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Indiens stabile Partnerschaft mit Russland

Die Beziehungen Neu-Delhis zu Moskau basieren auf Interessen und Grundvertrauen

SWP-Aktuell 2024/A 58, 15.11.2024, 4 Seiten

doi:10.18449/2024A58

Forschungsgebiete

Beim BRICS-Gipfel im russischen Kasan kam es diesen Oktober einmal mehr zur innigen Umarmung zwischen dem indischen Premierminister Narendra Modi und Russlands Machthaber Wladimir Putin. Seit im Februar 2022 die russische Voll­invasion in der Ukraine begonnen hat, gelten die engen Beziehungen zwischen Neu-Delhi und Moskau im Westen als Hindernis für eine internationale Isolation des Aggressorstaats. Doch haben die Bemühungen westlicher Staaten, Indiens Abhängigkeit von Russland durch eigene Initiativen zu reduzieren, nur durchwachsene Ergeb­nisse erzielt. Insbesondere Indiens rasant ansteigende Importe von günstigem russi­schem Rohöl verdeutlichen, dass Neu-Delhi gegenüber Moskau primär eigene Inter­essen verfolgt. Indien sieht in Russland einen vertrauenswürdigen Partner, weshalb die deutsche Indien-Politik sich nicht der falschen Hoffnung hingeben sollte, das Land werde sich von Russland abwenden.

Indien wird für Deutschland und andere westliche Staaten ein immer wichtigerer Partner in der Sicherheits-, Außen- und Handelspolitik. Trotz der zunehmenden Relevanz des Landes geht die diplomati­sche Annährung an Neu-Delhi aber mit einer gewissen Skepsis einher. Maßgeb­licher Grund dafür sind die weitreichen­den Beziehungen zu Russland, die Indien pflegt. Insbesondere seine Enthaltungen bei Resolutionen der Vereinten Nationen (VN), die den Krieg in der Ukraine betref­fen, veranlassten westliche Staaten zu einer Politik, die Indiens Abhängigkeiten von Russland verringern und Neu-Delhi letzt­lich zur Abkehr von Moskau bewegen möchte.

Für Indien steht eine solche Kehrtwende aber nicht zur Debatte. Die indische Regie­rung betrachtet das heutige Russland als wichtigen und vertrauenswürdigen Partner; dabei bewegt sie sich in der Tradition der einstigen Beziehungen zur Sowjetunion. Mit dieser schloss Indien im Jahr 1971 einen Vertrag über Frieden, Freundschaft und Zusammenarbeit. Anfang Juli 2024 erhielt der indische Premierminister Modi bei seinem Besuch in Moskau den höchsten zivilen Orden der Russischen Föderation. Die zentralen Anreize für Indien, eine strategische Partnerschaft mit Russland zu pflegen, bilden dabei rüstungs- und ener­giepolitische Interessen sowie die Sorge vor den hegemonialen Bestrebungen Chinas.

Langjährige Rüstungskooperation

In Moskau sieht Neu-Delhi einen sicherheitspolitischen Partner, der ihm in den entscheidenden Momenten seiner Geschich­te zur Seite stand. Bereits in den 1960er Jahren waren etwa 80 Prozent der militärischen Ausrüstung Indiens sowjetischer Her­kunft. Die frühe Abhängigkeit des Landes von der Sowjetunion bedeutete in der Logik des Kalten Krieges, dass Länder wie die USA den Export von Rüstungsgütern nach Indien stark einschränkten.

Nach dem Zerfall der Sowjetunion hat Indien seine Importe an militärischen Gütern auf eine breitere Basis gestellt. So wurden Frankreich, die USA und Israel in den 2010er Jahren zu wichtigen Rüstungslieferanten. Ein Abkommen, das unter anderem den Verkauf von Rafale-Kampfjets vorsieht, hat Frankreich mittlerweile sogar zu Indiens größtem Rüstungspartner ge­macht. Mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine beschleunigten sich diese Diversifizierungsbemühungen. Doch geben die aktuellen Entwicklungen nur begrenzt Anlass zu dem Befund, dass sich Indiens Abhängigkeit von Russland verringert hätte. Denn erstens dienen westliche Waf­fensysteme in vielen Bereichen eher der Erweiterung als der Ersetzung des indischen Bestands. Und zweitens bleibt bei den zur Verfügung stehenden Rüstungsgütern aus Russland eine starke Abhängigkeit, was Wartung und Instandhaltung betrifft. So ist trotz des Reputationsverlusts russischer Militärgüter weiterhin nicht zu erwarten, dass Neu-Delhi die traditionelle Zusammen­arbeit beider Länder gefährden würde.

