diesen zunächst widersinnig anmutenden Antagonismus liegen auch darin, dass sich westliche Menschenrechtsforderungen gegenüber arabischen Regimen in der Zeit nach dem »Arabischen Frühling« faktisch kaum in handfestem Schutz ebenjener zivilgesellschaftlichen Milieus niedergeschlagen haben. Größere Exposition erwies sich dabei als zweischneidiges Schwert. So erleben marginalisierte und bedrohte Akteure, etwa LGBTIQ-Communitys, Vertreter und Vertreterinnen religiöser Minderheiten oder Frauenrechtsinitiativen, zwar immer wieder, dass sie zu hochrangigen Gesprächen eingeladen werden und ihre Anliegen in die außenpolitischen Strategiepapiere westlicher Staaten einfließen. Zugleich aber sind sie durch diese symbolische Aufwertung einem erhöhten Repressionsrisiko ausgesetzt.
Vorwurf der Doppelmoral
»Verzeihen Sie mir, wenn ich an der Intention der europäischen Länder zweifle, die in den letzten zehn Jahren tatenlos zugesehen haben, wie Migranten, die vor Konflikten, Verwüstung und Armut flohen, auf dem Grund des Mittelmeers ertranken.« So kommentierte 2022 die katarische Künstlerin Ghada Al Khater die Kritik aus Europa an der Menschenrechtssituation in ihrem Land, dem Austragungsort der damaligen Fußballweltmeisterschaft.
Der Vorwurf doppelter Standards und einer selektiven Wahrnehmung von Menschenrechtsverletzungen wird zwar auch von arabischen Regierungsvertretern gerne bemüht, er ist aber vor allem in den Zivilgesellschaften der Region äußerst verbreitet. Er speist sich, neben der europäischen Migrationspolitik und der offensichtlichen Missachtung von Menschen- und Völkerrechtsnormen an Europas Außengrenzen, zumal beim Umgang mit Geflüchteten im Mittelmeer, vor allem aus drei Entwicklungen.
Erstens ist seit einigen Jahren ein weltweiter Autokratisierungstrend zu verzeichnen, der sowohl eine Konsolidierung autoritärer als auch eine Erosion demokratischer Systeme umfasst. Letzteres untergräbt die vermeintliche moralische Überlegenheit westlicher Staaten bei der Debatte über Menschenrechte, da sie nun selbst zunehmend um den Erhalt etwa bürgerlicher Freiheiten ringen.
Zweitens offenbart die entschlossene Reaktion auf die russische Aggression gegen die Ukraine, wie Europa Kriegsverbrechen unterschiedlich begegnet. Auf arabischer Seite wird es als inkonsistent wahrgenommen, wenn Europa im Falle des Ukraine-Krieges Geflüchtete aufnimmt, Straftäter juristisch verfolgt, russische Verbrechen sanktioniert und Moskaus rechtswidrige Besatzungspolitik anprangert, während bei schweren Menschenrechtsverstößen im Zuge militärischer Konflikte in Jemen, Libyen oder zuletzt Sudan ähnlich handfeste Konsequenzen ausbleiben.
Drittens herrscht in weiten Teilen der arabischen Bevölkerungen Unverständnis über das Verhalten westlicher Staaten im Nahostkonflikt, vor allem hinsichtlich der israelischen Besetzung des Westjordanlandes. Aus dieser Sicht reagieren westliche Regierungen auf Menschen- und Völkerrechtsverletzungen der israelischen Seite viel zu verhalten, indem sie sich meist auf Appelle zu beidseitiger Deeskalation beschränkten. Diese Zurückhaltung wird mit proaktiveren Schritten etwa gegen Russland oder den Iran kontrastiert und dann als Beleg dafür herangezogen, dass der Westen bei seinem Einstehen für Menschenrechte faktisch mit zweierlei Maß messe.
