Die »Takfiristen« sind eine stark sektenartige Strömung des Jihadismus, deren Anhänger glauben, dass fast alle Muslime außer ihnen selbst ungläubig sind. Aufgrund ihrer geringen Zahl hatten viele von ihnen die Hoffnung aufgegeben, einen erfolgreichen »Jihad« gegen die Feinde des Islam führen zu können. Dies änderte sich mit der Ausrufung des Islamischen Staates (IS) im Juni 2014, als viele Takfiristen aus Europa, den Kaukasusländern, Saudi-Arabien und Nordafrika nach Syrien und in den Irak zogen und sich dem IS anschlossen – während andere diesen Schritt ablehnten, auf den bewaffneten Kampf verzichteten und in ihren Heimatländern blieben. Seitdem stellt sich die Frage nach der Gefährlichkeit der Takfiristen erneut. Der Anschlag in Wien am 2. November 2020 hat der Debatte neue Nahrung verschafft, denn der Attentäter verkehrte vor seinem Ausreiseversuch nach Syrien im Jahr 2018 in einer takfiristischen Moschee in der österreichischen Hauptstadt. Er ist das jüngste Beispiel dafür, dass die Takfiristen ein integraler Bestandteil der jihadistischen Bewegung sind und eine teils unterschätzte Gefahr darstellen.
Am 2. November 2020 verübte der österreichisch-nordmazedonische Doppelstaatler und ethnische Albaner Kujtim Fejzulai den bisher einzigen jihadistischen Anschlag in der österreichischen Hauptstadt. Mit einem Sturmgewehr und einer Pistole bewaffnet streifte er durch ein Ausgehviertel in der Wiener Innenstadt, tötete vier und verletzte 23 Menschen, bevor er selbst von der Polizei erschossen wurde. Fejzulai war erst im Dezember 2019 aus der Haft entlassen worden. Im September 2018 war er in die Türkei geflogen, um von dort aus nach Syrien zu reisen und sich dem IS anzuschließen. Doch türkische Sicherheitskräfte griffen ihn auf und schoben ihn nach Österreich ab, wo er im April 2019 zu 22 Monaten Haft verurteilt wurde, nach acht Monaten aber schon wieder freikam. In den Monaten vor seiner Ausreise hatte Fejzulai häufig die Melit-Ibrahim-Moschee besucht, die als wichtiger Treffpunkt der Wiener Takfiristen galt.
Die Geschichte der Takfiristen
Das arabische Nomen »takfir« heißt wörtlich »Für-ungläubig-Erklären« und kann auch als »Exkommunizierung« übersetzt werden. In der jihadistischen Bewegung gibt es schon seit den 1970er Jahren heftige Debatten über die Frage, unter welchen Bedingungen Muslime zu Ungläubigen (arabisch kafir, Plural kuffar) erklärt, also mit dem »takfir« belegt werden dürfen.
Historische Vorläufer
Während die Anhänger der sunnitischen Orthodoxie üblicherweise sehr zurückhaltend in dieser Praxis sind, nutzen Jihadisten den takfir häufig, um so ihre Gewalt gegen Muslime zu rechtfertigen. Jedoch gibt es unter den Jihadisten große Unterschiede.
Eher politisch-pragmatische Organisationen wie al‑Qaida beschränken sich meist darauf, die autoritären Regierungen in Ländern wie Ägypten oder Saudi-Arabien als Ungläubige zu kategorisieren, um auf diese Weise ihren »Jihad« gegen diese Regime religiös zu legitimieren. Doch schon in den 1970er Jahren entstand in Ägypten eine Gruppe namens »Gemeinschaft der Muslime« (Jama‘at al-Muslimin), die so weit ging, nicht nur die eigene Regierung, sondern die gesamte ägyptische Gesellschaft mit dem »takfir« zu belegen. Bei ihren Gegnern hieß sie »Jama‘at al-Takfir wa-l-Hijra« (»Gemeinschaft der Exkommunikation und Auswanderung«). Teile der Gruppe zogen sich aus der Gesellschaft zurück und versuchten, ihre Kontakte mit der (»ungläubigen«) Umgebung auf ein absolutes Minimum zu reduzieren. Dennoch geriet sie in Konflikt mit dem ägyptischen Staat, als sie 1976 gegen Abweichler vorging. Die Polizei verhaftete einige Mitglieder und schrieb ihren Anführer Shukri Mustafa (1942–1978) zur Fahndung aus. Im Juli 1977 reagierte die Gruppe mit der Ermordung des Religionsgelehrten und früheren Ministers Muhammad al-Dhahabi, woraufhin die Sicherheitsbehörden sie zerschlugen und Mustafa hingerichtet wurde.
