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Israels radikale Regierung

Abbau der Gewaltenteilung, Übernahme des Staatsapparates und beschleunigte Annexion

SWP-Aktuell 2025/A 16, 14.04.2025, 8 Seiten

doi:10.18449/2025A16

Forschungsgebiete

Israels Regierung baut in rasantem Tempo die Gewaltenteilung ab und weitet ihre Kontrolle über den Staatsapparat aus. Die militärische Reaktion auf den Angriff der Hamas und anderer bewaffneter Gruppierungen am 7. Oktober 2023 scheint in eine dauerhafte Wiederbesetzung des Gazastreifens zu münden. Die »freiwillige« Auswanderung der palästinensischen Bevölkerung des Küstengebiets wird als Option der Konfliktlösung gesehen. Gleichzeitig treibt die Netanjahu-Regierung das Siedlungsprojekt im Westjordanland mit neuer Verve voran. In ihren Ansätzen – sei es in der Innenpolitik, gegenüber den Palästinenser:innen oder gegenüber den Nachbarstaaten – sieht sie sich durch die Trump-Administration ermutigt. Damit entfernt sich Israel weiter von einer liberalen Demokratie. Eine Regelung der Palästina-Frage wird so konterkariert, die Region destabilisiert. Deutsche Politik darf diese Entwicklungen nicht ignorieren.

Das Vorgehen der israelischen Regierung im Innern und ihr Handeln in der Palästina-Frage sind eng miteinander verknüpft. Dabei spielen unterschiedliche Motive eine Rolle. Vor dem Hintergrund der Strafverfahren gegen ihn hat Benjamin Netanjahu erstens nach Mehrheiten gesucht, die ihm die Möglichkeit geben, selbst gegen die Justiz vorzugehen. Nach fünf Wahlen in den Jahren von 2019 bis 2022 ist es ihm gelungen, eine Koalition zu bilden, die gewillt ist, ihn in dieser Frage zu unterstützen. Dazu hat er die rechtsextremen Par­teien unter Bezalel Smotrich (Religiöser Zionismus) und Itamar Ben-Gvir (Jüdische Stärke) in die Regierung geholt. Zweitens eint deren Mitglieder bei allen Unterschieden eine dezidiert antiliberale Haltung und die Zielsetzung, Beschränkungen des Regie­rungshandelns ab- und den Staatsapparat umzubauen. Drittens gibt es einen Konsens, die Siedlungsagenda im Westjordanland zu implementieren. Dabei setzen sich dort wie im Gazastreifen zuneh­mend die radikalen Ansätze von Netan­jahus rechtsextremen Koalitionspartnern durch, auf die er ange­wiesen ist, um Pre­mierminister zu bleiben.

Die Unterwerfung des Staates

Diese Regierung Netanjahu ist radikal. Sie versucht, den Staatsapparat auf Linie zu bringen und alle Kontrollfunktionen gegen­über der Exekutive abzuschaffen. Dabei beruft sie sich stets darauf, von der Mehr­heit gewählt worden zu sein. Über eine solche verfügt sie allerdings seit März 2023 in keiner seriösen Umfrage mehr. Im Vor­dergrund stehen nicht Leitprinzipien libe­raler Demokratie oder guten Regierungshandelns. Vielmehr wird von großen Teilen der Regierung (mit partieller Ausnahme der ultraorthodoxen Parteien) alles als macht­politisch begriffen und in Freund-Feind-Schemata eingeordnet.

Es gehe darum, so Netanjahu, die »Herrschaft der Bürokraten« zu beenden. Dabei betrachtet er alle, die nicht den Willen der Regierung umsetzen, als illegitim – als Teil eines »tiefen Staates«, der mit der Opposi­tion im Bunde sei. Wenn offizielle Amts­träger sich an professionelle Standards hal­ten bzw. Kritik an der Regierungspolitik formu­lieren, wird ihnen vorgeworfen, den Wählerwillen zu unterminieren. Dies be­trifft führende Staatsbedienstete wie die Generalstaatsanwältin Gali Baharav-Miara, den Chef des Inlandsgeheimdienstes Shin Bet, Ronen Bar, den ehemaligen Armeechef Herzi Halevi, die Richterinnen und Richter des Obersten Gerichtshofs und selbst Likud-Politiker wie den ehemaligen Verteidigungsminister Yoav Gallant.