Dabei ist eine solche Kritik keineswegs nur taktischer Natur. Für die autoritären arabischen Regime mag die palästinensische Besatzungserfahrung eine bloße Spielkarte sein, um diskursive Punktsiege gegenüber dem Westen zu erzielen und die eigene Binnenlegitimation zu stärken. Für große Teile der arabischen Bevölkerungen ist die emotionale Bedeutung des Leids in Palästina aber hoch und die geäußerte Solidarität ehrlich. Tatsächlich sind bei der Kritik westlicher Doppelmoral sogar jene Aktivistinnen und Aktivisten wortführend, die sich seit Jahren am konsequentesten dafür einsetzen, in arabischen Ländern Menschenrechtsverstöße aufzuklären und universelle Freiheits- und Gleichheitsrechte zu gewähren. So stehen etwa nahezu alle Menschenrechts-NGOs in der Region hinter der gegen Israel gerichteten BDS (Boycott, Divestment, Sanctions)-Bewegung, die vor allem in Deutschland stark verurteilt wird. Letzteres zementiert ebenso wie die Verbote palästinensischer Solidaritätskundgebungen aufgrund von Antisemitismusvorwürfen in besonderem Maße das Bild, der Westen folge bei der Kritik an Menschenrechtsverletzungen sowie der Gewährung von Versammlungs- und Redefreiheit doppelten Standards.
Schlussfolgerungen für den Menschenrechtsdialog
Es ist grundsätzlich wenig erfolgversprechend, gegenüber autoritären Regimen auf Dialog als alleiniges Instrument von Menschenrechtspolitik zu setzen. Denn die mehr oder weniger systematische Verletzung von Menschenrechten ist für ihre Herrschaftssicherung unerlässlich. Allein die Kraft des Arguments dürfte sie kaum dazu bewegen, die entsprechende Situation in ihren Ländern zu verbessern. Umso wichtiger ist es daher, dass der Dialog nicht überwiegend in Hinterzimmern oder isoliert, etwa durch Menschenrechtsbeauftragte oder die Sonderbeauftragten für einzelne Konfliktherde, geführt wird, sondern öffentlich und als Teil von Public Diplomacy.
Was die hier dargestellten Argumentationsmuster angeht, sollte sich die Bundesregierung insbesondere mit den Vorwürfen des Kulturimperialismus und der Doppelmoral auseinandersetzen. Sie sind auch in den Bevölkerungen der arabischen Staaten weit verbreitet (anders als die Behauptung, die Umsetzung von Menschenrechten sei lediglich eine Frage der Zeit, und anders als die Rechtfertigung einschlägiger Defizite durch Hierarchisierung und Selektion).
Der Vorwurf des Kulturimperialismus wird auch deshalb von Teilen der arabischen Zivilgesellschaft aufgegriffen, weil sich dort der Eindruck verfestigt hat, der Schwerpunkt westlicher Menschenrechtspolitik liege nicht mehr auf körperlicher Unversehrtheit und sozioökonomischem Wohlergehen, sondern auf identitätspolitischen Themen, der Förderung von Frauen- und LGBTQI-Rechten sowie den Rechten religiöser Minderheiten – Anliegen, die teils auch in der dortigen Bevölkerung abgelehnt werden. Dass Menschenrechtsfragen in eine dezidiert feministisch orientierte Außen- und Entwicklungspolitik eingebettet werden, dürfte das Bild einer spezifischen Akzentsetzung noch verstärken. Deutschland wird in der Region zunehmend als Akteur wahrgenommen, der Minderheitenrechte in den Vordergrund rückt. Zudem wird das Konzept feministischer Außen- und Entwicklungspolitik selbst von einigen Partnern in der Menschenrechtscommunity arabischer Länder skeptisch gesehen. Sie befürchten, die öffentliche Aufmerksamkeit werde dadurch auf Minderheiten und marginalisierte Gruppen gelenkt, denen so zusätzliche Gefahren erwachsen könnten, ohne dass dies durch wirksame Schutzmechanismen abgefedert würde.
Solche möglichen Effekte sollten sich deutsche Entscheidungsträger ebenso bewusst machen wie die Tatsache, dass arabische Regime das Potential des feministischen Ansatzes erkannt haben, von anderen Menschenrechtsdefiziten abzulenken, indem Frauenrechte vordergründig gestärkt werden. Im wechselseitigen Dialog sollte daher weniger das kontroverse Label als vielmehr der konkrete Anspruch universaler Menschenrechte akzentuiert werden.
Gleichzeitig gilt es, kulturrelativistischen Argumentationsmustern entschieden entgegenzutreten, selbst dann, wenn diese von Teilen der zumeist hochpolarisierten Bevölkerung geteilt werden. Es ist richtig, dass in Nahost und Nordafrika bisweilen starke Unterstützung für autoritäre Regime und auch deren Repressionspolitik sichtbar ist – insbesondere dort, wo Rechteeinschränkungen religiöse, ethnische, politische oder sexuelle Minderheiten treffen. Dissens gegenüber dem autoritären Trend ist nicht zuletzt deshalb kaum noch hörbar, weil kritische Stimmen vielerorts aufgrund von Repression oder Angst vor Konsequenzen verstummt sind.
