Die Organisation südostasiatischer Staaten ASEAN vermeidet eine deutliche Verurteilung der russischen Invasion in die Ukraine. Für Berlin und Brüssel ergeben sich trotzdem daraus Anknüpfungspunkte für Dialog und Kooperation, meinen Felix Heiduk und Gudrun Wacker.
Auch mehr als eine Woche nach dem russischen Angriff auf die Ukraine scheut die Organisation südostasiatischer Staaten ASEAN klare Worte. In einer gemeinsamen Erklärung haben die ASEAN-Außenminister Russland als Aggressor nicht einmal benannt, geschweige denn verurteilt. Sie fordern lediglich Dialog, Respekt für staatliche Souveränität und einen Waffenstillstand. Diese Reaktion war zu erwarten – und enttäuscht trotzdem. Denn die ASEAN ist zentraler Anker der deutschen und europäischen Indo-Pazifik-Strategie. Sie ist essentiell für die angestrebte Diversifizierung politischer und wirtschaftlicher Partner jenseits von China und wichtig für den Ausbau multilateraler Kooperation zur Aufrechterhaltung einer regelbasierten regionalen Ordnung. Bei näherer Betrachtung ergibt sich aber ein differenzierteres Bild, das Anknüpfungspunkte für deutsche und europäische Politik bietet.
Die ASEAN selbst betont stets die Bedeutung von friedlicher Konfliktbeilegung, territorialer Unversehrtheit, Souveränität und der regelbasierten internationalen Ordnung. Als dem Konsensprinzip verpflichtete intergouvernementale Organisation ist sie jedoch den häufig widersprüchlichen Interessen der Mitglieder unterworfen, was dann zu einer Position führt, die den kleinsten gemeinsamen Nenner repräsentiert.
So auch im Fall des Angriffs auf die Ukraine: In der Stellungnahme der ASEAN schlugen sich Faktoren nieder wie die historisch engen Beziehungen vor allem Vietnams zu Russland, die Rolle Russlands als Rüstungs- und Energielieferant für die Region oder die Hoffnung, durch engere Beziehungen zu Russland die zunehmende chinesische Dominanz in der Region ein Stück weit abzuschwächen, auch wenn Letzteres angesichts der engen Partnerschaft zwischen Moskau und Peking fragwürdig erscheint.
Die ASEAN dürfte sich gegenüber Russland auch weiterhin zurückhalten. Das Land ist im Gegensatz zur Ukraine etablierter ASEAN-Dialogpartner und Mitglied in multilateralen Formaten wie dem East Asia Summit (EAS), dem ASEAN Regionalforum (ARF) und auch der Wirtschaftsorganisation APEC. Außerdem hat Indonesien in diesem Jahr den Vorsitz der G20, an der Russland ebenfalls beteiligt ist.
Die Bandbreite an Positionen innerhalb der ASEAN zeigt sich am Abstimmungsverhalten ihrer Mitglieder über die Ukraine-Resolution in der VN-Generalversammlung: Nur Vietnam und Laos enthielten sich der Stimme, alle anderen aber schlossen sich der Resolution an. Ein Sonderfall ist Myanmar, dessen Junta offen Russlands Angriffskrieg unterstützt, da Russland sie nach ihrem Putsch international anerkannte. Myanmars VN-Botschafter – ein erklärter Gegner des Militärputsches in seinem Land, aber nach wie vor bei den VN akkreditiert – stimmte ebenfalls für die Resolution. Staaten wie Indonesien und die Philippinen verurteilten (nach anfänglichem Zögern) Russlands Vorgehen ebenfalls. Singapur ist noch weiter gegangen und hat als bislang einziges ASEAN-Mitglied unilateral Sanktionen gegen Russland verhängt.
