Seit dem gewaltsamen Tod von Präsident Idris Déby im April 2021 versucht die herrschende Elite im Tschad, ihre Macht durch die dynastische Nachfolge seines Sohnes Mahamat zu sichern. Mit dem Beschluss von Oktober 2022, den Übergangsprozess um zwei Jahre zu verlängern und Mahamat Déby einstweilen zum Präsidenten zu ernennen, werden die Risiken dieser Bestrebungen deutlicher. Die Taktik, oppositionelle Eliten durch selektive Kooptation zu spalten, stößt mit dem Aufkommen populistischer Kräfte an ihre Grenzen. Sowohl in der Provinz als auch in der Hauptstadt heizen Macht- und Verteilungskämpfe eine Dynamik identitätspolitischer Konflikte an. Die Repression der zivilen Opposition durch das Regime spielt den Befürwortern eines bewaffneten Umsturzes in die Hände. Als Garant für Débys Überlegenheit gegenüber den Rebellen kommt Frankreich eine zunehmend unpopuläre Rolle zu.
Als der jahrzehntelang amtierende Präsident des Tschad, Idris Déby, während der Abwehr eines Angriffs von Rebellen, die aus Libyen eingedrungen waren, überraschend getötet wurde, reagierte Débys Militärelite geschlossen. Ein fünfzehnköpfiger Militärrat unter Führung seines Sohnes Mahamat übernahm die Macht, setzte die Verfassung außer Kraft und kündigte einen achtzehnmonatigen Übergangsprozess an, der mit Wahlen enden sollte.
Anders als andere Machtübernahmen afrikanischer Militärs in den letzten Jahren zog dieser Schritt keine internationalen Sanktionen nach sich. Die Afrikanische Union (AU), deren Kommissionspräsidenten Moussa Faki Ambitionen auf das Amt des tschadischen Präsidenten nachgesagt werden, stufte den Vorgang nicht als Staatsstreich ein. Sie drängte lediglich darauf, dass der Militärrat seinen Fahrplan und auch sein Versprechen einhalten solle, keines seiner Mitglieder – auch nicht Mahamat Déby – ins Rennen um die Präsidentschaftswahl zu schicken. Frankreich, das im Tschad eine große Militärpräsenz unterhält, stärkte Mahamat Déby demonstrativ den Rücken. Der französische Präsident Emmanuel Macron wollte dies gleichwohl als Unterstützung eines Übergangsprozesses, nicht aber einer dynastischen Nachfolge verstanden wissen. Die Europäische Union orientierte sich an den Positionen Frankreichs und der AU.
Achtzehn Monate später lässt sich der Schein einer Transition hin zu freien Wahlen nicht mehr aufrechterhalten. Anfang Oktober 2022 beschloss der vom Militärrat einberufene Nationale Dialog, den Übergangsprozess um zwei Jahre zu verlängern, den Militärrat aufzulösen, Mahamat Déby zum Interimspräsidenten zu ernennen und es ihm sowie den anderen Mitgliedern des Militärrats zu ermöglichen, sich zur Wahl zu stellen. Die Beschlüsse wurden verkündet, ohne dass sie zuvor den 1.400 Teilnehmern des Dialogs zur Abstimmung vorgelegt worden wären. Proteste von Teilen der Opposition wurden am 20. Oktober blutig niedergeschlagen. Damit endete eine Phase, die von gedämpfter Hoffnung auf eine politische Liberalisierung gekennzeichnet war. Offen bleibt aber, ob der Führungszirkel um Déby die offensichtlichen Bestrebungen, dessen Macht durch eine dynastische Nachfolge zu sichern, wird verwirklichen können.
Gesteuerte Transition
In der ersten Phase der Transition bis Oktober 2022 war es den Generälen um Déby gelungen, den Eindruck von Kompromissbereitschaft und Konsenssuche zu erwecken. Dies ließ viele kritische Stimmen vorübergehend verstummen. Déby verfolgte eine Politik der ausgestreckten Hand gegenüber Oppositionellen und ehemaligen Rebellenführern, die vor dem Regime seines Vaters ins Ausland geflüchtet waren. Einige kehrten ins Land zurück und wurden mit Ämtern belohnt, ohne die Macht der Kernelite in Frage zu stellen.
