Das Scheitern der Offensive Khalifa Haftars gegen Tripolis verändert den Libyenkonflikt fundamental. Russland und die Türkei versuchen, Einflusszonen abzugrenzen, doch politische Umbrüche in Libyen sowie andere Mächte könnten ihre Pläne durchkreuzen. Im Süden des Landes könnte Haftars Niederlage neue Konflikte hervorrufen, im Osten seine Autorität zunehmend in Frage stellen. Auch unter seinen Gegnern entwickeln sich erneut Machtkämpfe. Die Aussichten für eine Rückkehr zu einem politischen Prozess sind schlecht. Zu groß sind die Hindernisse durch ausländische Intervention, zu tief die gesellschaftlichen Gräben, die der Bürgerkrieg verursacht hat. Für westliche Staaten sollte Priorität haben, Libyens Einheit zu bewahren und den Einfluss Russlands zurückzudrängen.
Im Frühling 2020 ist es den Verbänden der Regierung der Nationalen Einheit (GNA) in Tripolis gelungen, Khalifa Haftar eine Reihe von Rückschlägen zuzufügen, mit erheblicher türkischer Unterstützung. Anfang Juni zogen sich Haftars Kräfte aus Westlibyen zurück. Entscheidend dafür war der Abzug von Söldnern des russischen Unternehmens Wagner aus Tripolis, während die türkischen Drohnen ihre Luftschläge unterbrachen. Haftars Offensive fiel also einer türkisch-russischen Abmachung zum Opfer. Im Zentrum des Landes hat Russland weiterhin Söldner stationiert, seit Mai auch Kampfflugzeuge. Gemeinsam mit Drohnen der Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) halten diese Haftars Gegner bislang von weiteren Vorstößen nach Osten ab.
Haftars Niederlage in Westlibyen zeigt, wie zentral ausländische Unterstützung für beide Seiten geworden ist, seitdem Haftar im April 2019 seinen Angriff auf Tripolis begann. Militärhilfen aus den VAE, Ägypten und Russland sowie die Rückendeckung der USA und Frankreichs verliehen Haftar zunächst einen Vorteil. Einzig die Türkei bot der GNA anfänglich Unterstützung, setzte sie aber im Herbst 2019 aus und ermöglichte Haftars Verbänden in Tripolis somit Geländegewinne.
Die Türkei half der GNA erst wieder, nachdem sie sie im November 2019 zu einem Abkommen über die Seegrenzen im östlichen Mittelmeer gezwungen hatte. Während Haftars Unterstützer verdeckt arbeiteten, intervenierte die Türkei offen. Die Eskalation der Kämpfe ab Ende März offenbarte, wie stark das türkische Eingreifen die Kräfteverhältnisse verändert hatte.
Akteurslandschaft im Umbruch
Haftars Niederlage in Tripolis wird die Konflikte in Libyen nachhaltig verändern. Die beiden gegnerischen Lager sind Zweckbündnisse, die nach dem Scheitern Haftars zerfallen werden. Die Allianz der Haftar-Gegner besteht vor allem aus bewaffneten Gruppen aus westlibyschen Städten, deren Ursprünge im Krieg gegen Gaddafi 2011 liegen. Bevor sie die Gegnerschaft zu Haftar einte, waren viele von ihnen erbitterte Rivalen. Formal sind sie der Regierung gegenüber loyal, tatsächlich aber stehen sie ihr oftmals ablehnend gegenüber.
Haftar wiederum führt eine Koalition von Kräften an, die mit ihm an die Macht gelangen wollten. Darunter finden sich Einheiten, die er in den letzten Jahren im Osten aufgebaut hat, aber auch Milizen aus West- und Südlibyen, die weitgehend unabhängig von ihm sind. Unter ihnen sind Salafisten und ehemalige Anhänger Gaddafis prominent vertreten.