Es geht aber weit darüber hinaus und gilt potentiell für alle staatlichen Einrichtungen. So versuchte die Regierung seit ihrem Amtsantritt im Dezember 2022, die Leitung des öffentlichen Rundfunks auszutauschen, das Gremium für höhere Erziehung mit Vertrauten zu besetzen und den Chef der Post ebenso zu ersetzen wie unter anderem den Beauftragten für den öffentlichen Dienst sowie die Leiter der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem, des nationalen Statistikbüros und der Nationalbibliothek.

Die entsprechenden Personen sehen sich nicht nur mit Kritik an ihrer Amtsführung konfrontiert, sondern oft auch mit delegi­ti­mierenden Kampagnen aus den Reihen der Regierung und ihrer Unterstützer:innen. Kritiker:innen der Regierung spre­chen hier von Netanjahus »Giftmaschinerie«. In vielen Fällen waren jedoch Klagen gegen Entlassungen erfolgreich. Daraufhin versuchte die Regierung in der Regel, ihr Ziel anderweitig zu erreichen – indem sie den Ernennungsprozess änderte, Ernennun­gen blockierte oder diejenigen, die das Re­gierungshandeln überwachen, ausschaltete.

Neutralisieren der Justiz

Der Kampf gegen den Justizapparat ist beim Umbau des Staates zentral. Denn die Justiz ist oft die Hürde, die die Regierung daran hindert, ihre Politik und Personalvorstellungen umzusetzen. Tatsächlich existiert in Israel keine andere Instanz, die die Macht­fülle einer Regierung effektiv beschränken würde. Es gibt keine ausgearbeitete Verfas­sung, keine zweite Kammer, kein föderales System, keine Einbindung in einen Ver­bund wie die EU – lediglich den Obersten Gerichtshof. Daher war die Justizreform bereits beim Antritt der jetzigen Koalition eines ihrer wichtigsten Projekte.

Vor dem Hintergrund monatelanger Massenproteste im Jahr 2023 sah sich die Regierung gezwungen, wesentliche Aspekte des Vorhabens hinauszuzögern. Nach dem Terrorangriff vom 7. Oktober des Jahres schien sie ihre Bemühungen eingestellt zu haben. Aber im Schatten des Krieges hat der Umbau der Justiz wieder an Fahrt aufgenommen. Dazu gehören unter anderem die Bestrebungen von Justizminister Yariv Levin (Likud), die Zusammensetzung des Richterauswahlkomitees zu verändern und das Senioritätsprinzip beim Vorsitz des Obersten Gerichtshofs abzuschaffen.

Im März 2025 verabschiedete die Knesset eine Reform der Richterwahlgremiums. Die­ses neue Gesetz ist nicht so radikal wie eine früher geplante Variante, weil für die erfor­derliche Mehrheit in dem Ausschuss nun auch eine Stimme der Opposition vonnöten ist. Dennoch setzt sich die Linie der Regie­rung fort. Die Anwaltskammer ist im Gre­mium nicht mehr vertreten, stattdessen er­nennen Regierung und Opposition An­wält:innen ihrer Wahl. Zudem wird den Vertreter:innen des Obersten Gerichtshofs die Sperrminorität genommen. Kritiker:in­nen befürchten, dass dies zu einer starken Politisierung der Justiz führen wird, da Kar­rieren dort nun vor allem von politischen Erwägungen abhängen.

Zum Abbau von Kontrollmechanismen gehört auch das präzedenzlose Prozedere zur Entlassung von Generalstaatsanwältin Baharav-Miara, das im März 2025 initiiert wurde. Levin warf ihr vor, der lange Arm der Regierungsgegner:innen zu sein und den Willen der Wählerschaft zu hinter­treiben. Die Generalstaatsanwältin ist nicht nur oberste Anklägerin, sondern auch Rechtsberaterin der Regierung. In dieser Funktion gibt sie Einschätzungen zum rechtlichen Status von Gesetzesvorhaben und Exekutivhandlungen ab. Sie warnt also, wenn aus ihrer Sicht potentielle Ge­setzesverstöße im Raum stehen – was sie gegenüber dieser Regierung häufig tut. Nicht zuletzt verfügt sie darüber, welche Strafverfahren betrieben oder eingestellt werden. Damit entscheidet sie auch über die Verfahren gegen Netanjahu.