Die Vereinigten Staaten sind in der der­zeitigen internationalen Konstellation das einzige Land, das diplomatischen Druck auf Indien ausüben könnte, seine militärischen Abhängigkeiten von Russland zu reduzieren. Die Republikaner wie auch die Demo­kraten in Washington halten Indien jedoch für einen wichtigen Gegenpol zu China im Indopazifik. Dementsprechend entschied die Biden-Regierung im Sommer 2022, den Erwerb russischer S‑400-Luftabwehrsysteme durch Indien nicht zu sanktionieren, wie es der Countering America’s Adversaries Through Sanctions Act (CAATSA) rechtlich vorsehen würde. Der von den USA so ge­schaffene Präzedenzfall für einen »indischen Exzeptionalismus« gilt in Neu-Delhi als Bestätigung der eigenen Multi-Align­ment-Politik. Das strategische Kalkül Washingtons zielt realistischerweise eher darauf, eine langfristige strategische Zusam­menarbeit mit Indien im Indopazifik zu ermöglichen. Weniger aussichtsreich er­scheint, einen Kurswechsel des Landes in der Frage des russischen Angriffskrieges herbeizuführen.

Energiepolitische Win-win-Situation

Auf energiepolitischem Feld sieht Indien in Russland eine verlässliche und günstige Quelle für seinen stetig wachsenden Roh­stoffbedarf. Seit 2021 hat sich Russland von einem vormals relativ unbedeutenden zum wichtigsten Öllieferanten Indiens entwickelt, der im Juli 2024 nicht weniger als 44 Prozent des indischen Bedarfs deckte. Auslöser für diesen Wandel waren die Sank­tionen, die Russlands Exporte von fossilen Energieträgern in Staaten wie Deutschland allmählich zum Erliegen brachten. Die EU‑Sanktionen richteten sich jedoch nicht gegen Drittstaaten, die wei­terhin russisches Öl und Gas importieren. Moskau suchte deshalb nach neuen Abneh­mern und fand in Indien einen willigen Käufer.

Diese wirtschaftliche Neuorientierung Russlands und seine relativ schwache Ver­handlungsposition kommen Indien sehr gelegen. Das Land hat selbst nur geringe Vorkommen an fossilen Energieträgern, und erneuerbare Energien lassen sich bei einer Bevölkerung von über 1,4 Milliarden Menschen nur langsam skalieren. Für seine Energiesicherheit ist Indien daher stets von anderen Staaten abhängig. Günstiges Rohöl hat im Energie-Mix des Landes zudem eine besondere politische Bedeutung, ist es doch die Grundlage für den Treibstoff, der nicht nur Verkehrs-, sondern auch soziale Mobi­lität verspricht. So sind die etwa 250 Millio­nen in Indien registrierten motorisierten Zweiräder in vielen Fällen das einzige Ver­kehrsmittel einer Familie, mit dem sich etwa das nächste Krankenhaus erreichen oder der Schulbesuch des Kindes ermögli­chen lässt. Ein günstiger Treibstoffpreis an der Tankstelle ist somit ein zentrales Ziel jeder indischen Regierung, um die Zufrie­denheit in der Bevölkerung sicherzustellen.

Für Indien ist Russland gerade wegen der westlichen Sanktionen im Bereich fossiler Energieträger ein attraktiver Partner, da Neu-Delhi sich dabei in einer Position der Stärke sieht und seine Bedingungen durch­setzen kann. Zu Letzteren zählt, dass Indien russisches Öl zu einem reduzierten Preis erhält. Außerdem wird ein großer Teil des Handels nun in russischen Rubeln abge­wickelt, was unter aktuellen Sanktions­bedingungen generell nachteilig für Russ­land ist. Im Sommer 2024 kündigten Ver­treter beider Staaten an, ihren bilateralen Handel von aktuell 65,6 Milliarden US-Dollar jährlich bis 2030 auf 100 Milliarden US-Dollar auszubauen. Die Absichtserklärung unterstreicht Indiens Entschlossenheit, seine interessenbasierte Russland-Politik auch gegen die Stoßrichtung west­licher Sanktionen zu verfolgen.

Indiens Furcht vor geopolitischer Isolation

Indien betrachtet Russland zugleich als wichtigen Partner, wenn es darum geht, die Macht des großen Regionalrivalen China einzugrenzen. Die Volksrepublik stellt seit dem chinesisch-indischen Grenzkrieg von 1962 eine Bedrohung für Indiens territoriale Integrität dar. Spätestens seit es im Juni 2020 im Galwan-Tal zu tödlichen Zusammenstößen von Grenzsoldaten beider Sei­ten kam, gilt China als größte sicherheitspolitische Gefahr für das Land. Konkret wird befürchtet, dass Peking seine Gebietsansprüche – in der Aksai-Chin-Region nordöstlich von Kaschmir und dem indi­schen Bundesstaat Arunachal Pradesh – militärisch durchsetzen könnte. Zudem beobachtet Neu-Delhi mit Sorge den wach­senden Einfluss Chinas auf andere Länder Südasiens. Insbesondere die geoökonomische und sicherheitspolitische Partnerschaft der Volksrepublik mit Pakistan, dem histo­rischen Gegenspieler Indiens, ist ein Prob­lem für das Land.

