Der jüngste Streit zwischen Japan und Südkorea über die Entschädigung ehemaliger koreanischer Zwangsarbeiter scheint bekannten Mustern zu folgen. Schließlich sind bilaterale Auseinandersetzungen über die gemeinsame Geschichte – insbesondere über die Phase der japanischen Kolonialherrschaft – nichts Neues. Doch die Spannungen greifen diesmal tiefer und das beidseitige Misstrauen hat ein nie dagewesenes Niveau erreicht. Deutlich angestiegen ist auf japanischer Seite die Frustration über Südkoreas Politik, von der sich die Regierung in Tokio hintergangen fühlt. Unterschiedliche Geschichtsauffassungen sorgen seit jeher für Konflikte, doch aktuelle innenpolitische und regionale Entwicklungen belasten das Verhältnis zusätzlich. In den Führungen der beiden wichtigsten Demokratien Nordostasiens sind in den letzten Jahren Zweifel aufgekommen, ob der jeweils andere noch ähnliche Wertevorstellungen und strategische Ziele vertritt. Das zunehmende Zerwürfnis könnte die regionale Machtbalance in den nächsten Jahren beeinflussen, denn es schwächt die Position der USA in Asien als Bündnispartner Japans und Koreas.
Die japanisch-südkoreanischen Beziehungen sind seit ihrer Normalisierung im Jahr 1965 auf einem Tiefpunkt. Derart angespannt ist das Verhältnis, dass der japanische Premierminister Abe Shinzō sich Ende Juni weigerte, den südkoreanischen Präsidenten Moon Jae-in auf dem G20-Gipfel in Osaka zu bilateralen Gesprächen zu treffen. Für Aufsehen sorgte auch die Entscheidung Tokios vom 1. Juli, den Export von drei Materialien nach Südkorea zu beschränken. Es handelt sich um chemische Produkte, die für die Herstellung von Smartphone-Displays und Halbleitern benötigt werden und bei denen Japan den Weltmarkt dominiert. Darüber hinaus beschloss Tokio am 2. August, das Nachbarland von seiner »Weißen Liste« bevorzugter Länder zu streichen, die weitestgehend von sogenannten Catch-All-Exportkontrollen für sensible Güter ausgenommen sind. Japan rechtfertigte diese Schritte mit Erkenntnissen darüber, dass Südkorea Materialien, die auch zur Waffenproduktion benötigt werden, ohne Genehmigung an Drittstaaten geliefert habe. Zudem hätten seit 2016 keine bilateralen Gespräche über Exportkontrollen mehr stattgefunden.
Der eigentliche Grund für die verschärften Exportkontrollen dürfte aber vor allem der Unmut der japanischen Regierung über die Position Südkoreas im Streit über die Entschädigung ehemaliger koreanischer Zwangsarbeiter sein. Tokio möchte Seoul zum Einlenken bewegen. In einer Erklärung zu der Verschärfung der Handelskontrollen ging Premierminister Abe selbst auf das Thema Zwangsarbeiter ein: Da Südkorea sich bei der Lösung dieser Problematik nicht an internationale Vereinbarungen halte, müsse Tokio davon ausgehen, dass es auch seine Zusagen im Hinblick auf den Handel mit sensiblen Gütern breche. Südkorea gab bekannt, es lasse Tokios Exportkontrollen von der Welthandelsorganisation (WTO) prüfen und werde Japan ebenfalls von seiner Liste präferierter Handelspartner streichen, die Vorzugsbehandlung bei Handelsgeschäften genießen.
Das bilaterale Verhältnis war allerdings auch schon unter den letzten beiden südkoreanischen Regierungen unter Park Geun-hye und Lee Myun-bak von Spannungen geprägt. So gab es beispielsweise unter der Regierung Park fast drei Jahre lang keine Gipfeltreffen mit Tokio. Japanische und koreanische Experten und Wissenschaftler zeigen sich ratlos, wenn sie gefragt werden, wie die derzeitige Abwärtsspirale in den Beziehungen aufgehalten werden kann.