Im jihadistischen Milieu der nächsten Jahrzehnte eiferten zahlreiche religiöse Vordenker und Einzelgruppen dem Vorbild der Jama‘at al-Takfir wa-l-Hijra nach. Dass diese von vielen Beobachtern oft nur am Rande wahrgenommen wurden, hatte viel mit der ab 1998 wachsenden Prominenz von al-Qaida zu tun, die mit ihren Anschlägen auf US-amerikanische Ziele öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zog, mit der ausufernden Exkommunizierung großer Massen von sunnitischen Muslimen aber nie viel anfangen konnte. Die Prominenz al-Qaidas verdeckte so, dass es schon seit der zweiten Hälfte der 1980er Jahre unter den arabischen Afghanistankämpfern eine starke Strömung gab, die eine sehr viel radikalere Position vertrat. Wie sehr sich diese von der der al-Qaida unterschied, zeigte sich beispielsweise an ihrer kritischen Haltung gegenüber den Taliban, die ihren Vertretern als nicht ausreichend islamkonform galten – wohingegen Bin Laden und seine Gefolgsleute mit den Afghanen ein Bündnis knüpften, das bis heute Bestand hat.
Wie einflussreich die takfiristische Strömung in der jihadistischen Bewegung damals wurde, lässt sich etwa am Wirken der algerischen Bewaffneten Islamischen Gruppe (Groupe Islamique Armé, GIA) ablesen, die – mit dem Argument, es (be)treffe Ungläubige – Mitte der 1990er Jahre brutale Gewalttaten gegen die Zivilbevölkerung in ihren Operationsgebieten verübte.
Die zeitgenössischen Takfiristen
Die zeitgenössische Takfiristenszene ist in den Jahren nach dem Beginn des Irakkriegs 2003 entstanden. Die ersten Takfiristen gehörten ursprünglich zu den Anhängern des Palästinensers Abu Muhammad al-Maqdisi (geboren 1959), der mit einer Neuinterpretation des Konzepts von der »Loyalität (gegenüber Gott und den Muslimen) und der Lossagung (vom Unglauben und seinen Anhängern)« (al-wala’ wa-l-bara’) zum wichtigsten jihadistischen Vordenker überhaupt wurde. Im Kern handelt es sich dabei um die religiöse Rechtfertigung für die Abgrenzung der Jihadisten von ihrer Umwelt und den Kampf gegen die nominell islamischen Regime in der arabischen Welt. Die Anhänger Maqdisis legten seine Lehre allerdings sehr unterschiedlich aus.
Unter der Führung ihres kuwaitischen Vordenkers Abd al-Rahman al-Mikhlif (alias Abu Mariam) gingen die Takfiristen einen Schritt weiter als Maqdisi, indem sie dem Beispiel Shukri Mustafas und seiner Anhänger folgten und bei allen andersdenkenden Muslimen Anzeichen von Unglauben entdeckten. In der religiösen Theorie beriefen sie sich vor allem auf den Begründer des Wahhabismus, Muhammad Ibn Abd al-Wahhab (gestorben 1792), und seine Schüler und Nachkommen, die die ideologische Grundlage für den saudi-arabischen Staat schufen, einen äußerst strikten Monotheismus (tauhid) propagierten und häufig dessen Gegenteil, die Vielgötterei (shirk), am Werk sahen.
Wie die Wahhabiten bemerken die Takfiristen überall besonders schwere Fälle von Vielgötterei, die einen Muslim ihrer Ansicht nach zum Ungläubigen machen. Ein Objekt der Verehrung, das nicht Gott ist, nennen sie »taghut«, was meist als »Götze« oder »falsche Gottheit« übersetzt wird. Doch erweitern die Takfiristen die ursprüngliche Bedeutung des Wortes und subsumieren alles, was den modernen Staat ausmacht, unter dem »taghut«-Begriff. »Taghut« sind demnach nicht mehr nur die konkreten Objekte der Verehrung wie etwa Heilige und ihre Gräber, der Teufel oder ein Jinn (Geist), sondern auch Staaten und ihre Vertreter wie Polizei, Gerichte und der gesamte öffentliche Dienst, hinzu kommen politische Systeme und Ideologien wie Demokratie, Kommunismus oder Atheismus, mitsamt allen ihren Vertretern. Wer sich mit diesen Kräften einlässt, so die Lehre der Takfiristen, wird zum Ungläubigen. Schon ein solch einfacher Akt wie das Wählen in einer Demokratie ist mit dem wahren Islam aus ihrer Sicht nicht zu vereinbaren.