Wie können Berlin und Brüssel mit dieser Gemengelage umgehen? Zunächst sollten sie ASEAN trotz oder gerade wegen ihrer Zurückhaltung und Neutralität nicht aufgegeben. Schließlich führt das Konsensprinzip in außen- und sicherheitspolitischen Fragen auch in der EU oft genug zu schwachen Statements. Sie sollten sowohl die Kanäle zu ASEAN als auch zu einzelnen Mitgliedstaaten für eine Auseinandersetzung über die möglichen Auswirkungen der russischen Intervention auf die internationale Ordnung nutzen.
Wie das Beispiel Singapurs zeigt, erweist sich in Südostasien und im Indo-Pazifik allgemein das von den USA vorgetragene Narrativ, dass sich die Welt im ultimativen Kampf zwischen Demokratien und Autokratien befinde, angesichts der politischen Wirklichkeit in der Region nicht als zielführend. Schlimmstenfalls kann es schädlich sein, wenn damit potentielle Gleichgesinnte, weil von ähnlichen Interessen geleitete Partner, durch ein solches Schwarz-Weiß-Schema ausgeschlossen werden: Auch Staaten, die nicht als Demokratien in der »transatlantischen« Definition gelten, können ein Interesse an einer regelbasierten Ordnung haben, in der eben nicht das Recht des Stärkeren gilt. Überdies haben Störungen der Weltwirtschaft auch Auswirkungen auf Südostasien – zum Beispiel in Bereichen wie Energiesicherheit durch steigende Ölpreise oder der Ernährungssicherheit durch verringerte Getreideausfuhren aus der Ukraine.
Das Abstimmungsverhalten der ASEAN-Staaten in den VN zeigt, dass es eine Basis geteilter Interessen gibt, wenn auch nicht in jedem Fall gemeinsamer Werte. Schließlich handelt es sich überwiegend um kleine und mittlere Staaten, die selbst in unterschiedlichem Maße wachsendem Druck, Drohungen und Einschüchterungsversuchen seitens einer Großmacht, nämlich China, ausgesetzt sind, sich gleichzeitig aber in einer vor allem wirtschaftlichen Abhängigkeit sehen. Da selbst in Staaten wie Vietnam die Notlage in der Ukraine mittlerweile thematisiert wird, kann zumindest auf humanitärer Ebene eine Zusammenarbeit angestrebt werden. Das wäre wichtig, um zum einen die zentrale Rolle aller ASEAN-Staaten für die Indo-Pazifik-Politik Europas zu unterstreichen. Zum anderen hätte es auch symbolische Bedeutung, da es die enge Bindung an Russland in der Ukraine-Krise partiell aufweicht. Mit anderen Staaten, wie beispielsweise Singapur oder auch dem G20-Gastgeber Indonesien, könnte die Kooperation auf diplomatischer Ebene intensiviert werden. Auch über ein EU-ASEAN-Sondertreffen auf Ministerebene zu den politischen, wirtschaftlichen und humanitären Folgen des Kriegs in der Ukraine sollte nachgedacht werden. Deutschland und die EU sollten die Invasion Russlands in der eigenen Nachbarschaft nicht zum Anlass nehmen, ihre Aufmerksamkeit wieder vom Indo-Pazifik abzuwenden, sondern dies als Möglichkeit für verstärkten Austausch und Kooperation mit den Staaten der Region einschließlich der ASEAN-Mitglieder sehen. Dabei müssen sie die bestehenden Unterschiede in der Region berücksichtigen, was ein flexibles statt uniformes Vorgehen erfordert.
Der Indopazifik spielt geopolitisch eine immer größere Rolle. Welche wirtschaftlichen, sicherheitspolitischen und ordnungspolitischen Interessen haben die Europäer in der Region? Darüber spricht Dominik Schottner mit Angela Stanzel und Felix Heiduk.
Beitrag zu einer Sammelstudie 2021/S 15, 30.09.2021, 134 Seiten, S. 127–130
Sicherheitspolitische Umsetzung der Indo-Pazifik-Leitlinien
doi:10.18449/2021A29
Bedeutung, Umsetzung und Herausforderung
doi:10.18449/2020S09