Auch in der Vergangenheit stritten sich Japan und Korea über die Deutung der gemeinsamen Geschichte. Die Aussöhnung wird dadurch erschwert, dass die nationalen Identitäten beider Länder mitunter von expliziten Ressentiments geprägt sind. Japan ist der wichtigste negative Bezugspunkt im modernen Selbstverständnis Südkoreas, und anti-japanische Einstellungen sind daher ein integraler Bestandteil des südkoreanischen Nationalismus. Dagegen betrachten vor allem die japanischen Rechtsnationalisten ihr Land als stolze Nation, die gerade von Seiten Koreas zu oft für ihre Vergangenheit kritisiert wird.
Beide Länder haben schon oft über ihre Geschichtsauffassungen gestritten. Doch in den letzten Jahren ist das gegenseitige Misstrauen in einem unbekannten Maß gewachsen. Obwohl beide Staaten zentrale Bündnispartner der USA und die wichtigsten Demokratien in Nordostasien sind, ziehen Regierungsvertreter und unabhängige Beobachter beider Seiten zunehmend in Zweifel, dass das jeweils andere Land von ähnlichen Wertvorstellungen und strategischen Zielen geleitet wird. Aktuelle innenpolitische und regionale Entwicklungen belasten das Verhältnis zusätzlich.
Eskalierender Streit und wachsendes Misstrauen
In der japanisch-koreanischen Kontroverse dominierten in den letzten Monaten zwei Themen: die Frage der Entschädigung ehemaliger koreanischer Zwangsarbeiter, die unter japanischer Kolonialherrschaft rekrutiert wurden, und ein militärischer Zwischenfall im Dezember 2018.
Besonders schwerwiegend ist der Konflikt in der Angelegenheit der Entschädigungen. Auslöser waren Urteile des koreanischen Obersten Gerichtshofs im Oktober und November 2018, die die japanischen Firmen Nippon Steel & Sumitomo Metal und Mitsubishi Heavy Industries zu individuellen Schadensersatzzahlungen gegenüber ehemaligen Zwangsarbeitern verpflichten. Derzeit laufen noch weitere Gerichtsverfahren gegen japanische Firmen, die insgesamt etwa 1000 ehemalige Zwangsarbeiter betreffen. Tokio hält dagegen, dass bei Abschluss des Grundlagenvertrags 1965 ein Abkommen zur Regelung von Schadensersatzansprüchen geschlossen wurde. Demnach leistete Japan Wirtschaftshilfe in Höhe von 300 Millionen Dollar und stellte Aufbaukredite in Höhe von 200 Millionen Dollar bereit, während Südkorea im Gegenzug Forderungen aus der Kolonialzeit als abgegolten betrachtete. Das Abkommen umfasste nach japanischem Verständnis sowohl Ansprüche von staatlicher als auch privater Seite. In den Verhandlungen war das Thema Zwangsarbeiter explizit diskutiert worden und bis zu den Gerichtsurteilen von 2018 hatte Seoul ebenfalls die Auffassung vertreten, dass die entsprechenden Ansprüche mit dem Abkommen befriedigt worden seien.
Das Oberste Gericht Südkoreas argumentiert nun aber, dass der Vertrag von 1965 nur zwischenstaatliche, nicht aber individuelle Ansprüche geregelt habe. Diese Auffassung steht im Einklang mit einem Trend im Völkerrecht der letzten Jahrzehnte hin zu einem verbesserten Individualrechtsschutz und einer stärkeren Berücksichtigung von Menschenrechten. Aktuell laufen Gerichtsverfahren der koreanischen Kläger mit dem Ziel, Vermögenswerte der verurteilten japanischen Unternehmen in Korea beschlagnahmen zu lassen, um daraus Entschädigungszahlungen zu finanzieren. Japan hat gegen dieses Vorgehen protestiert und Korea aufgefordert, einem Schiedsgerichtsverfahren nach den vertraglichen Regelungen von 1965 zuzustimmen. Die Regierung Moon hat aber weder auf diesen Vorschlag reagiert noch Anstalten gemacht, die Beschlagnahmung der Vermögenswerte aufzuhalten.
