Mit seiner mit den Mitgliedstaaten abgestimmten Erklärung vom 6. Januar 2021 hat der Außenbeauftragte der Europäischen Union (EU) Josep Borrell ein Fenster geöffnet für die Neupositionierung Europas in der politischen Krise Venezuelas: Er verzichtet auf die Bezeichnung »Interimspräsident« für Juan Guaidó, stattdessen rückt er die Mitglieder der 2015 gewählten und von Guaidó angeführten Nationalversammlung sowie Akteure der Zivilgesellschaft in den Vordergrund. Damit trägt Borrell der verfahrenen Situation im Lande und den festgefahrenen internationalen Dialogversuchen Rechnung; Europa bindet sich weniger an die Person Guaidó und nimmt die verschiedenen Kräfte der in sich gespaltenen Opposition stärker in den Blick. Dies bietet neue Möglichkeiten, um die extreme Personalisierung des Konflikts in Venezuela zwischen Nicolás Maduro und Juan Guaidó zu überwinden. Gleichzeitig können sich die nationalen Akteure, aber auch die internationale Gemeinschaft neu aufstellen und Raum geschaffen werden für flexiblere Ansätze für Dialog und Verhandlung. Unter anderem könnten die neue US-Regierung unter Joe Biden und ihre Initiativen besser einbezogen werden. Dies könnte eine anders gelagerte Sanktionspolitik in Verbindung mit positiven Anreizen für eine Lösung jenseits der akuten Machtfrage in Venezuela beinhalten.
Die europäische Erklärung öffnet ein Gelegenheitsfenster, das zusammen mit einer möglichen Neuorientierung der Regierung Biden die Chancen erhöht, neue Gesprächsinitiativen zu entwickeln, die die Regierung Trump weitgehend unterlaufen hat. Inzwischen hat sich die wirtschaftliche Lage in Venezuela weiter verschlechtert, das Land hat seit 2013 geschätzte 73 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts verloren. Es steckt in einer politischen und sozialen Krise – die Möglichkeiten einer schnellen politischen Lösung der Blockadesituation zwischen dem militärisch-politischen Regime Präsident Maduros und dem von der politischen Opposition getragenen »Interimspräsidenten« Juan Guaidó erscheinen gegenwärtig begrenzt. Die beiden politischen Lager stehen sich unversöhnlich gegenüber, es gibt keinerlei Vertrauen in die Akteure der jeweils anderen Seite. Das Militär bleibt weiterhin eng an das Regime gebunden, bislang sind von ihm keine Impulse für eine Lösung des Konflikts ausgegangen. Die von Guaidó vertretene Linie einer Interimsregierung hat sich überlebt und behindert neue Initiativen.
Durch die internationale Sanktionspolitik mit einer wirtschaftlichen Blockade seitens der USA und persönlichen Listungen gegen ausgewählte Personen des Regimes seitens der EU haben sich bisher keine entscheidenden Risse innerhalb der bestehenden Machtstruktur aufgetan (vgl. SWP-Aktuell 66/2020). Das Vorhandensein politischer Gefangener, Menschenrechtsverletzungen, die Unterdrückung der Opposition und vielfältige Manipulationen der Parlamentswahlen vom 6. Dezember 2020 lassen nicht auf eine unmittelbare politische Lösung des Konflikts im Sinne einer Machttransition schließen. Die existierenden Doppelstrukturen von Parlament, Präsident, Gerichtshöfen und diplomatischen Vertretern, die teils im Inland und teils im Exil tätig sind, haben sich als wenig operativ erwiesen, um das Maduro-Regime zu erschüttern.