Takfiristen zeichnen sich dadurch aus, dass sie keine oder nur sehr wenige »Entschuldigungsgründe« (mawani’ at-takfir) für vermeintlichen Unglauben akzeptieren. Diese werden von weniger radikalen Salafisten oft vorgebracht, um die Exkommunizierung von Muslimen zu vermeiden. Stark verbreitet ist der Verweis auf Unwissenheit (jahl) oder eine Notlage (ikrah), die ihrer Ansicht nach eine Exkommunizierung verhindern. Insbesondere die Debatte über Unwissenheit und deren Folgen ist in takfiristischen Kreisen allgegenwärtig; das wichtigste Merkmal der Takfiristen ist, dass sie Unglauben nicht entschuldigen. Dabei geht es in einem zweiten Schritt nicht mehr nur um die Entschuldigungsgründe, sondern auch den »Entschuldiger«. Denn derjenige, so die Takfiristen, der offenkundigen Unglauben aus den genannten Gründen entschuldigt, ist ebenfalls ein Ungläubiger.
Diese Haltung führt zu teils kuriosen, wenn auch in sich strikt logischen Schlussfolgerungen. Viele Takfiristen glauben nämlich, dass selbst Usama Bin Laden (1957–2011) ein Ungläubiger war. Sie bemängeln zum Beispiel, dass der al-Qaida-Chef die palästinensische Hamas nicht mit dem takfir belegt hat, obwohl diese an Wahlen teilgenommen und kurzzeitig mit der säkularen Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) koaliert hatte. Wer aber die offenkundig und unzweifelhaft ungläubige Hamas nicht als solche bezeichne, meinen die Takfiristen, müsse selbst ungläubig sein. In der Praxis gelten den Takfiristen deshalb sogar Organisationen wie al‑Qaida, ihre Führer und Kämpfer als Ungläubige.
Die logische Konsequenz solch doktrinärer Radikalität war paradoxerweise oft eine faktische Abkehr von der Militanz. Denn heutzutage, argumentieren viele Takfiristen, gebe es so wenige wahre Muslime, dass der Jihad nicht erfolgreich geführt werden könne. Auf diese Weise wird der bewaffnete Kampf zurückgestellt, ihm geht eine Missionierungsphase voraus, die erst ende, wenn die Muslime zu alter Stärke gefunden haben. Wann dies der Fall ist bzw. sein wird, sagen die Takfiristen in der Regel nicht; somit war (und ist) auch bei ihnen immer zu befürchten, dass sie gewalttätig werden könnten. Überdies sprechen sie häufig von »islamischem Gebiet« (dar al-islam) und einem »islamischen Staat«, den es heute noch nicht gebe, den zu schaffen aber auch ihr Fernziel sei und der dann – so zumindest die logische Schlussfolgerung – gleichfalls den Jihad gegen die Feinde des Islam aufnehmen werde.
Der Islamische Staat und die Takfiristen
Als im Juni 2014 der Islamische Staat (IS) ausgerufen wurde und Abu Bakr al‑Baghdadi sich zum Kalifen ernannte, weckte dies in Teilen der takfiristischen Szene große Hoffnungen. Der IS ist zwar keine takfiristische Organisation (selbst wenn seine nahöstlichen Gegner das gerne behaupten), aber doch eine, die dem Takfirismus weltanschaulich sehr nahesteht. Das zeigt sich unter anderem daran, dass der IS sich ebenso wie die Takfiristen ideologisch an den saudi-arabischen Wahhabiten und ihren Lehren orientiert und besonders viele Muslime für ungläubig hält.
