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Libyens internationalisierter Bürgerkrieg

Umwälzungen nach der Niederlage Khalifa Haftars in Tripolis

SWP-Aktuell 2020/A 49, 16.06.2020, 4 Seiten

doi:10.18449/2020A49

Forschungsgebiete

Das Scheitern der Offensive Khalifa Haftars gegen Tripolis verändert den Libyen­konflikt fundamental. Russland und die Türkei versuchen, Einflusszonen abzugrenzen, doch politische Umbrüche in Libyen sowie andere Mächte könnten ihre Pläne durchkreuzen. Im Süden des Landes könnte Haftars Niederlage neue Konflikte hervor­rufen, im Osten seine Autorität zunehmend in Frage stellen. Auch unter seinen Gegnern entwickeln sich erneut Machtkämpfe. Die Aussichten für eine Rückkehr zu einem politischen Prozess sind schlecht. Zu groß sind die Hindernisse durch aus­ländische Intervention, zu tief die gesellschaftlichen Gräben, die der Bürgerkrieg verursacht hat. Für westliche Staaten sollte Priorität haben, Libyens Einheit zu bewahren und den Einfluss Russlands zurückzudrängen.

Im Frühling 2020 ist es den Verbänden der Regierung der Nationalen Einheit (GNA) in Tripolis gelungen, Khalifa Haftar eine Reihe von Rück­schlägen zuzufügen, mit erheb­licher türkischer Unterstützung. Anfang Juni zogen sich Haftars Kräfte aus West­libyen zurück. Entscheidend dafür war der Abzug von Söldnern des russi­schen Unter­nehmens Wagner aus Tri­polis, während die türkischen Drohnen ihre Luftschläge unter­brachen. Haftars Offensive fiel also einer türkisch-russischen Abmachung zum Opfer. Im Zentrum des Landes hat Russ­land weiter­hin Söldner stationiert, seit Mai auch Kampf­flugzeuge. Gemeinsam mit Drohnen der Vereinigten Arabischen Emi­rate (VAE) halten diese Haftars Gegner bis­lang von weiteren Vorstößen nach Osten ab.

Haftars Niederlage in Westlibyen zeigt, wie zentral ausländische Unterstützung für beide Seiten geworden ist, seitdem Haftar im April 2019 seinen Angriff auf Tripolis begann. Militärhilfen aus den VAE, Ägypten und Russland sowie die Rückendeckung der USA und Frankreichs verliehen Haftar zu­nächst einen Vorteil. Einzig die Türkei bot der GNA anfänglich Unterstützung, setzte sie aber im Herbst 2019 aus und ermög­lichte Haftars Verbänden in Tripolis somit Geländegewinne.

Die Türkei half der GNA erst wieder, nachdem sie sie im No­vember 2019 zu einem Abkommen über die Seegrenzen im östlichen Mittelmeer ge­zwun­gen hatte. Während Haftars Unterstützer verdeckt arbeiteten, intervenierte die Türkei offen. Die Eskalation der Kämpfe ab Ende März offenbarte, wie stark das türkische Ein­greifen die Kräfteverhältnisse verändert hatte.

Akteurslandschaft im Umbruch

Haftars Niederlage in Tripolis wird die Kon­flikte in Libyen nachhaltig verändern. Die beiden gegnerischen Lager sind Zweck­bündnisse, die nach dem Scheitern Haftars zerfallen werden. Die Allianz der Haftar-Gegner besteht vor allem aus bewaffneten Gruppen aus westlibyschen Städten, deren Ursprünge im Krieg gegen Gaddafi 2011 liegen. Bevor sie die Gegnerschaft zu Haftar einte, waren viele von ihnen erbitterte Rivalen. Formal sind sie der Regierung gegenüber loyal, tatsächlich aber stehen sie ihr oftmals ablehnend gegenüber.

Haftar wiederum führt eine Koalition von Kräften an, die mit ihm an die Macht gelangen wollten. Darunter finden sich Einheiten, die er in den letzten Jahren im Osten aufgebaut hat, aber auch Milizen aus West- und Südlibyen, die weitgehend un­abhängig von ihm sind. Unter ihnen sind Salafisten und ehemalige Anhänger Gaddafis prominent vertreten.