Politisierung der Polizei

Unmittelbar nachdem Ben-Gvir Ende 2022 zum Minister für nationale Sicherheit beru­fen worden war, verabschiedete die Koali­tion eine Änderung des Polizeigesetzes. Die Novelle verlieh dem Minister umfassende neue Kompetenzen, etwa die Weisungs­befugnis, was die Polizei untersuchen soll. Ebenso wurde damit die Verpflichtung eingeschränkt, bestimmte Anweisungen an die Polizei publik zu machen. Im Januar 2025 wurden die Änderungen vom Obers­ten Gerichtshof teilweise aufgehoben. Die Reform hatte aber schon zu Auseinandersetzungen mit den ranghöchsten Offizieren der Polizei und des Gefängnisdienstes, Kobi Shabtai und Katy Perry, geführt. Ihre Amts­zeit wurde nicht verlängert, bei Perry unter anderem wegen »Insubordination«.

Nach der Ernennung eines Vertrauten von Ben-Gvir, Danny Levy, zum neuen Poli­zeichef wurden umgehend mehrere hoch­rangige Beamte gegen Getreue des Ministers ausgetauscht. Bei Beförderungen wurden Offiziere befragt, ob sie loyal zu Ben-Gvir stünden. In einem Interview betonte dieser: »Ich gebe unumwunden zu, dass ich nach Beamten suche, die sich an meine Politik halten.« Mittlerweile hat Ben-Gvir die israe­lische Polizei in einen Apparat umgebaut, in dem vor allem ihm Ergebene das Sagen haben. Das zeigt sich etwa darin, dass die Polizei nicht gegen die ausufernde Gewalt und organisierte Kriminalität in der paläs­tinensisch-arabischen Gemeinschaft Israels vorgeht, wohl aber massiv gegen regierungskritische Demonstrationen. In den Gefängnissen erfahren Häftlinge mitunter eine rücksichtlose Behandlung. Zudem gibt die Polizei gewalttätigen Siedlern im West­jordanland de facto freie Hand.

Insbesondere Letzteres hat wiederholt zu Spannungen mit dem Inlandsgeheimdienst geführt. Im August 2024 zitierten Medien aus einem Brandbrief von Shin-Bet-Chef Ronen Bar an Netanjahu, in dem er vor jüdischen Extremisten im Westjordanland warnte, die versuchten, dort eine Situation des Kontrollverlusts zu provozieren. Dabei erläuterte er, dass die Polizei wegsehe und die Siedler insgeheim unterstütze.

Im März 2025 veröffentliche der israelische TV-Sender Kanal 12 ein internes Doku­ment von Bar, in dem dieser anordnete, die Polizei auf eine Unterwanderung durch den Kahanismus zu überprüfen – also jene extreme ideologische Strömung, der Ben-Gvir angehört. Bar mahnte zur Umsicht, weil möglicherweise die »politische Ebene« involviert sei. Daran zeigt sich die Dramatik der aktuellen Situa­tion: Die Aufgabe des Shin Bet, auch jüdi­schen Extremismus zu überwachen, wird dadurch konterkariert, dass ein Extremist an der Spitze der Polizei steht und diese nach seinen Vorstellungen umbaut. Zu­gleich wird der Shin Bet von der Regierung daran gehindert, seinen Pflichten nachzukommen. Stattdessen sah sich Bar ebenfalls geschasst. Aber auch diese Entlas­sung wurde im März 2025 zunächst vom Obers­ten Gericht aufgehoben.

Der Aufbau von Medienhoheit

Im Umgang mit den Medien des Landes las­sen sich drei Stoßrichtungen der Regierung feststellen. Erstens ist sie bemüht, sich kriti­sche Organe gewogen zu machen (bezeichnenderweise haben zwei der drei Korrup­tionsanklagen gegen Netanjahu mit seinem – wenn auch weiter zurückliegenden – Verhalten gegenüber Medienhäusern zu tun). Zweitens sucht sie bestimmte publizis­tische Stimmen zu delegitimieren und drit­tens alternative Medien aufzubauen, oft zu­sammen mit privaten Investoren gleicher politischer Gesinnung. »Ich brauche meine eigenen Medien«, wurde Netanjahu schon nach seiner Wahlniederlage 1999 zitiert.