Aus Sicht Tokios bricht Seoul so mit dem Vertrag von 1965 und unterminiert damit die rechtliche Grundlage der bilateralen Beziehungen. Die Regierung in Seoul dagegen argumentiert, die Urteile stellten den Vertrag von 1965 nicht grundsätzlich in Frage, sondern beträfen nur dessen Geltungsbereich. Sie appelliert an Japan, als Demokratie Respekt für die Teilung der Gewalten in Korea zu zeigen. Tokio erwägt, den Streit vor den internationalen Gerichtshof zu tragen, wofür aber Seouls Zustimmung nötig wäre. Japanische wie koreanische Wissenschaftler bezweifeln, dass Seoul dazu bereit wäre. Koreanische Forscher und Journalisten verweisen unter anderem darauf, dass den Opfern angesichts ihres hohen Alters kein langer internationaler Prozess mehr zugemutet werden könne. Unabhängige japanische Experten glauben dagegen, Korea lehne eine Überweisung des Verfahrens ab, weil damit ein Präzedenzfall geschaffen würde. Mit diesem wiederum könne Seoul unter Druck gesetzt werden, den Territorialstreit mit Tokio über die Dokdo- bzw. Takeshima-Inseln ebenfalls durch ein internationales Gericht klären zu lassen.
Mangels anderer Druckmittel hat Japan sich nun für die verschärften Exportkontrollen entschieden und sich damit – ähnlich wie dies die USA, China und andere Länder tun – handelspolitischer Instrumente bedient, um diplomatische Ziele zu erreichen, ein Vorgehen, das international auf Kritik gestoßen ist. Diese Kritik mag gerechtfertigt sein; Tokios Maßnahmen zeigen aber auch, wie machtlos es sich gegenüber der aktuellen koreanischen Politik fühlt. In der japanischen Bevölkerung kommt der Schritt gut an – vor den Oberhauswahlen am 21. Juli kam dies der Regierung Abe sicher nicht ungelegen. Allerdings ist fraglich, ob der wirtschaftspolitische Druck Seoul zum Einlenken bewegen wird. Wahrscheinlicher ist, dass sich die koreanische Öffentlichkeit weiter gegen Japan wendet und sich die Fronten auf beiden Seiten verhärten.
Einen zweiten erbitterten Streit führten die beiden Länder über einen maritimen Zwischenfall, der sich am 20. Dezember 2018 innerhalb der japanischen exklusiven Wirtschaftszone ereignete. Japanischen Angaben zufolge richtete ein südkoreanisches Kriegsschiff, das gerade mit der Seenotrettung eines nordkoreanischen Schiffes beschäftigt war, seinen Feuerleitradar auf ein japanisches Patrouille-Flugzeug, welches den Vorgang beobachtete. Seoul wies den Vorwurf zurück und beschuldigte im Gegenzug das japanische Flugzeug, sich auf einer bedrohlichen Flugbahn und mit geringer Höhe dem koreanischen Schiff genähert zu haben. Die Verteidigungsministerien beider Länder versuchten jeweils, ihre Sicht des Vorfalls mit Videos zu untermauern.
Die Schuldfrage lässt sich auf der Basis öffentlicher Quellen nicht klären. Der Zwischenfall unterstreicht aber vor allem das Ausmaß des gegenseitigen Misstrauens. Anstatt das Geschehen auf Arbeitsebene zu erörtern und – unabhängig von der Schuldfrage – zu einer Übereinkunft zu kommen, wie derartige Zwischenfälle in Zukunft verhindert werden können, bezichtigten sich japanische und südkoreanische Vertreter der Lüge. Auf beiden Seiten wurde über Gründe spekuliert, warum die jeweils andere Seite Interesse an einem solchen Zwischenfall haben könnte. Koreanische Journalisten und Wissenschaftler argumentierten, die Abe-Regierung habe den Vorfall provoziert, um den Druck auf Seoul im Zwangsarbeiter-Streit zu erhöhen und die Zustimmungsraten in der Bevölkerung zu steigern. Japanische Forscher wiederum mutmaßten, das südkoreanische Schiff habe gar keine Seenotrettung durchgeführt, sondern sei in Wirklichkeit illegalen Aktivitäten nachgegangen, die die japanische Seite nicht entdecken sollte. So habe die Moon-Regierung, die bessere Beziehungen zu Nordkorea sucht, möglicherweise Geldmittel an den Norden liefern wollen.