Viel wird davon abhängen, ob Haftars Verbände auch noch die Küstenstadt Sirt und die Region Jufra im Zentrum des Landes verlieren. Nach dem überstürzten Rückzug aus dem Westen versuchen Haftars Kräfte mit russischer und emiratischer Unterstützung, die GNA-Offensive in Sirt zu stoppen. Die Türkei setzt Kriegsschiffe und Drohnen ein. Der Türkei und Russland dürfte daran gelegen sein, eine direkte Konfrontation zu vermeiden. Kampfhandlungen zwischen den libyschen Konfliktparteien dagegen könnten Teil der Verhandlungen zwischen den beiden Staaten über die Abgrenzung ihrer Einflusszonen sein.
Sollte es der GNA gelingen, Sirt und Jufra einzunehmen, würde Haftars verbliebener Einfluss in Südlibyen rasch schwinden. Kräfte der GNA könnten dann versuchen, weiter nach Osten vorzustoßen, die Zersetzung der Machtstruktur Haftars sich beschleunigen. Sollte Haftar hingegen die Kontrolle über Sirt und / oder Jufra behalten, stehen seine Chancen besser, Einflussgebiete im Süden und seine Autorität im Osten zu bewahren.
Wo auch immer die Linie gezogen wird – die Türkei ist zur dominierenden Macht in Westlibyen geworden und Russland zum wichtigsten Schutzherrn Haftars. Russland und die Türkei stehen auf unterschiedlichen Seiten, können aber kooperieren – im Gegensatz zu Haftars anderen Unterstützern, Ägypten und den VAE, die der Türkei feindlich gesinnt sind. Damit eröffnet sich für Russland und die Türkei die Möglichkeit, Libyen unter sich in Einflusszonen aufzuteilen.
Folgen im Westen, Süden, Osten
Türkisch-russische Bestrebungen, den Konflikt einzufrieren, dürften mit den politischen Auswirkungen der Niederlage Haftars kollidieren. Allianzen und Loyalitäten werden sich nun neu ausrichten. Die Institutionen, die der Türkei und Russland als Partner dienen – die GNA bzw. Haftars Libysch-Arabische Streitkräfte –, werden unter Druck geraten.
In Westlibyen einigte die Bedrohung, die von Haftar ausging, seine Gegner. Während Haftars Kräfte auf dem Vormarsch waren und Differenzen im gegnerischen Lager ausgenutzt hätten, unterdrückten viele ihre politischen Ambitionen und ihre Wut über Korruption in der GNA. Jetzt treten Frustration und Rivalitäten wieder an die Oberfläche. Das ist nicht unbedingt schlecht. Denn das Regelwerk des politischen Abkommens von 2015, durch das die GNA gebildet wurde, hat Personalwechsel lange erschwert. Politiker ohne nennenswerte Basis konnten unbehelligt ihrer Selbstbereicherung nachgehen. Nur indem die Regierung in Tripolis den politischen Kräften im Land gegenüber stärker rechenschaftspflichtig wird, kann sie handlungsfähiger werden.
In weiten Teilen Südlibyens war Haftars Einfluss selbst auf der Höhe seiner Macht prekär. Politiker und bewaffnete Gruppen bekundeten ihm gegenüber Loyalität, weil sie sich von ihm Mittel und Dienstleistungen erhofften oder erwarteten, dass er in Tripolis siegen würde. Nachdem beide Erwartungen enttäuscht worden sind, werden sich viele nun wieder um Beziehungen in Tripolis bemühen. Dieser Prozess der politischen Neuausrichtung dürfte konfliktgeladen sein. Einige bewaffnete Gruppen haben bereits die Seiten gewechselt, und das Tauziehen um die Kontrolle der Ölfelder in der Region ist seit Haftars Niederlage in Tripolis in vollem Gange.