Das heißt nicht, dass es in Israel zuvor keinen konservativen Journalismus gege­ben hätte. Allerdings fallen die neugeschaffenen Medien durch politischen Aktivismus und weitgehende Kritiklosigkeit gegenüber Netanjahu auf. Dazu gehört das bereits 2007 etablierte Gratisblatt »Israel Hayom«, das vom US-amerikanischen Milliardär Sheldon Adelson bzw. seiner Witwe finan­ziert wird. »Israel Hayom« ist heute die meistverbreitete Zeitung des Landes. Noch tendenziöser ist der TV-Sender Kanal 14, der vom russisch-israelischen Milliardärssohn Yitzchak Mirilashvili finanziert wird und auf Druck Netanjahus eine Nachrichtenlizenz erhielt. Den Premier feiert man dort regelrecht. Im Kontext des Gazakrieges werden hetzerische Parolen verbreitet, die Regierungspositionen verteidigt und Gegner diskreditiert. Kommunikations­minister Shlomo Karhi (Likud) hat den Sender auf unterschiedliche Weise geför­dert, etwa durch ein Gesetz, das den Kanal – neben drei anderen – ins private Kabel­netz auf­nimmt, während die öffentliche Hand die hohen Gebühren dafür trägt.

Parallel dazu nimmt die Regierung den öffentlichen Rundfunk ins Visier. Bereits 2016 hatte die damalige Kultur- und heu­tige Verkehrsministerin Miri Regev (Likud) erklärt, ein staatlicher Rundfunk, »den wir nicht kontrollieren«, sei undenkbar. Netan­jahu hinterfragte im März 2025, warum es einen staatlich finanzierten Rundfunk geben solle, und plädierte für ein rein pri­vatwirtschaftliches Modell. Karhi wiederum bekannte sich zum Ziel, den öffentlichen Rundfunk in Israel zu zerschlagen. Zugleich forderte er eine Medienstrategie, die rechte Politik voranbringe. Dazu wollte der Kom­munikationsminister das entsprechende Rundfunkgremium nach eigenen Vorstellungen umgestalten, was ihm das Oberste Gericht jedoch untersagte. Dem hielt er entgegen, die gerichtliche Verfügung sei »ohne Befugnis« ergangen, weshalb sie für ihn »nichtig, unverbindlich und bedeutungslos« sei.

Ausweitung des Krieges in Gaza

Am 18. März 2025 brach die Waffenruhe zusammen, die Israel und die Hamas Mitte Januar nach über 15 Monaten kriegerischer Auseinandersetzungen vereinbart hatten und die seit 19. Januar in Kraft war. Das entsprechende Abkommen – dessen Wort­laut nicht veröffentlicht wurde – sah vor, dass die Kampfhandlungen eingestellt und israelische Geiseln gegen palästinensische Gefangene ausgetauscht würden und die israelische Armee aus dem Gazastreifen abziehen würde. Ziel sollten ein dauerhafter Waffenstillstand, die Öffnung der Grenz­übergänge und der Wiederaufbau der Küstenregion innerhalb von drei bis fünf Jahren sein.

Allerdings waren die Details der Phasen zwei und drei des Abkommens zwischen den Konfliktparteien umstritten. Das betraf insbesondere die Fragen, wer nach dem Ab­zug der israelischen Armee die Sicherheit gewährleisten würde, wer für die innere Ordnung, die Verwaltung und den Wieder­aufbau zuständig wäre und inwiefern eine Nachkriegsordnung für Gaza in einen diplo­matischen Prozess zur Beilegung des israe­lisch-palästinensischen Konflikts eingebettet werden würde. Israels Premierminister lehnte jegliche palästinensische Kontrolle über das Gebiet ab und forderte, die Hamas zu entwaffnen sowie ihre Führung und Kämpfer zu exilieren. Zugleich behielt er sich das Recht vor, jederzeit wieder militä­risch einzugreifen. Netanjahu zufolge hatte die US-Regierung Israel zugesagt, es könne nach Ende der ersten Phase zu den Militär­operationen zurückkehren und müsse weder aus dem Philadelphi-Korridor (dem Grenz­streifen zu Ägypten) noch aus der Puffer­zone entlang der Grenze zu Israel abziehen.

Drei Faktoren wirkten beim Kollaps der Vereinbarung zusammen. Erstens gerierte sich die Hamas seit Inkrafttreten der Waf­fenruhe einmal mehr als dominante Kraft im Gazastreifen. Ihre Zivilpolizei kon­trol­lierte die öffentliche Ordnung, und die Kas­sam-Brigaden inszenierten Geiselübergaben in menschenverachtender Sieger­pose. Diese Machtdemonstration verstärkte in Israel die Haltung, dass die Hamas in einer mög­lichen Nachkriegsordnung keine Rolle spie­len dürfe und zerschlagen werden müsse.