Dieser Ansatz prägte auch die Verhandlungen mit den bewaffneten Gruppen im Vorfeld des vom Militärrat vorgesehenen Nationalen Dialogs. Der von März bis August 2022 in Katar abgehaltene »Prä-Dialog« mit den Rebellen schloss mit einem Friedensabkommen mit 43 von insgesamt 52 Gruppen. Die Unterzeichner kehrten anschließend nach N‘Djamena zurück und erhielten teilweise Regierungsämter. Allerdings verfügten die wenigsten dieser sogenannten politico-militaires über Kämpfer, und viele befanden sich nicht einmal im Widerstand, sondern waren teilweise sogar aus N‘Djamena nach Katar gereist. In dem Abkommen stellte die tschadische Regierung eine Beteiligung an der Übergangsregierung und dem Übergangsrat in Aussicht sowie materielle Vorteile durch einen international finanzierten Prozess der Entwaffnung, Demobilisierung und Wiedereingliederung. Letzterer hat jedoch noch nicht begonnen, was bald zu Frustrationen unter den Unterzeichnern führen dürfte. Vor allem aber lehnte die Regierung substantiellere Forderungen ab, zum Beispiel die, Déby von den Wahlen auszuschließen oder die Armee grundlegend zu reformieren, um die Dominanz von Angehörigen der Zaghawa-Ethnie Débys in ihren Reihen zu brechen. Folglich weigerten sich mehrere Gruppen, das Abkommen zu unterschreiben – unter ihnen die einzigen beiden Organisationen mit nennenswerter militärischer Schlagkraft, die Front pour l’Alternance et la Concorde au Tchad (FACT) und der Conseil de Commandement Militaire pour le Salut de la République (CCMSR), sowie einige weniger bedeutende Gruppierungen.
Als ähnlich oberflächlich erwies sich der Nationale Dialog, der im August 2022 begann und Anfang Oktober abgeschlossen wurde. Von den rund 1.400 Teilnehmern wurde die überwiegende Mehrheit der Elite des Déby-Regimes zugerechnet. Die beiden wichtigsten Oppositionsgruppen boykottierten die Veranstaltung: die zivilgesellschaftliche Koalition Wakit Tamma (Die Zeit ist um) und die Partei Les Transformateurs von Succès Masra. Dennoch wurde die Debatte teilweise erstaunlich kontrovers geführt. Teilnehmer prangerten schlechte Regierungsführung an und forderten eine föderale Neuordnung des Staatswesens. Außer dem Versprechen, ein Referendum über die Staatsform – zentralistisch oder föderalistisch – abzuhalten, trugen die vom Vorsitz verabschiedeten Ergebnisse des Dialogs den Debatten der zurückliegenden Wochen allerdings kaum Rechnung. Abstimmungen fanden nicht statt. Zahlreiche Teilnehmer – darunter auch viele, die lange Jahre unter Idris Déby gedient hatten – zeigen sich mittlerweile desillusioniert über eine Veranstaltung, deren Resultat offenbar von vornherein festgestanden hat: es Mahamat Déby zu ermöglichen, sich an der Macht zu halten und zur Wahl zu stellen.
Auch die Mitte Oktober gebildete, sogenannte Einheitsregierung hielt noch die Fassade des Konsenses aufrecht. Vier politico-militaires, die das Abkommen in Katar unterzeichnet hatten, erhielten Ministerämter. Angeführt wird die Regierung von dem altgedienten Oppositionspolitiker Saleh Kebzabo.
Der Anschein von Inklusivität kann indes nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Wandel bestenfalls kosmetischer Natur ist. Den harten Kern des Regimes – Armee und Sicherheitsapparat – hält die von der Ethnie Zaghawa dominierte Militärelite fest im Griff. Diese stand an der Spitze jener Rebellion im Jahre 1990, die Idris Déby zur Machtübernahme verhalf. Insider berichten von Spannungen zwischen Déby jr. und den Generälen, die dessen selektive Kooptation ehemaliger Gegner mit Misstrauen verfolgen. Die Angst vor einem Machtverlust, der eine kollektive Vergeltung an den Zaghawa nach sich ziehen könnte, hemmt zwar die Zentrifugalkräfte unter den konkurrierenden Fraktionen. Doch um sich im Amt zu halten, muss Déby beweisen, dass die Herrschaft dieser Militärelite mit ihm gesichert ist – was seinen Handlungsspielraum stark einschränkt.
Die Kooptation einzelner Oppositioneller steht in Kontinuität mit dem Herrschaftsstil Idris Débys. Ämter in Regierung und Verwaltung werden immer wieder neu verteilt, die Dominanz der Kernelite aber bleibt konstant. Die nominelle Beteiligung von Opponenten verleiht dieser Herrschaft Legitimität; zugleich spaltet sie Oppositionsparteien und Rebellengruppen, deren Führer sich als käuflich erweisen und so an Glaubwürdigkeit einbüßen.