Viel wird davon abhängen, ob Haftars Ver­bände auch noch die Küstenstadt Sirt und die Region Jufra im Zentrum des Landes ver­lieren. Nach dem überstürzten Rück­zug aus dem Westen versuchen Haftars Kräfte mit russischer und emiratischer Unterstützung, die GNA-Offensive in Sirt zu stoppen. Die Türkei setzt Kriegsschiffe und Drohnen ein. Der Türkei und Russland dürfte daran gelegen sein, eine direkte Konfrontation zu vermeiden. Kampf­handlungen zwischen den libyschen Kon­flikt­parteien dagegen könnten Teil der Ver­handlungen zwischen den beiden Staaten über die Abgrenzung ihrer Einflusszonen sein.

Sollte es der GNA gelingen, Sirt und Jufra einzunehmen, würde Haftars verbliebener Einfluss in Südlibyen rasch schwinden. Kräfte der GNA könnten dann versuchen, weiter nach Osten vorzustoßen, die Zerset­zung der Machtstruktur Haftars sich be­schleu­nigen. Sollte Haftar hingegen die Kon­t­rolle über Sirt und / oder Jufra behalten, stehen seine Chancen besser, Einflussgebiete im Süden und seine Auto­rität im Osten zu bewahren.

Wo auch immer die Linie gezogen wird – die Türkei ist zur dominierenden Macht in Westlibyen geworden und Russ­land zum wichtigsten Schutzherrn Haftars. Russ­land und die Türkei stehen auf unter­schiedlichen Seiten, können aber kooperieren – im Gegensatz zu Haftars anderen Unterstützern, Ägypten und den VAE, die der Türkei feindlich gesinnt sind. Damit eröffnet sich für Russland und die Türkei die Möglichkeit, Libyen unter sich in Ein­flusszonen aufzuteilen.

Folgen im Westen, Süden, Osten

Türkisch-russische Bestrebungen, den Kon­flikt einzufrieren, dürften mit den politi­schen Auswirkungen der Niederlage Haftars kollidieren. Allianzen und Loyalitäten werden sich nun neu ausrichten. Die Insti­tu­tionen, die der Türkei und Russland als Partner dienen – die GNA bzw. Haftars Libysch-Arabische Streitkräfte –, werden unter Druck geraten.

In Westlibyen einigte die Bedrohung, die von Haftar ausging, seine Gegner. Während Haftars Kräfte auf dem Vormarsch waren und Differenzen im gegnerischen Lager aus­genutzt hätten, unterdrückten viele ihre politischen Ambitionen und ihre Wut über Korruption in der GNA. Jetzt treten Frust­ra­ti­on und Rivalitäten wieder an die Ober­fläche. Das ist nicht unbedingt schlecht. Denn das Regelwerk des politischen Ab­kom­mens von 2015, durch das die GNA ge­bil­det wurde, hat Personalwechsel lange er­schwert. Politiker ohne nennenswerte Basis konnten unbehelligt ihrer Selbst­bereiche­rung nachgehen. Nur indem die Regierung in Tripolis den politischen Kräften im Land gegenüber stärker rechen­schaftspflichtig wird, kann sie handlungsfähiger werden.

In weiten Teilen Südlibyens war Haftars Einfluss selbst auf der Höhe seiner Macht prekär. Politiker und bewaffnete Gruppen bekundeten ihm gegenüber Loyalität, weil sie sich von ihm Mittel und Dienst­leistungen erhofften oder erwarteten, dass er in Tri­polis siegen würde. Nachdem beide Er­war­tungen enttäuscht worden sind, werden sich viele nun wieder um Bezie­hun­gen in Tripolis bemühen. Dieser Prozess der poli­tischen Neuausrichtung dürfte kon­flikt­geladen sein. Einige bewaffnete Gruppen haben bereits die Seiten gewechselt, und das Tauziehen um die Kontrolle der Öl­felder in der Region ist seit Haftars Nieder­lage in Tripolis in vollem Gange.