Politische Folgen der Parlamentswahlen vom 6. Dezember 2020
Die internationale Gemeinschaft hat die Wahl nicht anerkannt, die Opposition boykottierte sie, die Wahlbeteiligung war sehr gering – dennoch konnte die anschließend von der Opposition durchgeführte Volksbefragung die Menschen nicht mobilisieren. Vor dem Hintergrund der konkreten Lebensumstände scheint die Bevölkerung erschöpft und sieht kaum Chancen auf einen Wandel. Selbst der amtlich verordnete Triumphalismus von Präsident Maduro konnte nicht verdecken, dass sich in der Bevölkerung angesichts des Versagens der politischen und militärischen Elite des Landes tiefe Ernüchterung eingestellt hat. Ihr Ziel, nun alle Machthebel wieder in der Hand zu halten, hat die Regierung mit dem Zusammentreten des neu gewählten Parlaments am 6. Januar 2021 zumindest formal erreicht.
Aber auch Juan Guaidó ist nicht mehr der Hoffnungsträger, als der er 2019 noch angesehen wurde. Seine Basis in der Opposition bröckelt weiter: Die Erklärung der »administrativen Kontinuität« der 2015 mit einer Oppositionsmehrheit gewählten Nationalversammlung für ein weiteres Jahr wurde zwar gebilligt, wichtige Oppositionsparteien wollten diesen Beschluss jedoch nicht mittragen. Zunehmend treten Konkurrenten in den Vordergrund, die aus der Schwäche Guaidós Kapital ziehen und eigene Führungsambitionen artikulieren. Vor allem aber scheint Guaidó den Kontakt zu vielen zivilgesellschaftlichen Gruppen verloren oder zumindest nicht gepflegt zu haben, so dass viele Gruppierungen sich nicht länger den Maximen der früheren Führungsfigur unterordnen wollen. Dadurch ist das politische Panorama komplexer geworden, was einer breiteren Palette von Akteuren ermöglicht, sich am gesellschaftlichen Dialog in Venezuela zu beteiligen und ihn voranzubringen – eine zentrale Voraussetzung für internationale Anstrengungen, die das Handeln der Akteure im Land nicht ersetzen, sondern nur stützen können.
Lösungsansätze der internationalen Gemeinschaft ohne Erfolg
Bislang haben die verschiedenen internationalen Ansätze (Lima-Gruppe; Mechanismus von Montevideo, Internationale Kontaktgruppe) nicht zu einem tragfähigen politischen Prozess geführt, der von beiden Konfliktparteien akzeptiert würde. Einzig der von Norwegen initiierte »Oslo-Prozess« erfüllte zu einem gewissen Grad diese Aufgabe, bis die Maduro-Regierung ihn im August 2019 abgebrochen hat. Mit dem Regierungswechsel in den USA könnte indes eine der Bremsen für eine Verhandlungsoption gelöst werden: Die Regierung Trump hatte maßgeblich auf die Politik des »maximalen Drucks« gesetzt und damit auch manche Dialogversuche unterlaufen oder sogar zunichte gemacht. Selbst wenn Venezuela nicht die oberste Priorität in der Außenpolitik der Regierung von Präsident Biden darstellt, deuten erste Verlautbarungen darauf hin, dass diese eine stärker multilateral angelegte Verhandlungsstrategie verfolgt. Das gilt zunächst für humanitäre Hilfe, getragen von den Vereinten Nationen, aber auch für den Versuch, die verschiedenen internationalen »stakeholder« wie China, Kuba und Russland enger einzubeziehen.
Zudem dürfte die unvermeidliche Neuordnung innerhalb der venezolanischen Oppositionskräfte neue Ansätze begünstigen. Diesen Akteuren müssen jedoch auch positive Anreize geboten werden, die ihnen einen weiteren Horizont eröffnen und über die Forderung eines unmittelbaren Machtverzichts des Regimes hinausreichen.
Geopolitische Fronten abbauen
Eine zentrale Voraussetzung ist weiterhin, dass die Lösung auf Vorstellungen und Initiativen der venezolanischen Seite beruhen muss. Bislang haben sich die Kontrahenten Maduro und Guaidó auf ihre jeweiligen internationalen Verbündeten gestützt, so dass die Konfrontation zwischen China, Russland und den USA keinen Fortschritt ermöglicht hat. Diese Strategie von Regierung und Opposition, durch externe Unterstützung eigene Positionen zu festigen, hat eine Geopolitisierung des Konflikts zur Folge, die selbst kleinen Schritten im Wege steht.