Ob dieses Modell die dynastische Machtübernahme sichern kann, ist fraglich. Bei gleichbleibenden staatlichen Ressourcen schafft die Einbindung zusätzlicher Akteure notgedrungen Unzufriedene unter den etablierten Eliten. Zudem haben sich die wichtigsten Oppositionskräfte bisher resistent gegenüber Kooptationsversuchen gezeigt.
Unter den zivilen Kräften sind dies die Transformateurs und Wakit Tamma. Bemühungen westlicher Diplomaten, eine Einbindung der Transformateurs zu erreichen, indem Succès Masras zum Premierminister einer Einheitsregierung ernannt wird, scheiterten an den Maximalforderungen Masras und dem Widerstand von Hardlinern in der militärischen Kernelite. Seitdem setzen die Transformateurs und Wakit Tamma auf den Druck der Straße und internationaler Akteure: Sie waren es, die die Proteste vom 20. Oktober organisierten, deren Niederschlagung sie nun zur weiteren Mobilisierung und zur internationalen Delegitimierung des Regimes zu nutzen versuchen. Allerdings flüchtete Masra nach dem 20. Oktober ins Ausland, und es bleibt abzuwarten, ob er auch von dort weiter Menschen auf die Straße bringen kann.
Auch unter den bewaffneten Oppositionskräften bleiben die wichtigsten unnachgiebig – insbesondere FACT. Dies liegt einerseits an den Forderungen der Organisation nach einer substantiellen politischen Öffnung des tschadischen Regierungssystems, andererseits daran, dass die Hindernisse für eine Aussöhnung mit FACT größer sind als mit anderen Gruppen: Idris Déby war während einer FACT-Offensive getötet worden, und das Regime hält zahlreiche Kämpfer der Gruppe gefangen. Während der Verhandlungen in Katar hatte FACT relativ versöhnliche Töne angeschlagen. Die Verlängerung des Übergangsprozesses und die gewaltsame Repression der Demonstrationen vom 20. Oktober dürften dagegen den Befürwortern des bewaffneten Kampfs unter den Rebellen in die Hände spielen.
Mobilisierungsdynamiken
Die politischen Bedingungen, die die erste Übergangsphase kennzeichneten und eine dynastische Nachfolge als gangbaren Weg erscheinen ließen, sollten nicht als gegeben betrachtet werden. Die vorsichtige Öffnung des politischen Raumes in dieser Phase hat Mobilisierungsdynamiken in Gang gesetzt, die schwer rückgängig zu machen sind und die Steuerung der weiteren Entwicklung schon bald erschweren könnten. Mehrere Faktoren der Übergangssituation begünstigen eine identitätspolitische Mobilisierung. Erstens ist in der tschadischen Öffentlichkeit seit dem Tod Idris Débys die Wahrnehmung entstanden, dass die staatliche Zentralmacht geschwächt ist. Zweitens hat die Transition grundlegende Fragen wie jene über die Staatsform aufgeworfen und die offene Diskussion darüber erleichtert. Drittens bringt sie eine Häufung von Verteilungskonflikten mit sich, wie sich an der Bildung von zwei Regierungen innerhalb von achtzehn Monaten oder an der Sitzverteilung im Prä-Dialog, im Übergangsrat und im Nationalen Dialog ablesen lässt. Viele der damit verbundenen Kontroversen drehen sich um die – vermeintlich oder tatsächlich – unzureichende Repräsentation einzelner Regionen und Bevölkerungsgruppen.
Zu den Dynamiken, die sich in der Transitionsphase entwickelt haben, gehört das neue Phänomen der Proteste. Seit der Gründung der Transformateurs 2018 und vor allem seit dem Tod Débys hat Succès Masra eine für den Tschad bisher außergewöhnliche Mobilisierungsfähigkeit bewiesen. Masra gelingt es, ärmere, marginalisierte Bevölkerungsteile, deren Zorn sich auf die Korruption und Misswirtschaft der herrschenden Eliten richtet, auf die Straße zu bringen. Allerdings handelt es sich bei denjenigen, die seinen Aufrufen folgen, vor allem um Bewohner jener Stadtviertel N’Djamenas, in denen südliche Bevölkerungsgruppen überwiegen, und einiger Städte der südlichen Provinz. Diese identitäre Dimension wird vom Regime, zunehmend aber auch von Masra selbst betont und droht eine alte Konfliktlinie wiederzubeleben. Dagegen hat Masra – der gute Beziehungen zu westlichen Botschaften unterhält – es bislang dezidiert vermieden, den weitverbreiteten Unmut über die französische Unterstützung für Mahamat Déby für seine Zwecke zu nutzen. Unter Beteiligung von Wakit Tamma kam es im Mai 2022 zu mehreren Demonstrationen mit dem Slogan »Frankreich raus«. Deren Teilnehmer rekrutierten sich nicht zuletzt aus der großen Gruppe der arabischsprachigen Hochschulabsolventen, die sich bei der Besetzung von Stellen in der Verwaltung benachteiligt sehen. Antifranzösische Positionen, die derzeit im frankophonen Afrika rapiden Zulauf erhalten, könnten im Tschad zukünftig noch wesentlich mehr Resonanz finden, als dies bisher der Fall war.