In Ostlibyen ist Haftars Herrschaft am festesten etabliert. Für viele Politiker und Milizenführer dort ist ihr Schicksal mit seinem verknüpft. Ein Großteil der ostlibyschen Gesellschaft sieht der Instabilität, die mit Haftars Untergang einhergehen würde, mit Sorge entgegen. Doch der Mythos des siegreichen Feldherrn ist zerfallen, und viele im Osten geben Haftar die Schuld für das gescheiterte Abenteuer in Tripolis. Milizionäre, die desillusioniert aus dem verlorenen Krieg zurückkehren, könnten sich gegen ihn wenden. Milizenführer in Bengasi, die ihm gegenüber lange latent illoyal waren, könnten versuchen, sich wieder Geltung zu verschaffen. Die politische Opposition könnte sich um den Präsidenten des Rumpfparlaments im Osten, Agilah Saleh, scharen, aber auch um die Bewegung für regionale Autonomie, die Haftar seit Jahren unterdrückt. Die vielen Politiker, Geschäftsleute und Milizionäre, die der Herrschaft Haftars im Osten entflohen sind, sprechen bereits mit Verschwörern im Osten über ihre Rückkehr. Wenn es Haftar nicht gelingt, durch illegale Erdölexporte an Geld zu kommen, werden diese Machtkämpfe ausbrechen, während seine Finanzierungsnöte zunehmen. Sollte Haftars Machtstruktur bröckeln, würden die vielen Konflikte wieder zu Tage treten, die mit seinem gewaltsamen Aufstieg verbunden waren.
Hindernisse für ein Kondominium
Dass sich ein türkisch-russisches Kondominium in Libyen verfestigen könnte, muss bezweifelt werden. Andere Mächte würden sich ihm widersetzen, und eine politische Lösung wäre mit ihm nicht umsetzbar.
Wie das anhaltende Tauziehen um Sirt zeigt, bedeutet ein russisch-türkisches Arrangement nicht zwangsläufig das Ende der Kampfhandlungen. Sollten beide Staaten zu einer Regelung über Sirt und Jufra kommen, ist denkbar, dass dies größere Auseinandersetzungen zwischen den libyschen Parteien beendet. Doch selbst in diesem Fall sind die Aussichten für politische Verhandlungen schlecht. Seit Haftars Offensive gegen Tripolis sehen die meisten politischen Akteure in Westlibyen in ihm keinen glaubwürdigen Verhandlungspartner mehr. Hinzu kommt der tiefe Graben zwischen Westlibyen und dem Osten, wo sich kaum Stimmen gegen den Krieg erhoben hatten. Je deutlicher die Aussichtslosigkeit der Offensive Haftars wurde, desto mehr hat separatistisches Gedankengut im Osten an Boden gewonnen.
Auch die türkische und russische Intervention selbst schmälert die Chancen für eine politische Lösung. In Verhandlungen würden die Konfliktparteien versuchen, den Abzug der ausländischen Elemente ihres jeweiligen Gegners zu erreichen: russische und syrische Söldner, emiratische und türkische Drohnen sowie russische Kampfflugzeuge. Ein Abkommen würde wieder eine einzige Regierung und Armeeführung schaffen, die sich dann gegen jegliche ausländische Militärpräsenz wenden könnten. Es liegt daher weder im türkischen noch im russischen Interesse, den Konflikt zu lösen – sondern ihn einzufrieren.
Die finanziellen Schwierigkeiten beider Seiten werden durch Haftars Niederlage in Tripolis nicht gelindert. Seit Januar 2020 blockiert Haftar Erdölexporte aus Gebieten unter seiner Kontrolle. Damit verhindert er, dass Einnahmen in die Zentralbank in Tripolis fließen, die sich weigert, der Regierung im Osten größeren Zugang zu Mitteln zu gewähren. Bislang haben westliche Staaten dafür gesorgt, dass die Sanktionen der Vereinten Nationen (VN) gegen illegale Erdölexporte eingehalten wurden, und es unmöglich gemacht, dass Haftar auf eigene Faust Öl verkauft. Für eine Wiederaufnahme der Exporte wären Reformen in der Führungsriege der Zentralbank die Voraussetzung, die den Zugang zu Geldern neu regelten.
Solange eine solche Einigung ausbleibt, werden die finanziellen Probleme wachsen, sowohl für die Regierung in Tripolis als auch für die mit Haftar assoziierte Regierung im Osten. Damit wird es für beide schwieriger, Söldner und Waffen zu bezahlen oder ihre ausländischen Schutzherren mit Geschäften im Erdölsektor zu belohnen. Russland und die Türkei stehen vor einem Dilemma: Ein politisches Abkommen würde ihren Einfluss einschränken, ein eingefrorener Konflikt die Wirtschaftlichkeit ihrer Interventionen in Frage stellen.