Zweitens unterminierte US-Präsident Donald Trump, der zunächst schon vor sei­nem Amtsantritt Druck aufgebaut hatte, um das Abkommen zu ermöglichen, nun selbst dessen weitere Umsetzung. Anfang Februar 2025 stellte er eine Vision vor, nach der das Küstengebiet zu einer »Riviera des Nahen Ostens« entwickelt und ein Groß­teil der Bevölkerung in Länder wie Ägypten und Jordanien umgesiedelt würde. Auch wenn der Vorstoß nur darauf abge­zielt haben sollte, die arabischen Staaten stärker in die Verantwortung für Gazas Zukunft zu nehmen: Er bewirkte eine Dis­kursverschie­bung, die das Kriegsverbrechen der Ver­treibung salonfähig machte. Netan­jahu be­zeichnete in der Folge Trumps Vision als einzig gangbare Option.

Die Diskursverschiebung kam drittens Netanjahus innenpolitischem Interesse ent­gegen, die Waffenruhe aufzukündigen. Denn dieser Schritt erlaubte ihm, Ben-Gvir in seine Koalition zurückzuholen, der im Januar das Kabinett wegen des Abkommens verlassen hatte. Zudem wäre ohnehin frag­lich gewesen, ob Netanjahu in der Regierung eine Mehrheit dafür gehabt hätte, die Vorkehrungen der Phase zwei umzusetzen – was insbesondere für den vollständigen Abzug der Armee aus dem Gazastreifen gilt.

Ablehnung des arabischen Plans

Damit rückten eine Konfliktregelung und ein Wiederaufbau des kriegszerstörten Gazastreifens in weite Ferne. Die arabischen Staaten hatten hierfür Anfang März einen Plan vorgelegt. Dieser zielt vor allem darauf ab, das Küstengebiet wieder aufzu­bauen, ohne dessen Bewohner:innen aus­zusiedeln. Er ist also ein Gegenentwurf zu Trumps »Riviera«-Vision, der die nationale Sicherheit insbesondere Ägyptens und Jor­daniens bedroht, weil sie als Aufnahme­staaten dienen sollen. Dass der Plan vor­sieht, den Gazastreifen nach einer Übergangszeit einer reformierten Palästinensi­schen Autonomiebehörde (PA) zu über­geben und eine UN-mandatierte Truppe in den palästinensischen Gebieten einzusetzen, und dass er am Ziel einer Zweistaatenregelung festhält, steht freilich im eklatanten Widerspruch zu den Positionen der israelischen Regierung. Entsprechend lehn­te sie, ebenso wie das Weiße Haus, den arabischen Plan auch umgehend ab.

Am 18. März leitete Israel neue Luftschläge und bald danach eine weitere Boden­offen­sive ein. Von nun an, so Netan­jahu, würde nur noch unter Feuer verhan­delt werden. Ziel der Militäroperation sei es, die Hamas zu zwingen, alle Geiseln frei­zu­lassen und einer Entwaffnung und Exilie­rung ihrer Führungskader und Kämpfer zuzu­stimmen.

Schon am 2. März hatte Israel – ähnlich wie zu Beginn des Krieges – eine vollständige Abriegelung des Gazastreifens ver­hängt und keine Hilfslieferungen mehr zu­gelassen, um die Hamas unter Druck zu setzen. Die humanitäre Situation spitzte sich in der Folge einmal mehr dramatisch zu. Anfang April musste das World Food Programme (WFP) alle seine Bäckereien im Gazastreifen schließen.

Gleichzeitig weitete Israel seine Militär­operation in dem Gebiet aus und ordnete erneut umfassende Evakuierungen an. Ziel sei es nun, so Verteidigungsminister Israel Katz (Likud), die Pufferzone zu vergrößern und die militärischen Kapazitäten der Hamas vollständig zu zerstören. Im März eroberte die Armee erneut den Netzarim-Korridor, der den Gazastreifen zweiteilt; Anfang April etablierte Israel einen weite­ren Ost-West-Korridor im Süden des Küs­tengebiets. Zu den über 50.000 palästinensischen Todesopfern seit Beginn des Krieges kamen nach dem Zusammenbruch der Waffenruhe bis Anfang April durch die Bombardierungen rund 1000 weitere hinzu. Allem Anschein nach ging es jetzt darum, die Bevölkerung des Gazastreifens in einer »humanitären Zone« zu konzentrieren und den Rest des Gebiets in eine unbewohnte, unbebaute und nicht bewirtschaftete Puf­ferzone zu verwandeln. Betroffen davon ist insgesamt rund ein Drittel des Gazastreifens – etwa 16 Prozent entlang der Grenze zu Israel und etwa 20 Prozent südlich des zweiten Ost-West-Korridors. Ende März wurde im israelischen Verteidigungsministerium zudem eine Migrationsabteilung eingerichtet, die die »freiwillige« Auswanderung der palästinensischen Bevölkerung Gazas organisieren soll. Dass man in einer Kriegssituation von Freiwilligkeit sprechen kann, ist allerdings zu bezweifeln. Entspre­chend kommentierte Kommunikations­minister Karhi bei einer Konferenz zur Wie­derbesiedlung des Gazastreifens bereits im Januar 2024 zynisch, im Krieg sei »Frei­wil­ligkeit manchmal ein Zustand, den man [jemandem] aufzwingt, bis er seine Zustim­mung gibt«.