Gesellschaftliche und innenpolitische Entwicklungen
Aktuelle gesellschaftliche und innenpolitische Spannungen erschweren es auf beiden Seiten zusätzlich, Kompromisse in Geschichtsstreitigkeiten auszuhandeln. Grundsätzlich hat sich im Laufe der vergangenen Jahre in den politischen Eliten beider Länder ein Generationenwechsel vollzogen. In Japan geben nun Politiker den Ton an, die in der Nachkriegszeit geboren wurden. Ihr Umgang mit der Vergangenheit ist in viel geringerem Maße von persönlichen Kriegs- und Nachkriegserfahrungen und unmittelbaren Schuldgefühlen geprägt. Sie erwarten, dass Korea eine pragmatischere Politik betreibt, die in die Zukunft und nicht zurückblickt. Zudem haben nationalistische Tendenzen unter japanischen Politikern zugenommen. Abe selbst ist in Korea eine überaus umstrittene Figur; er gilt als Revisionist, der die Gräueltaten der Kolonialmacht Japan beschönigt und das Militär des Inselstaats zu alter Stärke zurückführen möchte.
Auf koreanischer Seite wird die Politik zunehmend von der sogenannten »386-Generation« beeinflusst. Diese Generation, die in den 1960er Jahren geboren wurde und in den 1980er Jahren Teil der Demokratiebewegung an den Universitäten war, setzt sich sehr kritisch mit der koreanischen Nachkriegsgeschichte und der Zeit der Diktatur auseinander. Die Aufarbeitung damaliger Geschehnisse – einschließlich des Normalisierungsvertrags mit Japan – ist für sie ein zentrales Anliegen. Dies gilt vor allem für Vertreter des progressiven Lagers wie Präsident Moon, der selbst in den 1980er Jahren wegen seiner Teilnahme an Protestaktionen inhaftiert war. Während in Korea also der Wunsch nach Aufklärung und Aufarbeitung gewachsen ist, richtet die neue Generation japanischer Eliten, die nationalistischere Einstellungen als ihre Vorgänger vertritt, den Blick eher in die Zukunft.
Innenpolitisch kämpft Südkorea darüber hinaus weiterhin mit den Folgen des Skandals um die Vorgängerregierung unter Park Geun-hye. Park, die im März 2017 nach Korruptionsvorwürfen ihres Amtes enthoben worden war, wird in Korea für ihren intransparenten Regierungsstil kritisiert. Sie traf Entscheidungen, ohne Berater und Kabinettsmitglieder einzubinden oder die öffentliche Meinung zu berücksichtigen. Zwischen Oktober 2016 und März 2017 kam es zu Massenprotesten gegen Park, den sogenannten »Candle Light Protests«, bei denen allein in Seoul teils über eine Millionen Koreaner auf die Straße gingen. Ein zentrales Versprechen des im Mai 2017 neu gewählten Präsidenten Moon Jae-in war daher eine transparente Regierungspraxis. Die neue Führung werde eine Politik verfolgen, die nicht in »faule Geschäfte« involviert und vor allem »durch das Volk« getrieben ist und keine Regierung für »Partikularinteressen und Eliten« sein, wie es im Fünf-Jahres-Regierungsprogramm vom August 2017 heißt. Für die Moon-Regierung, die das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Politik zurückgewinnen will, ist eine breite öffentliche Zustimmung daher von großer Bedeutung.
Auch Parks Politik in Fragen, die die japanisch-koreanische Geschichte berühren, stand in der Kritik. Offenbar wirkte Park auf die Justiz ein und brachte den damaligen Obersten Richter Yang Seung-tae dazu, die Urteilsverkündung in den Zwangsarbeiterprozessen hinauszuzögern, um diplomatischen Schwierigkeiten mit Tokio aus dem Weg zu gehen. Mit seinem Verweis auf die Gewaltenteilung und seiner Weigerung, die bevorstehende Konfiszierung japanischer Vermögenswerte zu verhindern, positioniert sich Präsident Moon nun gegen eine politische Einflussnahme auf die Justiz. Würde er sich über die Urteile hinwegsetzen, könnte dies eine Verfassungskrise auslösen.