Der Grund für die Nähe ist, dass der IS, wie der Takfirismus, seine jüngeren Wurzeln in derjenigen Jihadismusschule hat, die sich unter den arabischen Afghanistankämpfern Ende der 1980er Jahre verbreitete und eine radikalere Alternative zu al‑Qaida bildete. Während Letztere viel von dem politischen Pragmatismus der Muslimbrüder übernommen hatte, dominierte bei den Vorläufern des IS und der Takfiristen die in Religions- und Weltanschauungsfragen kompromisslose Rigidität der saudi-arabischen Wahhabiten. Darüber hinaus teilten sie die Begeisterung für die Ideen von Abu Muhammad al-Maqdisi, der im Jordanien der frühen 1990er Jahre ein enger Weggefährte und religiös-ideologischer Mentor des IS-Gründers Abu Mus‘ab al-Zarqawi gewesen war. Doch als dieser 2003 den bewaffneten Kampf gegen die amerikanischen Besatzungstruppen und ihre lokalen Verbündeten im Irak aufnahm, traten bald Unterschiede zutage, die zum Bruch zwischen beiden führten. Selbst für Maqdisi war Zarqawi zu unnachgiebig und brutal in seinem Umgang mit Muslimen, die sich ihm widersetzten. Für die Takfiristen waren es aber gerade die Punkte, bei denen Zarqawi und seine Gefolgsleute radikalere Positionen als al-Qaida vertraten, die ihn und den IS als die bessere Alternative erscheinen ließen.
Über die weltanschaulichen Unterschiede zwischen Zarqawi und al‑Qaida täuscht die Tatsache etwas hinweg, dass Zarqawi sich im Oktober 2004 öffentlichkeitswirksam zu Bin Laden bekannte und seine Gruppe fortan al‑Qaida in Mesopotamien (al‑Qaida fi Bilad al‑Rafidain) hieß. Doch brachen in den Jahren nach 2004 gravierende Meinungsverschiedenheiten auf. An der Oberfläche ging es um die Strategie. So versuchte al-Qaida sehr pragmatisch, sich auf den Kampf gegen die USA zu konzentrieren und die eigenen Erfolgschancen durch Bündnisse mit ähnlich gesinnten Gruppierungen wie den Taliban zu steigern. Die irakische al-Qaida (al‑Qaida in Mesopotamien, aus der später der IS hervorging) bekämpfte hingegen ein sehr viel breiteres Spektrum an Feinden, oft ohne Rücksicht auf die militärischen Folgen. Drei Aspekte waren in den Jahren ab 2004 besonders umstritten:
Antischiitische Gewalt: Die irakische al‑Qaida verübte seit 2003 zahlreiche Anschläge auf Schiiten, die häufig auch Zivilisten galten. Zwar sind sich alle Jihadisten einig, dass es sich bei den Schiiten um Ungläubige handelt, aber die al‑Qaida-Führung glaubte, der Kampf gegen sie müsse hinter dem gegen die USA zurückstehen. Sie wollte sich nicht mehr Feinde als nötig machen und vor allem den schiitischen Iran nicht provozieren, so dass der Bin-Laden-Vize Aiman al‑Zawahiri 2005 einen berühmten Brief an Zarqawi schrieb, in dem er ihn zur Mäßigung aufforderte. Zawahiri argumentierte jedoch nicht nur politisch, sondern auch religiös-ideologisch, indem er erklärte, unwissenden schiitischen Zivilisten müsse zunächst der wahre Glaube verkündet werden – er entschuldigte also den Unglauben der Schiiten. Zarqawi und seine Anhänger hielten dem entgegen, alle Schiiten seien Ungläubige, die getötet werden müssten. Die Mahnungen der al-Qaida-Führung wurden im Irak ignoriert und brutale antischiitische Gewalt zu einem Markenzeichen der irakischen Organisation.
Alleiniger Vertreter der Sunniten: Al‑Qaida geht immer wieder Bündnisse mit Organisationen ein, deren Ziele mit den ihren kompatibel sind. In Afghanistan hat sie sich den Taliban sogar untergeordnet, um die eigenen Überlebens- und Erfolgschancen zu vergrößern. Zarqawi und die irakische al‑Qaida dagegen begannen spätestens 2006, konkurrierende sunnitische Aufständische zu bekämpfen und ihre Unterwerfung zu fordern. Dies wurde offizielles Programm, als sich die Organisation im Oktober 2006 in »Islamischer Staat im Irak« (ISI) umbenannte. Mit dem Argument, es könne nur einen »islamischen Staat« und einen »Befehlshaber der Gläubigen« (Amir al‑Mu’minin, so der damalige Titel des ISI-Anführers) geben, setzten sie sich tatsächlich an die Spitze des Aufstands, der aber an Stärke verlor, weil viele Rebellen den bewaffneten Kampf aufgaben.