In Ostlibyen ist Haftars Herrschaft am festesten etabliert. Für viele Politiker und Milizenführer dort ist ihr Schicksal mit seinem verknüpft. Ein Großteil der ost­libyschen Gesellschaft sieht der Instabilität, die mit Haftars Untergang einhergehen würde, mit Sorge entgegen. Doch der Mythos des siegreichen Feldherrn ist zer­fallen, und viele im Osten geben Haftar die Schuld für das gescheiterte Abenteuer in Tripolis. Mili­zionäre, die desillusioniert aus dem ver­lorenen Krieg zurückkehren, könn­ten sich gegen ihn wenden. Milizenführer in Bengasi, die ihm gegenüber lange latent illoyal waren, könnten versuchen, sich wieder Geltung zu verschaffen. Die politi­sche Op­position könnte sich um den Präsi­denten des Rumpfparlaments im Osten, Agilah Saleh, scharen, aber auch um die Bewegung für regionale Autonomie, die Haftar seit Jahren unterdrückt. Die vielen Politiker, Geschäftsleute und Milizionäre, die der Herrschaft Haftars im Osten ent­flohen sind, sprechen bereits mit Verschwö­rern im Osten über ihre Rückkehr. Wenn es Haftar nicht gelingt, durch illegale Erdöl­exporte an Geld zu kommen, werden diese Macht­kämpfe ausbrechen, während seine Finan­zie­rungsnöte zunehmen. Sollte Haftars Macht­struktur bröckeln, würden die vielen Kon­flikte wieder zu Tage treten, die mit seinem gewaltsamen Aufstieg verbunden waren.

Hindernisse für ein Kondominium

Dass sich ein türkisch-russisches Kondominium in Libyen verfestigen könnte, muss bezweifelt werden. Andere Mächte würden sich ihm widersetzen, und eine politische Lösung wäre mit ihm nicht umsetzbar.

Wie das anhaltende Tauziehen um Sirt zeigt, bedeutet ein russisch-türkisches Arrangement nicht zwangsläufig das Ende der Kampfhandlungen. Sollten beide Staa­ten zu einer Regelung über Sirt und Jufra kommen, ist denkbar, dass dies größere Auseinandersetzungen zwischen den liby­schen Parteien beendet. Doch selbst in diesem Fall sind die Aussichten für poli­tische Verhandlungen schlecht. Seit Haftars Offensive gegen Tripolis sehen die meisten politischen Akteure in Westlibyen in ihm keinen glaubwürdigen Verhandlungs­partner mehr. Hinzu kommt der tiefe Gra­ben zwischen Westlibyen und dem Osten, wo sich kaum Stimmen gegen den Krieg erho­ben hatten. Je deutlicher die Aus­sichts­losigkeit der Offensive Haftars wurde, desto mehr hat separatistisches Gedankengut im Osten an Boden gewonnen.

Auch die türkische und russische Intervention selbst schmälert die Chancen für eine politische Lösung. In Verhandlungen würden die Konfliktparteien versuchen, den Abzug der ausländischen Elemente ihres jeweiligen Gegners zu erreichen: rus­sische und syrische Söldner, emiratische und türkische Drohnen sowie russische Kampfflugzeuge. Ein Abkommen würde wieder eine einzige Regierung und Armee­führung schaffen, die sich dann gegen jeg­liche ausländische Militärpräsenz wen­den könnten. Es liegt daher weder im tür­ki­schen noch im russischen Interesse, den Kon­flikt zu lösen – sondern ihn einzufrieren.

Die finanziellen Schwierigkeiten beider Seiten werden durch Haftars Niederlage in Tripolis nicht gelindert. Seit Januar 2020 blockiert Haftar Erdölexporte aus Gebieten unter seiner Kontrolle. Damit verhindert er, dass Einnahmen in die Zentralbank in Tri­polis fließen, die sich weigert, der Regierung im Osten größeren Zugang zu Mitteln zu gewähren. Bislang haben westliche Staa­ten dafür gesorgt, dass die Sanktionen der Vereinten Nationen (VN) gegen illegale Erd­öl­exporte eingehalten wurden, und es un­mög­lich gemacht, dass Haftar auf eigene Faust Öl verkauft. Für eine Wiederaufnahme der Exporte wären Reformen in der Füh­rungs­riege der Zentralbank die Voraus­setzung, die den Zugang zu Geldern neu regelten.

Solange eine solche Einigung ausbleibt, werden die finanziellen Probleme wachsen, sowohl für die Regierung in Tri­polis als auch für die mit Haftar assoziierte Regie­rung im Osten. Damit wird es für beide schwieriger, Söldner und Waffen zu be­zahlen oder ihre ausländischen Schutz­herren mit Geschäften im Erdölsektor zu belohnen. Russland und die Türkei stehen vor einem Dilemma: Ein politisches Abkom­men würde ihren Ein­fluss einschränken, ein eingefrorener Konflikt die Wirtschaftlichkeit ihrer Interventionen in Frage stellen.