Öffentlich kritisiert wurde Park auch für das Übereinkommen, das ihre Regierung 2015 mit Japan im Streit um die sogenannten »Trostfrauen« aushandelte, die während des Zweiten Weltkrieges in japanischen Militärlagern zur Prostitution gezwungen wurden. Tokio hatte zugesagt, eine Milliarde Yen (zu diesem Zeitpunkt etwa 7,6 Millionen Euro) in eine südkoreanische Stiftung für die Opfer einzuzahlen, und der Außenminister hatte sich in einer Rede für das entstandene Leid entschuldigt. Beide Seiten hatten darüber hinaus vereinbart, die Auseinandersetzung »endgültig und unwiderruflich« zu beenden. Zwar akzeptierte ein Großteil der noch lebenden Opfer Zahlungen aus der Stiftung (nämlich 34 der 46 noch lebenden Frauen), trotzdem wuchs in der koreanischen Öffentlichkeit der Unmut über die Einigung. Laut einer Umfrage vom Juli 2017, die die Think-Tanks Genron NPO und East Asia Institute in Auftrag gegeben haben, gaben rund 56 Prozent der Koreaner an, mit der Übereinkunft »nicht einverstanden« zu sein. 75 Prozent der Befragten waren außerdem der Meinung, der Trostfrauen-Streit sei damit »nicht beigelegt«.
Moon, der sich im Wahlkampf für eine Wiederaufnahme der Verhandlungen über die Angelegenheit der Zwangsprostitution ausgesprochen hatte, beauftragte nach seiner Amtsübernahme eine Expertenkommission damit, den Prozess der Ausarbeitung des Agreements zu untersuchen. Diese kam im Dezember 2017 zu dem Schluss, dass die Park-Regierung die Verhandlungen geheim und ohne Mitsprache von Opfern geführt habe. Zwar beschloss Moon, die Einigung formell weiterhin zu respektieren (beispielsweise in der Weise, dass Seoul in multilateralen Foren keine Kritik an Tokio wegen der »Trostfrauen«-Thematik übt), gleichzeitig löste er aber die Stiftung »Reconciliation and Healing« auf, die als zentrale Säule für die Implementierung der Vereinbarung von 2015 galt. Zudem stellte die Moon-Regierung im Juli 2018 Gelder bereit, die die geleisteten japanischen Zahlungen ersetzen sollen, auch wenn unklar bleibt, was mit den japanischen Mitteln geschehen soll, denn zurücknehmen will Tokio sie nicht.
Für den harten Kurs der Moon-Regierung gegenüber Japan gibt es noch weitere Gründe. Nichtregierungsorganisationen (NGOs) nehmen in Südkorea starken Einfluss auf die Politik, allen voran der sogenannte Korean Council (kurz für Korean Council for Justice and Remembrance for the Issues of Military Sexual Slavery by Japan). Diese Organisation, die 1990 gegründet wurde, um die Interessen ehemaliger »Trostfrauen« zu vertreten, gilt als Veto-Spieler bei allen Versuchen, in dieser Kontroverse mit Japan zu einem Ausgleich zu kommen. Sie soll auch den öffentlichen Widerstand gegen die Übereinkunft von 2015 mobilisiert haben. Im Dezember 2011 stellte der Korean Council eine Statue vor der japanischen Botschaft in Seoul auf, die an das Schicksal der »Trostfrauen« erinnern soll. Tokio sieht in diesem Akt einen Bruch des Wiener Übereinkommens über konsularische Beziehungen, dem zufolge das Gastland verpflichtet ist, die Würde von konsularischen Auslandsvertretungen zu schützen. Der Korean Council hat seitdem weitere Statuen aufgestellt, auch im Ausland. Ab 2017 haben auch andere NGOs ähnliche Mahnmale errichtet, um an die Opfer von Zwangsarbeit zu erinnern. Im Mai 2018 versuchten Aktivisten, eine Zwangsarbeiter-Statue vor dem japanischen Generalkonsulat in der Stadt Busan aufzustellen, was jedoch mit großem Polizeiaufgebot verhindert wurde.
Auch innenpolitisches Kalkül spielt möglicherweise in die anti-japanische Haltung der Moon-Regierung hinein. Die für Korea kennzeichnende politische Spaltung zwischen liberalen und konservativen Parteien (bekannt als Süd-Süd-Teilung, nam-nam kalteung) hat sich in den letzten Jahren vertieft. Angesichts sinkender öffentlicher Zustimmungsraten ist Moon auf die Kooperation der Opposition angewiesen, um wichtige Vorhaben voranzubringen, wie beispielsweise die Reform des Wahlsystems oder seine Nordkorea-Agenda. Bei der konfrontativen Linie gegenüber Japan fällt es den koreanischen Parteien derzeit leicht, sich zu solidarisieren und so die politische Spaltung zu überbrücken. Nach einem Treffen mit fünf Parteivorsitzenden am 18. Juli gab Moon bekannt, Seouls Reaktion auf Japans verschärfte Exportkontrollen werde in überparteilicher Kooperation formuliert.