Exkommunizierung (takfir): Al‑Qaida zielte stets darauf ab, sich als kämpfende Avantgarde an die Spitze einer Massenbewegung zu stellen und die Macht in arabischen Staaten zu übernehmen. Aus diesem Grund ist sie sehr zurückhaltend, wenn es darum geht, sunnitische Muslime zu exkommunizieren. Ihr Bann trifft vielmehr die Regierungen arabischer und muslimischer Länder und darüber hinaus Angehörige der Armee und der Sicherheitskräfte, sofern diese aktiv für deren Machterhalt sorgen. Der IS zeigt sich auch hier deutlich radikaler und rücksichtsloser, indem er sunnitische Muslime, die sich ihm nicht anschließen oder unterwerfen, schnell als »Ungläubige« bezeichnet. Gleichzeitig kennt er diesbezüglich Grenzen, denn er ging im Irak, in Syrien und anderswo nie so weit, ganze sunnitische Bevölkerungen mit dem takfir zu belegen. Dies ist der wichtigste Unterschied zu den Takfiristen. Trotz dieses Unterschieds überzeugten die offenkundigen Gemeinsamkeiten – ein ausgeprägter Schiitenhass, ein Alleinvertretungsanspruch unter Sunniten, die Exkommunizierung von viel mehr Sunniten als bei anderen Gruppierungen üblich – viele Takfiristen, dass der IS ein wahrer islamischer Staat sein könne.
Sie übersahen dabei, dass der IS trotz aller Kompromisslosigkeit mehr Pragmatismus an den Tag legte als sie. Es scheint das Ziel des IS gewesen zu sein, ungeachtet aller weltanschaulichen Radikalität für möglichst viele Jihadisten attraktiv zu bleiben. So vermied er es, die al-Qaida-Führung um Aiman al-Zawahiri und damit auch die Angehörigen dieser Organisation zu exkommunizieren. Gleichzeitig nahm er takfiristische Kämpfer auf, die der Meinung waren, die gesamte sunnitische Bevölkerung in Syrien (und anderen Ländern) sei, ebenso wie die al‑Qaida-Führung, ungläubig. Diese Meinungsunterschiede mussten in Konflikten münden.
Die Takfiristen im Islamischen Staat ab 2014
Als im Juni 2014 das Kalifat ausgerufen wurde, zeigte sich auch in der Praxis, wie nahe viele Takfiristen dem IS standen. Hunderte, vielleicht Tausende Takfiristen in der arabischen Welt, den Kaukasusländern und in Europa glaubten, dass es sich um den idealen »islamischen Staat« handele, von dem ihre Vordenker gesprochen hatten und in den ein wahrer Muslim verpflichtet sei auszureisen.
Diejenigen Takfiristen, die sich 2014 dem IS zuwandten, orientierten sich an den Lehren des saudi-arabischen Predigers Ahmad al-Hazimi, der für den Anschluss an den IS warb, obwohl er selbst in Saudi-Arabien blieb, wo er im April 2015 verhaftet wurde. Beim IS wurde Abu Umar al-Kuwaiti sein einflussreichster Vertreter, man sprach in jihadistischen Kreisen vom »Hazimi-Trend« (Tayyar al-Hazimi). Die Aufnahme Kuwaitis und seiner Anhänger beim IS scheint anfangs unproblematisch gewesen zu sein, denn die Organisation verhielt sich unduldsam gegenüber »Ungläubigen« aller Art, darunter auch vielen Sunniten, die sich gegen den IS stellten. Außerdem bemühte sich der IS, eine Gesellschaft aufzubauen, die sich stark an dem orientierte, was Muhammad Ibn Abd al-Wahhab und seine Nachkommen in Saudi-Arabien seit dem 18. Jahrhundert errichtet hatten. Nichtsunnitische Moscheen und Heiligengräber wurden zerstört, die als »Ungläubige« kategorisierten Schiiten und Alawiten wurden getötet, wahhabitische Verhaltens- und Kleidervorschriften rigoros durchgesetzt. Eine »Hisba« genannte Religionspolizei kontrollierte die Einhaltung der strikten Regeln.
Die kommenden Probleme kündigten sich aber schon früh an. Der wichtigste Grund hierfür war zunächst, dass Abu Umar al-Kuwaiti und seine Gefolgsleute auch die Mehrheit der sunnitischen Bevölkerung Syriens für Ungläubige hielten. Bereits 2013 wurden Berichte über die Schreckensherrschaft einer takfiristischen Kampfgruppe in der nordwestsyrischen Provinz Idlib publik. Ihr dagestanischer Kommandeur Magomed Abdurachmanow (alias Abu al-Banat) hatte die örtliche Bevölkerung so brutal drangsaliert, dass er vor seinen Vorgesetzten in einer kaukasischen Einheit in die Türkei flüchtete; später wechselte diese Einheit zum IS über. Die Mehrzahl der Takfiristen jedoch – die unter Jihadisten aus Dagestan und Aserbaidschan besonders stark vertreten waren – blieb integraler Bestandteil des entstehenden IS. Sie bildeten ganze Kampfgruppen wie beispielsweise die dagestanische »Katibat al-Muwahiddin« (»Monotheisten-Bataillon«), die wegen ihres religiösen Fanatismus und ihrer militärischen Erfahrung zu den Elitetruppen des entstehenden Kalifats zählten.