Auch rief Katz die Bevölkerung in Gaza dazu auf, die Hamas zu verjagen und die Geiseln zu befreien. Damit nahm er auf die Proteste Bezug, bei denen seit der letzten Märzwoche Tausende Palästinenser ein Ende des Krieges gefordert und »Hamas raus« skandiert hatten. Dass es palästinensischen Aktivist:innen angesichts massiver Bombar­dierungen, Evakuierungsanordnungen und einer Zuspitzung der humanitären Lage gelingen könnte, einen Aufstand gegen die Hamas zu organisieren, ist aber wenig rea­listisch. Auch scheint nicht plausibel, dass die Hamas den israelischen Forderungen unter militärischem Druck und ohne ver­lässliche Zusagen nachkommen wird. Ver­treter der Hamas hatten zwar signalisiert, dass sie bereit wären, auf die Kontrol­le des Küstengebiets und eine Beteiligung an der Regierung zu verzichten. Zu einer Entwaffnung zeigten sie sich allerdings, wenn über­haupt, nur im Rahmen einer langfristigen Konfliktregelung bereit.

Zuspitzung im Westjordanland

Seit dem 21. Januar 2025 geht Israel mit der Operation »Eiserne Mauer« zudem gegen bewaffnete palästinensische Gruppierungen im Westjordanland vor. Bislang konzen­triert sich der Militäreinsatz, bei dem erstmals seit Ende der Zweiten Intifada (2000–2005) auch Kampfjets und Panzer in dem Gebiet operierten, vor allem auf die Flüchtlings­lager des nördlichen Westjordanlandes. Ver­teidigungsminister Katz betonte, die Er­fah­rungen mit der Kriegführung im Gaza­streifen würden nun auch dort angewandt.

Zuvor war es der Palästinensischen Auto­nomiebehörde nicht gelungen, die Kontrol­le über das Flüchtlingslager Jenin wiederzuerlangen. Seit Anfang Dezember 2024 hatten die Sicherheitskräfte der PA ver­sucht, sich gegen die Jenin-Brigaden durch­zusetzen. Diese hatten sich seit 2021 aus unterschiedlichen bewaffneten Grup­pie­rungen gebildet und deutlichen Zulauf wie breite Unterstützung aus der Bevölkerung erfahren. In der Folge war die Zahl der Israelis, die bei Anschlägen im Kernland und im Westjordanland getötet wurden, kontinuierlich gestiegen (2021: 11, 2022: 21; 2023: 37). Nach Beginn der israelischen Militäroperation mussten sich die Einheiten der PA letztlich zurückziehen.

Nach Angaben der UN-Behörde OCHA wurden seit Anfang des Jahres im Westjordanland 99 Palästinenser:innen durch israe­lische Sicherheitskräfte und Siedler getötet (Stand 27. März), der Großteil in den Flücht­lingslagern im Norden des Gebiets. Knapp 40.000 Palästinenser:innen wurden aus den Lagern Jenin, Tulkarem und Nur Shams vertrieben. Dabei handelt es sich um die größte Vertreibung im Westjordanland seit 1967. Israels Verteidigungsminister hat eine Rückkehr der Betroffenen auf absehbare Zeit ausgeschlossen. Ohnehin sind Wohn­häuser und Infrastruktur in den Lagern zum größten Teil zerstört worden, die Orte bis auf Weiteres unbewohnbar. Es steht zu befürchten, dass eine Ausweitung der Ope­ration (wie sie etwa am 9. April im Lager Balata bei Nablus begann) zu ähnlichen Zer­störungen und Vertreibungen an anderen Orten des Westjordanlandes führen wird. Dabei geht es auch – oder zuvorderst – um die Kontrolle des Gebiets.