Mit der Auflösung der Stiftung »Reconciliation and Healing« hat die Moon-Regierung aus Sicht Tokios die Einigung zum »Trostfrauen«-Streit de facto außer Kraft gesetzt und damit eine zwischenstaatliche Vereinbarung gebrochen. In den vergangenen Jahren hatte es in Japan bereits vermehrt Stimmen gegeben, die kritisierten, dass japanische Aussöhnungsgesten gegenüber Korea in ein »Fass ohne Boden« fielen und nie als ausreichend akzeptiert würden. Die Vertreter dieser Position fühlen sich durch die Politik der Moon-Regierung bestätigt. Damit verändert sich auch Japans innenpolitischer Diskurs zu Korea. Während rechtsnationalistische Akteure mit ihren Ansichten in der Vergangenheit nur marginal Gehör fanden, stoßen anti-koreanische Meinungen bis hin zur Forderung nach einem »Abbruch der Beziehungen« (dankō) zu Korea inzwischen in der Öffentlichkeit auf große Resonanz.
Einige Beobachter äußern die Hoffnung, dass sich das japanisch-südkoreanische Verhältnis erholen werde, wenn Abe und Moon aus dem Amt scheiden. Doch ist unklar, inwiefern ihre Nachfolger bereit wären, neue Impulse zu setzen. Es gilt als wahrscheinlich, dass der nächste koreanische Präsident ebenfalls dem progressiven Lager angehören wird. Die konservativen Parteien, die traditionell mehr Wert auf die sicherheitspolitische Zusammenarbeit mit Japan legen, sind nach dem Skandal um Park Geun-hye geschwächt. Zudem könnten auch sie sich kaum gegen die Gerichtsurteile im Fall der ehemaligen Zwangsarbeiter stellen. Auf japanischer Seite ist Premierminister Abe mit der »Trostfrauen«-Einigung bereits ein hohes innenpolitisches Risiko eingegangen. Nach dem Scheitern dieses Abkommens, so die gängige Meinung unter japanischen Wissenschaftlern, kann es sich nun kein Politiker mehr leisten, weitere Zugeständnisse gegenüber Korea zu machen. Die Fronten haben sich auf japanischer und koreanischer Seite also verhärtet.
Strategisches Misstrauen
Unterschiedliche strategische Sichtweisen auf die Region belasten die bilateralen Beziehungen zusätzlich. Das gemeinsame Anliegen, Nordkorea abzuschrecken, war in der Vergangenheit immer ein wichtiger und ausreichender Grund für die sicherheitspolitische Kooperation zwischen Seoul und Tokio. Doch die Regierungen Moon und Abe beäugen den Umgang des jeweils anderen mit Nordkorea mit großem Misstrauen. Für Moon ist die Verbesserung des Verhältnisses zu Pjöngjang eine außenpolitische Priorität. So traf der Premierminister den nordkoreanischen Machthaber Kim Jong-un 2018 gleich zu drei Gipfelgesprächen. Die Abe-Regierung besteht hingegen auf einer strikten Sanktionspolitik gegenüber Nordkorea und beobachtet Südkoreas Avancen mit großer Sorge. Tokio fürchtet, Seoul könnte Pjöngjang Zugeständnisse machen, die den japanischen Sicherheitsinteressen zuwiderlaufen. Andersherum betrachtet Seoul Tokios harte Haltung gegenüber Pjöngjang als Hindernis für seine Annäherungspolitik. Wie gegensätzlich die Einschätzungen der beiden Länder sind, wird an ihren Weißbüchern deutlich: Während das japanische Weißbuch vom August 2018 die nordkoreanischen Raketen- und Nuklearprogramme als eine »noch nie dagewesene ernsthafte und unmittelbare Bedrohung« bezeichnet, strich Seoul in seinem Weißbuch, das im Januar 2019 veröffentlicht wurde, die Beschreibung Nordkoreas als »Feind«.