Der Konflikt zwischen dem »Hazimi-Trend« und seinen Gegnern brach kurz nach der Ausrufung des Kalifats aus. Anlass war die Forderung Abu Umar al-Kuwaitis, Abu Bakr al-Baghdadi solle den al-Qaida-Führer Aiman al-Zawahiri exkommunizieren, weil dieser die Schiiten nicht als Ungläubige betrachte und Unwissen als Entschuldigungsgrund für Unglauben ansehe. Als die IS-Führung der aus Sicht der Takfiristen zwingenden Forderung nicht nachkam, gingen diese dazu über, auch Baghdadi mit dem takfir zu belegen. Dies war zwar ideologisch konsequent, aber doch gefährlich für Anhänger des Takfirismus, die sich im Gebiet des IS aufhielten.
Mitte August 2014 wurden Abu Umar al‑Kuwaiti und mehrere prominente takfiristische Prediger unter dem Vorwurf inhaftiert, dass sie den takfir übertrieben hätten (»al-ghuluw fi at-takfir«). Es folgte eine regelrechte Säuberungswelle gegen die »Übertreiber« – wie die Takfiristen im IS-Jargon nun hießen –, die bis mindestens 2015 andauerte und auch in den Jahren danach Opfer forderte. Die Anführer der takfiristischen Bewegung im IS und eine bislang unbekannte Zahl ihrer Anhänger wurden hingerichtet, andere wurden inhaftiert und auf ihre Linientreue überprüft. Wenn sie ihren Ideen abschworen, wurden sie wieder freigelassen und in die Organisation reintegriert. In den takfiristischen Gemeinden in Europa machte sich Ernüchterung breit, viele riefen ihre Anhänger auf, den IS zu verlassen. Andere Takfiristen wiederum reisten nach Beginn der Verfolgungswelle aus in Richtung Syrien und schlossen sich dem IS an.
Takfiristen in Österreich
Die Ausrufung des Islamischen Staates im Juni 2014 führte zur Spaltung der takfiristischen Gemeinden in Europa zwischen denjenigen, die nun argumentierten, die Ausreise (hijra) nach Syrien und in den Irak sei die Pflicht jedes Muslims, und denjenigen, die in der Neugründung keinen legitimen islamischen Staat sahen und weiter abwarten wollten. Am deutlichsten waren die Spannungen in Österreich, wo die größte europäische Takfiristenszene beheimatet ist.
Die Schlüsselfiguren in der Debatte waren die Prediger Nedzad B. (alias Ebu Muhammed) und Farhad Q. (alias Abu Hamza al-Afghani), die in dem Jahrzehnt zuvor Wien zum intellektuellen Zentrum der bosnisch- und deutschsprachigen Takfiristen gemacht hatten. Beide gehörten 2004/2005 zum Umfeld der Sahaba-Moschee im 7. Wiener Bezirk, die sich zu einem entscheidenden Nukleus des deutschsprachigen Jihadismus entwickelte. In ihrem Umfeld wurden damals die ersten deutschen Übersetzungen der Werke von Abu Muhammad al-Maqdisi gefertigt, die den deutschsprachigen Jihadisten das ideologische Rüstzeug verschafften, das bis dahin nur auf Arabisch vorgelegen hatte. Doch lösten sich Ebu Muhammed und Abu Hamza rasch von den Wiener Jihadisten und vertraten ab 2006/2007 das takfiristische Gedankengut Abd al-Rahman al-Mikhlifs.