Diese geopolitische Aufladung des Konflikts muss zurückgeführt werden. Damit könnte unter anderem die Bindung an die Person Guaidó in Richtung auf eine breite Wahrnehmung der Oppositionskräfte (gerade auch jenseits der etablierten G4-Parteien) gelockert werden, um flexiblere Ansatzpunkte zu schaffen. Dies gilt vor allem für ein stärker an humanitären Notwendigkeiten ausgerichtetes internationales Sanktionsregime. Hier könnte die EU eine fruchtbare Rolle spielen, wenn ihr zweierlei gelingt: Angebote zu formulieren, die eine Linderung der humanitären Notlage bewirken; Zukunftsoptionen in politische Verhandlungen einzubringen, die einen vorherigen Machtverzicht des Maduro-Regimes nicht zwingend voraussetzen. Dieser Pfad erfordert vertrauensbildende Maßnahmen, die sich nur jenseits geopolitischer Frontbildungen entwickeln können und ein großes Spektrum von Akteuren einbinden müssen.
Ein Rettungspaket schafft Perspektiven
Ein möglicher Ansatzpunkt könnte die Formulierung eines umfassenden Wiederaufbauplans für Venezuela sein, der die aktuell unlösbare Frage nach einem politischen Machtübergang zunächst ausklammert. So könnten Gemeinsamkeiten ausgelotet werden, damit die Konfliktpartner perspektivisch ins Gespräch kommen können.
Grundzüge eines solchen Programms sind heute bereits erkennbar, allerdings fehlt ein politischer Konsens: Venezuela wird massive Hilfe von der internationalen Gemeinschaft erbitten müssen, sei es in Form von Überbrückungszahlungen, Zuschüssen oder Darlehen. Die De-facto-Dollarisierung der Krisenwirtschaft des Maduro-Regimes ist mit galoppierender Inflation verbunden und hat zu extremer Ungleichheit im Land geführt, was den Zugang zu Medikamenten und Lebensmitteln angeht. Staatliche Verteilungs- und Zuweisungssysteme gestatten gegenwärtig keinen verlässlichen Überblick über das Ausmaß der Mangelsituation.
Zentraler Ansatzpunkt vieler Überlegungen ist die Inwertsetzung des Ölreichtums des Landes für den Wiederaufbau, primär durch Erleichterung privater Investitionen, Sanierung der Stromerzeugung und Ölausschreibungsrunden. Die Versuchung ist groß, insbesondere die staatliche Ölfirma Petróleos de Venezuela (PDVSA) für ausländische Investitionen zu öffnen und die Schulden bei den Gläubigern durch Öleinnahmen »aggressiv« umzuschulden. Die bestehende Verpfändung zukünftiger Erdölproduktion (etwa an China für gewährte Kredite) erschwert diesen Weg jedoch. Angesichts der gravierenden Mängel in der Infrastruktur des Landes sind einer unmittelbaren Steigerung der Ölproduktion enge Grenzen gesetzt. Der Kapitalbedarf ist enorm: schätzungsweise mindestens 60 bis 80 Milliarden Dollar (ohne die technische Erneuerung der Öl-, Gas- und Elektrizitätsindustrie zu berücksichtigen).
Dem Verfall der Wasserver- und Abwasserentsorgung, des öffentlichen Transportsystems, der Energieversorgung, des Gesundheitswesens, der Lebensmittelproduktion und -versorgung sowie der Beschäftigungsmöglichkeiten entgegenzuwirken ist eine gigantische Aufgabe in Anbetracht der Rahmenbedingungen (hohe Gewaltinzidenz, illegale Ökonomien, gesellschaftliche Desorganisation, massives Korruptionsgeschehen und Bereicherungsmentalität).