Auch beim Umgang mit China verfolgten beide Seiten unterschiedliche Ansätze. Diesbezügliche Spannungen traten vor allem in der Regierungszeit von Park Geun-hye zutage. Park beabsichtigte, einen Keil zwischen Nordkorea und China zu treiben, indem sie auf eine Verbesserung der Beziehungen zu Beijing hinarbeitete. Tokio, das den Ausbau des chinesischen Einflusses in der Region als Bedrohung wahrnimmt, sah in diesem Kurs der südkoreanischen Führung einen Schwenk in Richtung China. Wissenschaftler und Regierungsvertreter in Japan fürchteten, Seoul könne China anstelle der USA als regionale Führungsmacht akzeptieren. Die Park-Regierung wiederum lehnte die harte Linie Tokios gegenüber Beijing als nicht zielführend ab. Für Seoul ist China nicht nur wegen seines Einflusses auf Nordkorea wichtig, sondern auch als Wirtschaftspartner. Der bilaterale Handel mit dem Reich der Mitte bietet Südkorea große Chancen, bringt aber auch Abhängigkeiten und entsprechende Verwundbarkeiten mit sich.
Seit etwa 2017 haben sich die japanischen und koreanischen Wahrnehmungen in Bezug auf China wieder etwas angenähert. Nach dem sino-koreanischen Streit über die Stationierung von amerikanischen Raketenabwehrsystemen (Terminal High Altitude Area Defense, THAAD) in Korea 2016/17 ist die Haltung Seouls gegenüber Beijing kritischer geworden. Die japanische Sicht auf China hat sich hingegen etwas verbessert. Beide Seiten haben in den letzten drei Jahren versucht, ihre Beziehungen zu stabilisieren. Trotzdem besteht in Tokio weiterhin die Sorge, dass China die Region dominieren und Seoul dies hinnehmen könnte. Seouls und Tokios unterschiedliche Ansätze gegenüber Beijing könnten in Zukunft daher leicht wieder zu Spannungen führen.
Veränderte wirtschaftliche Abhängigkeiten
Auch veränderte wirtschaftliche Abhängigkeiten sind ein Grund dafür, dass Geschichtsstreitigkeiten zwischen Tokio und Seoul stärker eskalieren als in der Vergangenheit. Vor einem halben Jahrhundert noch eines der ärmsten Länder der Welt, stieg Südkorea zur zwölftgrößten Wirtschaftsmacht auf. Als entwickelte Volkswirtschaft mit diversifizierten Handelsbeziehungen ist Südkorea nicht mehr annähernd so abhängig von japanischen Geldern und Technologie wie etwa noch vor zwei Jahrzehnten. Japans Anteil am südkoreanischen Außenhandel ist seit etwa Mitte der 1970er Jahre kontinuierlich gesunken. Er schrumpfte allein zwischen 1993 und 2018 von rund 18 auf 8 Prozent. Seit 2009 ist Chinas Anteil am Handel sogar größer als der von Japan und den USA zusammen. 2018 lag dieser bei knapp 24 Prozent. Gleichzeitig gehen fast ein Viertel der ausländischen Direktinvestitionen Südkoreas nach China, aber nur 2 Prozent nach Japan. Für Korea ist Japans relatives Gewicht also deutlich gesunken, während China nun wichtigster Wirtschaftspartner ist.
Dennoch gibt es in einzelnen Bereichen nach wie vor eine hohe Abhängigkeit Koreas von Japan, zum Beispiel bei den oben erwähnten drei Materialien, die nun unter verschärfte Exportkontrollen fallen. Im Technologiesektor importiert Korea wichtige Komponenten aus Japan. Gefragt sind auch japanische Maschinen und Anlagen.
Angesichts seines bemerkenswerten wirtschaftlichen Aufstiegs und entsprechend gestiegenen Selbstvertrauens verwundert es jedoch nicht, dass Seoul seine historisch begründeten Forderungen gegenüber Tokio hartnäckiger vertritt als in der Vergangenheit. Die politischen Eliten in Japan leiten aus dem ökonomischen Aufschwung des Nachbarn wiederum andere Erwartungen ab: Japan und Südkorea, so ihre Argumentation, könnten doch nun auf »Augenhöhe« miteinander umgehen und Tokio müsse nicht mehr ständig nachgeben, wenn Seoul Forderungen stellt. Diese Haltung wird in Korea allerdings als Bestätigung für den Vorwurf erachtet, dass sich in Japan revisionistische Tendenzen ausbreiten.