Der Bosnier Nedzad B. galt schon früh als Takfirist, der den Jihadisten weiterhin nahestand. Trotz seiner Jugend (er wurde 1975 geboren) wurde er zu einem vor allem unter bosnischsprachigen jungen Leuten prominenten Prediger, der von Wien aus bis nach Bosnien ausstrahlte. Dazu trug auch sein Studium in den Jahren 2000/2001 an der Islamischen Universität von Medina bei, der für die Takfiristen ebenso wie für viele andere Salafisten wichtigsten Ausbildungsstätte überhaupt. Dass Ebu Muhammed als eher gewaltaffin eingeschätzt wurde, ging in erster Linie auf Hinweise zurück, es gebe einen Zusammenhang zwischen seiner Predigertätigkeit und Gewalttaten in Ex-Jugoslawien. Desgleichen kann die anhaltende Bedeutung der Lehren Maqdisis (der sich nie vom Jihadismus abwandte) für Ebu Muhammed als Zeichen in diese Richtung gewertet werden. Dass dessen spätere Moschee in Wien als Melit-Ibrahim-Moschee bekannt war, wies ebenfalls in Richtung Jihadismus. Denn als »Millat Ibrahim« (dies eine andere Schreibweise) oder »Gemeinschaft Abrahams« bezeichnete Maqdisi in einem seiner Hauptwerke die jihadistische Bewegung.
Der afghanischstämmige Österreicher Farhad Q. (geboren 1977) gilt bis heute als der weniger gewaltaffine Takfirist, der zumindest nach außen hin auch den IS ablehnte. Er gab zunächst vornehmlich die Ideen Mikhlifs wieder, beanspruchte später aber eigenständige religiöse Autorität und veröffentlichte mehrere takfiristische Schriften in deutscher Sprache. Zeitweise unterrichteten Ebu Muhammed und Abu Hamza in derselben Moschee, doch scheint es Meinungsverschiedenheiten gegeben zu haben, so dass Abu Hamza ab Januar 2013 die al-Iman-Moschee im 10. Wiener Bezirk übernahm. Er unterrichtete und veröffentlichte überwiegend auf Deutsch und wurde fast ausschließlich im deutschsprachigen Raum wahrgenommen. In den Jahren 2013 und 2014 scheint er eine ambivalente Position vertreten zu haben. Der Bremer IS-Rückkehrer Harry S. berichtete von einem Besuch bei Abu Hamza in Wien im Jahr 2013, bei dem dieser sich offen gegen den IS aussprach. In seinem Buch »Ein Rat an die kämpfenden Gruppen« von 2013 dagegen äußerte Abu Hamza sich nicht nur positiv über diejenigen Takfiristen, die sich wie Abu Umar al-Kuwaiti dem IS angeschlossen hatten. Er lobte auch den IS-Führer Abu Bakr al-Baghdadi, da dieser wie die Takfiristen hart gegen vermeintliche Polytheisten vorging.
Nedzad B. und Farhad Q. gerieten in Österreich unter anderem deshalb in Schwierigkeiten, weil aus einer takfiristischen Moschee in Graz besonders viele Personen nach Syrien ausreisten. Es ging um den Grazer Taqwa-Glaubensverein, dem mehrheitlich bosnischsprachige Muslime angehörten und der namentlich Ebu Muhammed und (mit einigem Abstand) Abu Hamza als seine religiösen Autoritäten betrachtete. Seit seiner Gründung 2008 hatten sich die bosnischsprachigen Muslime unter der Führung von Nermin Skelic mit einigen ethnischen Albanern und wenigen Türken verbunden und eine stark sektenartige Gemeinde von einigen Dutzend Mitgliedern gebildet, die jeglichen Kontakt zur Außenwelt, zu der auch nichttakfiristische Muslime zählten, zu minimieren suchte. Infolge der Ausrufung des Kalifats entstanden rasch zwei Lager: Das eine war der Meinung, dass das neu ausgerufene Kalifat tatsächlich ein islamischer Staat war und die Ausreise nach Syrien Pflicht. Das andere blieb bei der hergebrachten takfiristischen Position, es handele sich mitnichten um einen islamischen Staat und die Gemeinde habe in Österreich zu verbleiben. Über diese Frage kam es unter den Gemeindemitgliedern zu Konflikten – wobei nie ganz klar wurde, ob Ebu Muhammed für eine der beiden Seiten Partei ergriff.
Beginnend im August 2013 reisten, angeführt von dem Taqwa-Gründer Skelic, insgesamt 38 Personen (einschließlich vieler Kinder) aus Graz nach Syrien. Überdies waren auch aus Wien einige Personen mit Bezügen zu den Moscheen von Ebu Muhammed nach Syrien gefahren. Unter ihnen befand sich der spätere Attentäter Kujtim Fejzulai. In einem folgenden Mammutprozess gegen Ebu Muhammed, Abu Hamza und zahlreiche Gemeindemitglieder wurde Ebu Muhammed im März 2020 – allerdings Stand Januar 2021 noch nicht rechtskräftig – zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Weitere führende Gemeindemitglieder erhielten mehrjährige Haftstrafen. Abu Hamza hatte sich dem Verfahren durch Flucht ins Ausland entzogen.