Identitätspolitisch aufgeladene Konflikte zeichnen sich auch bei zwei weiteren Themen ab. Erstens werden die Forderungen lauter nach dem Wechsel zu einem föderalen System. Zwar äußern sich mittlerweile auch Vertreter von Provinzen im Norden und Zentrum des Landes in diesem Sinne. Mit dem größten Nachdruck wird dieses Ziel jedoch im Süden artikuliert, wo die Perzeption politischer Marginalisierung durch ein von »nördlichen« Gruppen dominiertes Regime besonders ausgeprägt ist. Hinzu kommt hier eine tief im kollektiven Gedächtnis verankerte Erfahrung von Repression durch »nördlich« geprägte Armeen unter den Präsidenten Hissène Habré und Idris Déby. Auch das zweite Konfliktfeld lässt sich nur allzu leicht in das Schema eines vermeintlichen Nord-Süd-Antagonismus einpassen: die Auseinandersetzungen zwischen Viehzüchtern und Ackerbauern im Süden und Osten des Landes. Zu solchen Streitigkeiten kommt es zwar schon seit etwa zwei Jahrzehnten immer häufiger. In der öffentlichen Wahrnehmung haben Ausmaß und Frequenz aber seit dem Tod Débys zugenommen. Vertreter der Militär- und Regierungselite sind oft in diese Konflikte verwickelt, da sie Eigentümer großer Herden sind oder in Bodenbesitz investieren. Die Auseinandersetzungen treiben eine wechselseitige Dynamik der Bewaffnung an. Unter Ackerbauergemeinschaften befördern sie einen Diskurs, der arabische Viehzüchter als Ausländer und Neuankömmlinge stigmatisiert. Unter Letzteren greift dagegen die Ideologie arabischer Vorherrschaft um sich, die im benachbarten Darfur eine fatale Rolle gespielt hat. Die dortigen paramilitärischen Rapid Support Forces haben massiv unter tschadischen Arabergruppen rekrutiert.
Der Faktor Frankreich
Trotz der Dynamiken, die sich in der Übergangsphase entwickelt haben, befand sich die tschadische Führung bisher in einer relativ komfortablen Verhandlungsposition gegenüber der zivilen wie auch der bewaffneten Opposition. Dies ist vor allem auf zwei Faktoren zurückzuführen: die französische Militärpräsenz und den Mangel an Unterstützung tschadischer Rebellen durch andere Staaten.
Das französische Kontingent im Tschad kommt einer Sicherheitsgarantie für das Déby-Regime gleich. Im Februar 2019 bombardierten französische Kampfjets eine aus Libyen eingefallene Rebellenkolonne, als die tschadische Armee mit der Abwehr zögerte. Während des FACT-Angriffs 2021 leistete Frankreich Aufklärung und logistische Unterstützung, die entscheidend zur Niederlage der Rebellen beitrugen. Seit dem Tod Idris Débys hat Macron wiederholt versichert, dass Frankreich der »territorialen Integrität« des Tschad verpflichtet sei. Der Grund für diesen umfänglichen Beistand war in den letzten Jahren einerseits die Stationierung des Hauptquartiers der französischen Militäroperation Barkhane im Tschad, andererseits der wichtige Beitrag tschadischer Militäreinheiten zur VN-Operation MINUSMA in Mali. Seit dem Abzug französischer Truppen aus Mali dürfte in Paris die Befürchtung an erster Stelle stehen, die Aufkündigung der Sicherheitsgarantie könnte eine rapide Destabilisierung des Tschad selbst zur Folge haben. Das wiederum würde sich auf die gesamte Region auswirken – auch auf das Nachbarland Niger, einen wichtigen Partner Frankreichs und anderer westlicher Staaten.