Ausblick:
Wenn zwei sich streiten…
Die japanisch-südkoreanischen Beziehungen befinden sich in einer Abwärtsspirale, die nur schwer zu bremsen sein wird. Die Fronten haben sich verhärtet. Politiker beider Seiten fühlen sich aus innenpolitischen Erwägungen genötigt, als offensiv wahrgenommene Handlungen des jeweils anderen mit entsprechenden Gegenmaßnahmen zu ahnden, was die Spannungen weiter anheizt. Sie sind kaum noch willens, Kompromisse auszuhandeln, da sie nicht ins Visier der öffentlichen Kritik geraten wollen.
Das Verhältnis ist derart angespannt und von Misstrauen geprägt, dass beide Seiten einander nicht mehr als Partner mit gemeinsamen Werten anerkennen. Japans diplomatisches Blaubuch verzichtet seit 2015 auf das Bekenntnis, dass man mit Südkorea »gemeinsame grundlegende Werte wie Freiheit Demokratie und Respekt für Menschenrechte« teile. Südkorea hat in seinem Weißbuch 2018 ebenfalls den Passus gestrichen, in dem von der Gemeinsamkeit der Werte mit Japan die Rede ist.
Auch Europa und der europäischen Politik sollte der Streit zwischen Japan und Südkorea Anlass zur Sorge geben. Wenn die Kluft aus Misstrauen zwischen den zwei wichtigsten Demokratien Ostasiens derart groß ist, kann dies insbesondere von China leicht ausgenutzt werden, um die eigene Machtposition in der Region auszubauen und den Einfluss der USA zu schwächen. Anders als in der Vergangenheit hat Washington bisher keine substanziellen Schritte unternommen, um den Streit zwischen seinen bedeutendsten Bündnispartnern in Asien zu schlichten.
Selbst bei einem Wechsel der Regierungsspitzen in Tokio und Seoul ist eine nachhaltige Verbesserung der Beziehungen vorerst nicht zu erwarten. Auch wenn Europa keine großen Einflussmöglichkeiten hat, sollte es deutlich machen, dass ein besseres japanisch-koreanisches Verhältnis auch in seinem Interesse liegt. Derzeit wird in Südkorea darüber diskutiert, das gemeinsame Abkommen über den Austausch militärischer Geheimdienstinformationen über Nordkorea auslaufen zu lassen. Doch die sicherheitspolitische Kooperation im Hinblick auf Nordkorea, an der beiden Seiten gelegen ist, sollte nicht zu einem politischen Spielball werden.
Um zu verhindern, dass China den bilateralen Streit nutzt, um den US-Einfluss in Asien zu schwächen, sollten Tokio und Seoul sich nun bemühen, die Situation zu beruhigen und nationalistischen Impulsen zu widerstehen. Japan muss sich damit abfinden, dass Aussöhnung ein kontinuierlicher Prozess ist. Dies gilt umso mehr im Hinblick auf Südkorea, das als junge Demokratie einen erhöhten Bedarf hat, seine eigene Geschichte aufzuarbeiten. Korea wiederum muss sich bewusst machen, dass Aussöhnung von der Opferseite fordert, Versöhnungsgesten anzunehmen, und dass diese – einmal akzeptiert – nicht wieder hinterfragt werden dürfen. Davon nämlich profitieren lediglich die nationalistischen Kräfte auf der Gegenseite.
Literaturempfehlungen
Alexandra Sakaki/Gudrun Wacker
China – Japan – Südkorea.
Ménage à trois mit Hindernissen
SWP-Studie 4/2017, März 2017, 35 Seiten.
Alexandra Sakaki/Junya Nishino
»Japan‘s South Korea Predicament«,
in: International Affairs, 94 (Juli 2018) 4, S. 735–754.
Dr. Alexandra Sakaki ist Wissenschaftlerin in der Forschungsgruppe Asien. Von Januar bis April 2019 forschte sie mit einem Feodor Lynen-Stipendium der Alexander von Humboldt-Stiftung in Japan und Korea zu den bilateralen Beziehungen. In dieser Zeit war sie Gastwissenschaftlerin der japanischen National Defense Academy und der Keio-Universität.
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ISSN 1611-6364
doi: 10.18449/2019A42