Anwendung von »Souveränität«

Bereits in ihren Leitlinien von Dezember 2022 hatte die israelische Regierung den ex­klusiven und unveräußerlichen Anspruch des jüdischen Volkes auf das gesamte Land Israel – inklusive Judäa und Samaria (so der biblische Ausdruck für das Westjordanland) – festgehalten. Zugleich wurde ange­kündigt, die Siedlungstätigkeit auszubauen. Eine Zweistaatenregelung stand damit für Israels Regierung nicht länger zur Debatte. Durch Trumps Wahlsieg ermu­tigt, kündigte Finanzminister Smotrich an (der zugleich Minister im Verteidigungs­minis­te­rium ist), 2025 solle das Jahr der »Umsetzung von Souveränität in Judäa und Sama­ria« – sprich der Annexion – werden.

Dabei ist es für die Dynamik vor Ort kaum erheblich, ob die Annexion durch eine for­male Erklärung oder durch prakti­sche Maß­nahmen erfolgt. Ohnehin hat die Regierung nach Einschätzung israelischer Menschenrechtsverteidiger:innen und Jurist:innen bereits erste Schritte zur Anne­xion unter­nommen, indem sie Siedlungsangelegenheiten einer im Verteidigungsministerium neu geschaffenen Verwaltungsstelle über­tragen hat, die einen Smot­rich direkt unter­stellten zivilen Leiter hat. Explizites Ziel ist, die Situation der Sied­ler:innen zu normalisieren, das heißt, Letz­tere den Israelis im Kernland rechtlich gleichzustellen. Auch wurde durch organi­satorische Neuerungen im Ministerium die Genehmigung neuer Siedlungen erheblich beschleunigt.

Die Regierung erhöhte zudem das Budget für den Siedlungsbau deutlich, ließ die Errichtung einer beispiellosen Zahl neuer Außenposten zu, forcierte die Zerstörung palästinensischer Gebäude und verweigerte Baugenehmigungen für die palästinensische Bevölkerung in den C‑Gebieten, jenen 60 Prozent des Westjordanlandes also, in denen Israel nach den Oslo-Abkommen nicht nur die Sicherheitsverantwortung, sondern auch die Planungshoheit hat. Dort wurde durch die jetzige Regierung so viel Land zu Staatsland erklärt wie nie zuvor.

Zunahme der Siedlergewalt

Seit Amtsantritt der Netanjahu-Regierung hat auch die Siedlergewalt gegen die paläs­tinensische Bevölkerung, ihre Olivenbaumplantagen und Viehherden drastisch zuge­nommen. Dabei kommt es seitens der Sied­ler immer wieder, teils in Vergeltung für Gewalt von palästinensischen Militanten, zu pogromartigen Angriffen auf palästinensische Ortschaften, was Shin-Bet-Chef Bar als »jüdischen Terror« bezeichnete.

Einen weiteren Schub hat die Siedler­gewalt nach dem 7. Oktober 2023 erhalten. Das israe­li­sche Militär steht immer öfter tatenlos da­bei, ohne die Zivilbevölkerung gegen Über­griffe zu schützen, ist überfordert oder be­teiligt sich sogar daran. Dazu trägt auch bei, dass wegen des Krieges im Gazastreifen immer mehr Reser­vist:innen im Westjordanland eingesetzt werden, die teils aus den umliegenden Sied­lungen stam­men. Der damalige IDF-Ober­befehlshaber im Westjordanland, Yehuda Fuchs, konsta­tierte 2024, dass die Regierung effektiv auf­gehört habe, illegalen Sied­lungs­bau zu ver­hindern, und die Armee bei der Bekämpfung von Gewalt, einschließlich der von Siedlern, gescheitert sei.

Die PA als Gegner

Gleichzeitig sieht Israels Regierung die PA immer weniger als Partner, sondern als Feind, den es zu bekämpfen gilt. Nicht nur der rechtsextreme Minister für nationale Sicherheit, Ben-Gvir, wirft der PA vor, Ter­rorismus zu unterstützen, und fordert, die Kooperation mit ihr endgültig einzustellen. Auch im Likud teilen Politiker wie der Minister für regionale Kooperation, David Amsalem, oder Kommunikationsminister Karhi diese Haltung. Verteidigungsminister Katz drohte im September 2024, die PA zu zerschlagen, sollte sie bei der UN Maßnahmen gegen Israel einbringen. Im Zusammenhang mit den Verfahren vor dem Inter­nationalen Strafgerichtshof stufte Finanzminister Smotrich die PA als »unmittelbare Gefahr für den Staat Israel« ein und drängte darauf, ihren Sturz herbeizuführen. Ent­sprechend hielt er wiederholt die in Oslo vereinbarten Transferleistungen an die PA zurück und drohte, Ausnahmegenehmigungen für palästinensische Banken zu verweigern. Die PA geriet so immer wieder an den Rand des finanziellen Zusammenbruchs. Sie konnte öffentliche Dienstleistungen nur begrenzt anbieten und Gehälter nur verzögert und teilweise auszahlen. Damit wurde ihr ohnehin stark angeschlagenes Renommee in der palästinensischen Bevölkerung weiter beschädigt.