Die Gefahren des Takfirismus
Vor 2014 sahen einige Beobachter (einschließlich des Verfassers) im Takfirismus weniger eine neuartige Bedrohung, sondern eine mögliche »Exit-Strategie« (Klaus Hummel) aus dem Jihadismus. Eine solche kann der Takfirismus für einige seiner Anhänger auch weiterhin sein, doch der Fall des Wiener Attentäters und seiner Verbindungen in die takfiristische Szene sind – nach den vielen Ausreisen nach Syrien ab 2014 – ein erneuter Hinweis auf deren Gefährlichkeit.
Die Bindungen der Takfiristen an die Jihadisten sind meist so stark, dass eine trennscharfe Unterscheidung von außen nur schwer möglich ist. Dies trifft besonders für die Anhänger von Predigern wie Ebu Muhammed zu, die sich zwar nie offen zum IS bekannten, aber in ihren Gemeinden eine (ideologische wie personelle) Durchlässigkeit ins jihadistische Milieu duldeten. Hinzu kommt, dass selbst scheinbar friedfertige Prediger wie Abu Hamza auf die enorme Anziehungskraft des IS häufig nicht mit einer klaren Abgrenzung reagierten, möglicherweise um den Einfluss auf diejenigen Takfiristen, die dem IS nahestanden, nicht vollkommen zu verlieren. Diese Beobachtungen sprechen dafür, die Takfiristen ebenso im Blick zu behalten wie die Jihadisten und frühzeitig gegen die Bildung neuer Gemeinden und virtueller Plattformen vorzugehen.
Dies ist umso wichtiger, als die Takfiristen in der jihadistischen Szene in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen haben. Die Verfolgung durch den IS ab Sommer 2014 und die hohen Verluste in den Jahren danach sowie das Verbot von takfiristischen Moscheevereinigungen und die Inhaftierung von takfiristischen Predigern und Aktivisten haben die Szene zunächst geschwächt. Jedoch gibt es einige Hinweise darauf, dass die Attraktivität takfiristischen Gedankenguts ungebrochen ist.
Ein augenscheinliches Beispiel dafür ist das des türkischen Predigers Halis Bayancuk (alias Ebu Hanzala). Dieser galt in der Hochzeit des IS ab 2014 als maßgeblicher IS-Rekrutierer in der Türkei, vertrat gleichzeitig aber eindeutig takfiristische Positionen – so vor allem, weil er Unwissenheit als Entschuldigungsgrund für Unglauben kategorisch ablehnte. Über seine Anhänger wird in Jihadistenkreisen berichtet, sie würden besonders viele sunnitische Muslime für ungläubig erklären. Zwar verbrachte Bayancuk in den letzten Jahren immer wieder längere Phasen in türkischen Gefängnissen. Doch scheint er weiterhin über viele Anhänger zu verfügen, die sich nicht nur in der Türkei, sondern auch in der türkischsprachigen Diaspora in Europa finden. Hier gibt es in den letzten Jahren Anzeichen dafür, dass die Zahl seiner Gefolgsleute zunimmt.
Der Aufstieg der Takfiristen ist symptomatisch für einen Trend hin zu größerer doktrinärer Kompromisslosigkeit in der Jihadistenszene. Die enorme Attraktivität des IS für ausländische Kämpfer unterstrich schon 2014: Al-Qaidas Zeit als die wichtigste Jihadistentruppe weltweit war abgelaufen. Der IS zeigte sich weltanschaulich derart kompromisslos, dass er ab 2014 gegen so viele Feinde kämpfen musste, dass ein Scheitern rasch abzusehen war. Das Auftreten der noch radikaleren Takfiristen wiederum belegt, dass dieser Trend mit dem IS noch nicht sein Ende erreicht hat. Er ist ein Hinweis auf die wachsende Fragmentierung der jihadistischen Bewegung. Sie spaltet sich in immer kleinere Einheiten, die trotz ähnlicher Ideologie keine gemeinsamen Aktionsformen mehr finden. Das bedeutet, die Jihadisten könnten in den nächsten Jahren vermutlich weiter an Durchschlagskraft verlieren, gleichzeitig aber auch unberechenbarer werden.
Dr. Guido Steinberg ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Naher / Mittlerer Osten und Afrika.
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ISSN 1611-6364
doi: 10.18449/2021A09