Aufgrund dieser französischen Rolle war das Mobilisierungspotential für tschadische Rebellenbewegungen, die im benachbarten Libyen oder der Zentralafrikanischen Republik Zuflucht gesucht haben, seit dem Tod Débys begrenzt. Größeren Zulauf könnten die bewaffneten Gruppen sowohl dann bekommen, wenn die zivilpolitischen Spielräume begrenzt werden, als auch dadurch, dass sie ausländische Unterstützung erhalten. Für Letzteres käme etwa Russland in Frage, dessen Gruppe Wagner sowohl im Süden Libyens als auch in der Zentralafrikanischen Republik präsent ist. Dessen ungeachtet dürften beide Länder den tschadischen Rebellen aufgrund schwacher bzw. fehlender staatlicher Kontrolle weiter Rückzugsgebiete und Basen bieten.
Ausblick
Bislang war der innenpolitische Widerstand gegen eine dynastische Nachfolge nicht stark genug, um die tschadische Führung zu Verhandlungen zu zwingen und eine von oben gesteuerte Transition unmöglich zu machen. Auch von Seiten der AU und westlicher Staaten ging bisher kein nennenswerter Druck aus, um einen verhandelten Übergangsprozess in Gang zu bringen. Versuche des Regimes, neue Oppositionsbewegungen und politische Debatten durch Repression zu ersticken, könnten jedoch die weitere Mobilisierung vorantreiben. Damit verbunden droht eine identitätspolitische Polarisierung, die auch durch Konflikte in den Provinzen Auftrieb erhalten könnte. Eine solche Entwicklung könnte Verhandlungen schon bald unausweichlich machen, zugleich aber ihre Voraussetzungen verschlechtern. Ein entsprechendes Szenario wäre wahrscheinlich auch mit der weiteren Ausbreitung und Verhärtung antifranzösischer Positionen verknüpft. Denn die überwiegende Mehrheit der politischen Akteure sieht in der französischen Unterstützung der tschadischen Führung den Hauptgrund für deren Unnachgiebigkeit. So könnte die französische Militärpräsenz, obwohl sie den Tschad sicherheitspolitisch stabilisiert, über kurz oder lang politisch unhaltbar werden.
Doch auch ein alternatives Szenario, bei dem wachsender Druck von innen und außen die herrschende Elite zwingt, mit Oppositionskräften über eine substantielle Mitsprache zu verhandeln, wäre mit dem Risiko einer Destabilisierung verbunden. Eine verhandelte Transition würde zweifellos intensive Machtkämpfe auslösen – sowohl unter den etablierten Eliten als auch zwischen ihnen und den neuen populistischen Kräften. Das Potential für Mobilisierung und identitäre Polarisierung wäre noch größer. Eine fragile Machtteilung in N‘Djamena dürfte eine Schwächung der staatlichen Zentralmacht zur Folge haben, was eine Eskalation der Konflikte in den Provinzen nach sich ziehen könnte. Teile der Militärelite könnten auf einen drohenden Machtverlust mit einem Putsch reagieren und nach Alternativen für ausländische Unterstützung suchen, wobei auch in diesem Fall Russland naheliegen würde. Dass die Herrschaftselite die Macht ohne heftigen Widerstand abgibt, ist jedenfalls nicht zu erwarten.
Nicht nur aufgrund solcher Szenarien ist es unwahrscheinlich, dass Frankreich stärkeren Druck ausüben wird, um die tschadische Führung zu größeren Zugeständnissen gegenüber der Opposition zu bewegen. Auch die Erfahrung Frankreichs mit dem eigenen Einflussverlust in der Zentralafrikanischen Republik und Mali dürfte dem entgegenstehen. Drohungen mit einer Kürzung finanzieller oder militärischer Unterstützung, so das Pariser Kalkül, könnten Teile der Herrschaftselite in die Arme anderer Mächte – wie China oder Russland – treiben.
Dagegen wäre es sowohl im längerfristigen Interesse Deutschlands als auch im Sinne einer wertegeleiteten Außenpolitik, die deutsche Position stärker von der Politik Frankreichs abzugrenzen und auch auf europäischer Ebene für eine kritischere Haltung zu werben. Um Signale gegen eine Intensivierung der Repression zu senden, könnte etwa die Konditionierung europäischer Budgethilfe in Betracht gezogen werden. Die Reaktion internationaler Akteure spielt in den Erwägungen der tschadischen Führung, wie hart sie gegen die Opposition vorgehen kann, durchaus eine Rolle. Hier könnte Deutschland, im Verbund mit europäischen Partnern, deutlichere Akzente setzen, um weiteren Gewaltexzessen vorzubeugen.
Dr. Wolfram Lacher ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Afrika und Mittlerer Osten.
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DOI: 10.18449/2022A71