Ein (makroökonomisches) Rettungspaket würde die Lage der Bevölkerung schnell sichtbar verbessern, ein mittelfristig angelegtes Wiederaufbauprogramm muss die vielfältigen strukturellen Verwerfungen begradigen. Dieser zweigleisige Ansatz beinhaltet einen schmerzlichen Prozess der Wiederherstellung von Preisrelationen, Austrocknung von Schwarzmarkt und Beschaffungskorruption, ferner berechenbare öffentliche Dienstleistungen und private Investitionen.
Prioritär sind dabei folgende Elemente:
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sozialpolitische Programme zur Versorgungs- und Einkommenssicherung der breiten Bevölkerung, um die humanitäre Krise zu mildern;
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Wiederherstellung der Zahlungsfähigkeit des Landes durch Reformen bei der Zentralbank, Neuaufstellung des Steuer- und Bankensystems;
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Ankurbelung der landwirtschaftlichen Produktion und von Ernährungsgütern, um teure Importe zu vermeiden und den Eigenbedarf abzusichern.
Aufgrund des nahezu präzedenzlosen wirtschaftlichen Zusammenbruchs ist klar, dass der wirtschaftliche Wiederaufbau Venezuelas eine Generationenaufgabe sein wird. Allerdings verfügt das Land über ein hohes Potenzial an gut ausgebildeten Fachkräften, von denen in den letzten Jahren viele ins Ausland geflüchtet sind und auf einen Regimewechsel warten. Um diese 5,4 Millionen Migranten und Flüchtlinge zu einer Rückkehr zu ermutigen, bedarf es verlässlicher institutioneller Rahmenbedingungen. Vertreter der venezolanischen Opposition haben wiederholt explizit die Erwartung geäußert, dass Europa dabei eine wichtige Rolle spielen sollte.
Die Rolle Europas jenseits reaktiver Sanktionspolitik
Die EU sollte die Neubestimmung ihrer Haltung in der Venezuela-Krise nutzen, um auf diplomatischen, humanitären und politischen Wegen Gesprächsangebote, Initiativen der Zusammenarbeit und Austauschplattformen zu lancieren und an eine breite Auswahl venezolanischer Akteure heranzutragen. Durch ein solches Neuarrangement der politischen Akteure kann die EU verlorene Optionen zurückgewinnen, wie in der Erklärung Josep Borrells angedeutet: Zum einen befreit sich die EU von der ohnedies nicht einheitlichen Position der unkonditionierten Unterstützung für Juan Guaidó und sein politisches Handeln; zum anderen könnten im Rahmen der Neuaufstellung der venezolanischen Oppositionskräfte möglicherweise neue Kanäle erschlossen werden, um die humanitäre Situation zu erleichtern und Verhandlungswege für ein Rettungspaket zu finden. Eine enge Abstimmung mit der neuen US-Administration erscheint angezeigt, eventuell könnte dabei die Bestellung eines europäischen Sonderbeauftragten für Venezuela hilfreich sein.
Indem unmittelbar wirksame konkrete Lösungen für humanitäre Fragen und mittelfristige Ansätze für einen Wiederaufbau miteinander verknüpft werden, könnte Vertrauen geschaffen und die gegenwärtig nicht lösbare Machtfrage vorerst ausgeklammert werden. Das bedeutet nicht, den Druck vom Maduro-Regime zu nehmen und seine menschenverachtende Politik nicht mehr anzuklagen, ganz im Gegenteil: Erst dadurch, dass die Legitimität des Regimes infrage gestellt wird, kann ein solcher Ansatz der EU fruchtbar sein und die Akteure im Land zum Handeln motivieren. So könnte der Venezuela-Konflikt aus geopolitischer Erstarrung, reaktiver Sanktionspolitik und personalistischer Verengung befreit werden und ein Prozess international gestützter Vertrauensbildung beginnen. Zugleich könnte damit die von der EU geforderte Konfliktlösung aus Venezuela heraus gestärkt werden.
Prof. Dr. Günther Maihold ist Stellvertretender Direktor der SWP
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ISSN 1611-6364
doi: 10.18449/2021A08