Schließlich werden andere Mächte zu unterbinden suchen, dass Russland und die Türkei das Land unter sich aufteilen. Die VAE, Ägypten und Frankreich widersetzen sich dem, einerseits wegen ihrer Gegnerschaft zur Türkei, andererseits weil es ihren Einfluss auf Haftar zugunsten Russlands schmälern würde. Die USA sind über die Stationierung russischer Kampfflugzeuge beunruhigt und wollen verhindern, dass Russland feste Basen in Libyen etabliert. Die Spannungen zwischen diesen sechs Mäch­ten könnten die Konflikte in Libyen weiter befeuern. Zumindest aber werden sie die Aussichten auf einen politischen Prozess unter Führung der VN zunichtemachen.

Europa außen vor

Die Europäer schauten zu, wie der Krieg in Libyen wütete und ausländische Interventionen stetig zunahmen. Die wich­tigsten Gründe für ihre Untätigkeit waren: ihr Un­wille, Druck auf Ägypten und die VAE aus­zuüben; Frankreichs Politik, Haftar zu schüt­zen; die zunächst stillschwei­gende Unter­stützung der USA für Haftar; später ihr Des­interesse an dem Kon­flikt. Mangelnde Bereit­schaft, im Libyen­konflikt Hebel einzu­set­zen, prägte auch die deutsche Diplomatie.

Als Folge dieser Politik haben Russland und die Türkei das Vakuum gefüllt, wäh­rend die Europäer an Einfluss und Glaub­würdig­keit verloren haben. Nun sind sie nicht mehr in der Lage zu vermitteln oder die GNA zu drin­genden Reformen anzutreiben.

Jetzt, da die katastrophalen Konsequenzen europäischer Untätigkeit offenkundig sind und Haftar keine Chance mehr hat, die Macht zu ergreifen, ist ein Politikwechsel unabdingbar. Ein russisch-türkisches Kon­dominium ist nicht im Inter­esse Europas und würde auch nicht zur Wieder­vereini­gung Libyens führen. Doch eine Libyen­politik, die sich zugleich gegen die Türkei und Russland richtet, würde beide Staa­ten noch stärker zur Kooperation an­spornen.

Die obersten Ziele europäischer Politik sollten jetzt sein, die Einheit Libyens zu be­wahren und den russischen Einfluss zurück­zudrängen. Die Europäische Union (EU) kann diese Ziele nur verfolgen, wenn Frank­reich abrückt von seiner Toleranz für Russ­land und seiner Gegnerschaft gegenüber der Türkei. Die rus­sische Militärpräsenz in Liby­en ist eine weit grö­ßere Gefahr für Euro­pa als die türkische Intervention. Eine redu­zier­te rus­si­sche Präsenz würde auch die Ab­hängig­keit der GNA von türkischem Schutz ver­rin­gern. Das läge im Interesse jener EU-Staa­ten, die mit der Türkei über die See­rechte im östlichen Mittelmeer im Streit sind und der GNA daher ablehnend gegenüberstehen.

Militärische Mittel eignen sich für die EU wenig, um diese Ziele zu verfolgen; dafür man­gelt es ihr an Glaubwürdigkeit. Die Marine­mission Irini ist nicht in der Lage, Waf­fen­lieferungen zu unterbinden, kann aber zur Abschreckung gegen illegale Erdöl­exporte dienen – was entscheidend ist, um die Teilung Libyens zu vermeiden.

Die Hebel westlicher Staaten liegen vor allem im Bereich der Wirtschaft und dem Einsatz von Sanktionen. Sie sollten illegale Erdölexporte verhindern und auf Reformen in der Zentralbank hinarbeiten. Die Läh­mung des VN-Sicherheitsrats macht es nötig, stärker auf US- und EU-Sanktionen zu setzen, um gegen Verletzungen des Waffen­embar­gos und illegale Erdölgeschäfte vorzugehen.

Da Russland Haftar als Partner braucht, sollte die EU ihn durch Sanktionen schwä­chen. Gleichzeitig sollten west­liche Staaten ihr Interesse an einem stabi­len Libyen end­lich selbstbewusster gegen­über Ägypten und den VAE vertreten, um sie von der Ko­operation mit Russ­land abzubringen.

Dr. Wolfram Lacher ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Naher / Mittlerer Osten und Afrika.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2020

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ISSN 1611-6364

(Aktualisierte und ins Deutsche übersetzte Fassung von SWP Comment 25/2020)