Hinzu kommt, dass Israel zunehmend darauf abzielt, die Arbeit internationaler Organisationen und Nichtregierungsorganisationen (NGOs) in den palästinensischen Gebieten einzuschränken. Ende Januar 2025 sind zwei Gesetze gegen das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flücht­lin­ge (UNRWA) in Kraft getreten. Der Orga­nisation ist es damit untersagt, auf dem Staatsgebiet Israels zu operieren – das nach israelischer Rechtsauffassung das völ­kerrechtswidrig annektierte Ost-Jerusalem einschließt –, israelischen Behörden und Offiziellen wiederum ist jeglicher Kontakt zu UNRWA verboten. Im März 2025 hat die Regierung neue Regularien verkündet, die vorsehen, dass sich alle NGOs, die in den palästinensischen Gebieten arbeiten, neu registrieren lassen müssen. Dabei haben die Behörden großen Ermessensspielraum, ob sie die Eintragungen genehmigen oder nicht. In der Knesset werden darüber hin­aus zwei Gesetzesvorlagen ähnlicher Stoß­richtung diskutiert. Dem einen Entwurf zufolge soll auf die Unterstützung von NGOs durch ausländische öffentliche Gel­der eine Steuer von 80 Prozent erhoben werden, während es entsprechend geför­der­ten Organisationen untersagt wäre, gericht­lich gegen Regierungshandeln vorzugehen. Mit der zweiten Vorlage soll jegliche Ko­ope­ration mit dem Internationalen Strafgerichtshof unter Strafe gestellt werden.

Folgerungen für deutsche Politik

Dieses Jahr feiern Deutschland und Israel 60 Jahre diplomatischer Beziehungen. Un­bestritten hat Deutschland aufgrund seiner Geschichte eine Verantwortung für jüdi­sches Leben und für Israel. Allerdings wird es angesichts des Abbaus der Gewalten­teilung in Israel und der aggressiven israeli­schen Politik in den palästinensischen Ge­bieten (und darüber hinaus auch im Liba­non und in Syrien) zunehmend schwierig, noch eine gemeinsamen Wertebasis zu finden oder zu den gleichen Schlüssen zu kommen, was Israels Sicherheit am ehesten nützt. Letztlich stellt sich die Frage, welche Kräfte in Israel Deutschland kurz- und mit­telfristig unterstützen möchte: die radikale Regierung oder die liberale Opposition, Friedenskräfte, Menschenrechtsverteidiger und die Zivilgesellschaft.

Zudem gilt es den beiden Elementen der historischen Verantwortung – für jüdi­sches Leben und Israel sowie für Menschenrechte und Völkerrecht – gleichermaßen gerecht zu werden. Dies wird für die Glaub­würdigkeit deutscher Außenpolitik in den Augen internationaler Partner auch künftig ein wichtiger Punkt sein. Nicht zuletzt des­halb sollte Deutschland im Nahen Osten nicht einer Politik das Wort reden, die das Völkerrecht unterläuft, oder selbst Völker­recht unterlaufen.

Überdies muss die deutsche Politik sich darauf einstellen, dass die US-Regierung keine Partnerin bei einer völkerrechts­basierten und auf Ausgleich in der Paläs­tina-Frage bedachten Konfliktbearbeitung mehr ist. Deutschland sollte daher umso mehr gleichgesinnte europäische und nah­östliche Partner suchen, um konstruktiv mit den aktuellen Konfliktherden umzugehen. Priorität muss dabei haben, das Blut­vergießen zu stoppen und eine weitere Zerstörung von Lebensgrundlagen im Gaza­streifen und im Westjordanland zu ver­hindern.

Dr. Muriel Asseburg ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Afrika und Mittlerer Osten. Dr. Peter Lintl ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Afrika und Mittlerer Osten.

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