Schließlich werden andere Mächte zu unterbinden suchen, dass Russland und die Türkei das Land unter sich aufteilen. Die VAE, Ägypten und Frankreich widersetzen sich dem, einerseits wegen ihrer Gegnerschaft zur Türkei, andererseits weil es ihren Einfluss auf Haftar zugunsten Russlands schmälern würde. Die USA sind über die Stationierung russischer Kampfflugzeuge beunruhigt und wollen verhindern, dass Russland feste Basen in Libyen etabliert. Die Spannungen zwischen diesen sechs Mächten könnten die Konflikte in Libyen weiter befeuern. Zumindest aber werden sie die Aussichten auf einen politischen Prozess unter Führung der VN zunichtemachen.
Europa außen vor
Die Europäer schauten zu, wie der Krieg in Libyen wütete und ausländische Interventionen stetig zunahmen. Die wichtigsten Gründe für ihre Untätigkeit waren: ihr Unwille, Druck auf Ägypten und die VAE auszuüben; Frankreichs Politik, Haftar zu schützen; die zunächst stillschweigende Unterstützung der USA für Haftar; später ihr Desinteresse an dem Konflikt. Mangelnde Bereitschaft, im Libyenkonflikt Hebel einzusetzen, prägte auch die deutsche Diplomatie.
Als Folge dieser Politik haben Russland und die Türkei das Vakuum gefüllt, während die Europäer an Einfluss und Glaubwürdigkeit verloren haben. Nun sind sie nicht mehr in der Lage zu vermitteln oder die GNA zu dringenden Reformen anzutreiben.
Jetzt, da die katastrophalen Konsequenzen europäischer Untätigkeit offenkundig sind und Haftar keine Chance mehr hat, die Macht zu ergreifen, ist ein Politikwechsel unabdingbar. Ein russisch-türkisches Kondominium ist nicht im Interesse Europas und würde auch nicht zur Wiedervereinigung Libyens führen. Doch eine Libyenpolitik, die sich zugleich gegen die Türkei und Russland richtet, würde beide Staaten noch stärker zur Kooperation anspornen.
Die obersten Ziele europäischer Politik sollten jetzt sein, die Einheit Libyens zu bewahren und den russischen Einfluss zurückzudrängen. Die Europäische Union (EU) kann diese Ziele nur verfolgen, wenn Frankreich abrückt von seiner Toleranz für Russland und seiner Gegnerschaft gegenüber der Türkei. Die russische Militärpräsenz in Libyen ist eine weit größere Gefahr für Europa als die türkische Intervention. Eine reduzierte russische Präsenz würde auch die Abhängigkeit der GNA von türkischem Schutz verringern. Das läge im Interesse jener EU-Staaten, die mit der Türkei über die Seerechte im östlichen Mittelmeer im Streit sind und der GNA daher ablehnend gegenüberstehen.
Militärische Mittel eignen sich für die EU wenig, um diese Ziele zu verfolgen; dafür mangelt es ihr an Glaubwürdigkeit. Die Marinemission Irini ist nicht in der Lage, Waffenlieferungen zu unterbinden, kann aber zur Abschreckung gegen illegale Erdölexporte dienen – was entscheidend ist, um die Teilung Libyens zu vermeiden.
Die Hebel westlicher Staaten liegen vor allem im Bereich der Wirtschaft und dem Einsatz von Sanktionen. Sie sollten illegale Erdölexporte verhindern und auf Reformen in der Zentralbank hinarbeiten. Die Lähmung des VN-Sicherheitsrats macht es nötig, stärker auf US- und EU-Sanktionen zu setzen, um gegen Verletzungen des Waffenembargos und illegale Erdölgeschäfte vorzugehen.
Da Russland Haftar als Partner braucht, sollte die EU ihn durch Sanktionen schwächen. Gleichzeitig sollten westliche Staaten ihr Interesse an einem stabilen Libyen endlich selbstbewusster gegenüber Ägypten und den VAE vertreten, um sie von der Kooperation mit Russland abzubringen.
Dr. Wolfram Lacher ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Naher / Mittlerer Osten und Afrika.
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ISSN 1611-6364
doi: 10.18449/2020A49
(Aktualisierte und ins Deutsche übersetzte Fassung von SWP Comment 25/2020)