Grundsätzlich dürfen autoritäre Stimmungen nicht wegweisend für wertegeleitete Außenpolitik sein, die auf dem universalistischen Anspruch von Menschenrechten fußt. Vielmehr muss dieser Anspruch proaktiv verteidigt werden. Dies kann durch Verweis darauf geschehen, dass Menschenrechtsnormen keineswegs ein westliches Konstrukt sind, sondern eine völkerrechtliche Verpflichtung darstellen, welche die angesprochenen Akteure selbst eingegangen sind. Im Übrigen zeigen Umfragen, dass der Wunsch nach rechtsstaatlich verankerten, demokratischen Normen und Gesetzen, nach der Beendigung staatlicher Gewalt und Willkür sowie nach Achtung der Menschen- und Bürgerrechte in der Region stark ausgeprägt ist – auch wenn Vertreter dortiger Regime gelegentlich das Gegenteil behaupten.
Der Vorwurf der Doppelmoral gründet vor allem auf wahrgenommenen Inkonsistenzen deutscher Menschenrechtspolitik. Beklagt werden ein Missverhältnis zwischen dem propagierten menschenrechtspolitischen Anspruch und der tatsächlichen Politik, die mangelnde Folgerichtigkeit, wenn es darum geht, auf entsprechende Defizite in der Region und darüber hinaus zu reagieren, sowie eine unterschiedliche Wahrnehmung, Gewichtung und Ahndung von Menschenrechtsverletzungen einzelner Staaten. Dass etwa trotz einschlägiger Missstände weiterhin Rüstungsgeschäfte mit autoritären Regimen betrieben werden, ist für viele Mitglieder der dortigen Zivilgesellschaft wenig nachvollziehbar. Dass milliardenschwere Wirtschaftskooperationen nur in Ausnahmefällen und nie öffentlich daran geknüpft werden, dass Menschenrechte konkret verbessert und etwa einzelne Aktivistinnen und Aktivisten aus der Haft entlassen werden, unterminiert das Narrativ von wertegeleiteter Außenpolitik – sowohl bei den Regimen als auch in der Bevölkerung der Region. Und dass im Nahostkonflikt Menschenrechtsverletzungen im Rahmen der israelischen Besatzungspolitik unzureichend benannt und sanktioniert werden, nehmen viele Menschen in den arabischen Staaten als große Ungerechtigkeit wahr.
Der Vorwurf der Doppelmoral ist besonders schwerwiegend, weil er die Glaubwürdigkeit deutscher Menschenrechtspolitik in Frage stellt. Allein auf diskursiver Ebene lässt sich diesem Vorwurf nicht begegnen. Zwar kann es helfen, wenn Deutschland sich ein Stück weit ehrlich macht und offen kommuniziert, welche anderweitigen Interessen und Erwägungen einem resoluteren Einsatz für Menschenrechte gegebenenfalls entgegenstehen. Zudem kann die Ernsthaftigkeit des Anliegens unterstrichen werden, wenn entsprechende Appelle nicht nur im Rahmen institutionalisierter Formate, sondern auf allen Gesprächsebenen erfolgen. Dabei sollte Kritik weniger pauschal geäußert als vielmehr auf konkrete Missstände bezogen werden.
Doch letztlich ist Glaubwürdigkeit im Menschenrechtsdialog nicht allein durch Worte zu erreichen – es bedarf auch Taten. So ist es zwar wichtig, Probleme anzusprechen und deren Beseitigung einzufordern. Letztlich hängt der Erfolg des Dialogs aber maßgeblich davon ab, inwieweit die Bundesregierung bereit ist, andere Politikziele dem Einsatz für Menschenrechte unterzuordnen und die Wahrung von Menschenrechtsstandards ressortübergreifend zu priorisieren.
Dr. Jannis Grimm ist Konfliktforscher an der Freien Universität Berlin. Dort leitet er die Nachwuchsforschungsgruppe »Radical Spaces« am INTERACT Zentrum für Interdisziplinäre Friedens- und Konfliktforschung. Dr. Stephan Roll ist Leiter der Forschungsgruppe Afrika und Mittlerer Osten.
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