Zu Indiens Prioritäten gehört, dass sich über die beiden Nuklearmächte China und Pakistan hinaus mit Russland kein dritter regionaler Rivale entwickelt. In diesem Zu­sammenhang befürchtet Neu-Delhi vor allem, seine privilegierte Stellung in Mos­kau einzubüßen, weil sich Russland zu einem Juniorpartner der Volksrepublik ent­wickelt. Indien will sich gegenüber Russ­land als attraktiver Partner positionieren, um es unwahrscheinlicher zu machen, dass sich in einem möglicherweise größeren chinesisch-indischen Konflikt Moskau mit Peking gegen Neu-Delhi verbündet. Dabei könnte Indien seine Möglichkeiten aller­dings überschätzen. Denn bislang gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass Neu-Delhi durch seine Russland-Politik die China-Politik Moskaus zu beeinflussen vermag.

Die Hoffnung, Russland könnte Indiens geopolitischen Interessen zuträglich sein, speist sich auch daraus, dass dieser strate­gische Partner nie eine Herausforderung für die eigene Sicherheit dargestellt hat. Was das kollektive Gedächtnis indischer Politik dagegen bis heute prägt, sind die Erfahrungen mit westlichem Kolonialismus oder etwa auch die als unerwünscht wahrgenommene Entsendung eines amerikanischen Flottenverbandes in den Golf von Bengalen im Jahr 1971. Angesichts solcher erlebten Realitäten fallen antiwestliche Narrative der russischen Staatspropaganda in Indien auf fruchtbaren Boden. Doch während antiwestliche Tendenzen etwa den indischen Diskurs in den sozialen Medien weiterhin prägen, ist sich die Regierung des Landes im Kern bewusst, dass Russland gegenüber der Ukraine völkerrechtswidrig handelt. Dennoch bleibt die Erwartung un­realistisch, Neu-Delhi könnte das Vorgehen Moskaus verurteilen, denn im Gegensatz zum Rivalen China bedroht Russland nicht Indiens territoriale Integrität.

Auch multilateral ist Russland für Indien historisch wie gegenwärtig ein wichtiger Sicherheitspartner. Unter den Mitgliedern des VN-Sicherheitsrates ist es das einzige Land, das von Indien nie als Bedrohung sei­ner nationalen Souveränität wahrgenommen wurde. In der Vergangenheit hat Mos­kau sein Vetorecht in dem Gremium zu­gunsten Neu-Delhis genutzt, wenn es um Fragen des Kaschmir-Konflikts ging. Dies ist insbesondere deshalb hervorzuheben, weil sich China im Sicherheitsrat zuletzt als Anwalt Pakistans hervorgetan hat. Indien ist dort weiterhin vom Stimmverhalten mindestens einer Vetomacht abhängig, so­lange es selbst kein permanentes Mitglied des Rates ist. Auf Seiten Indiens gibt es deshalb keine Bereitschaft, die Gunst Russ­lands in bilateralen und multilateralen Kontexten zu opfern, indem man dessen Angriffskrieg verurteilt.

Russland als Teil des indischen Multi-Alignment

Indien positioniert sich als internationaler Akteur, der weiterhin danach strebt, glei­chermaßen seine Partnerschaft mit Russ­land und mit westlichen Staaten zu vertie­fen. Zentrale Treiber für die Bemühungen gegenüber Moskau sind dabei strategische Interessen und die Wahrnehmung, in Mos­kau einen verlässlichen Partner zu haben. Nach der Vollinvasion in der Ukrai­ne ist Indiens Russland-Politik in eine neue Phase getreten, in der sich der Schwerpunkt der Kooperation von Rüstungs- zu Energiefra­gen verschoben hat. Die indischen Freund­schaftsbekundungen gegenüber Russland mögen heute einen nüchterneren Ton anschlagen, doch bleibt es unter den aktu­ellen Umständen unrealistisch, dass Neu-Delhi den russischen Imperialismus öffent­lich verurteilt. Indiens Bereitschaft, seine Partnerschaftsbeziehungen zu diversifizieren, darf deshalb nicht als Schritt hin zu einer Loslösung von Russland missverstanden werden.

Aufgrund seiner interessenbasierten Außenpolitik wird Indien auch in Zukunft kein klassischer Wertepartner oder gar Alliierter des Westens sein. Deutschland und die EU sollten in der Partnerschaft mit Indien deshalb noch stärker eigene sowie gemeinsame Interessen in den Vordergrund stellen. Ein zentrales Ziel sollte sein, aus der wechselseitigen Sensibilisierung für Sicher­heitsrisiken in Europa und im Indo­pazifik die notwendigen Konsequenzen für eine stärkere rüstungspolitische Zusammen­arbeit zu ziehen. Die Kooperation in der Klimapolitik mit Indien hat zudem das Potential, Energiesicherheitsinteressen lang­fristig zu verfolgen und den gemeinsamen Handel zu stärken. Fortbestehende Ziel­konflikte hinsichtlich des russischen Revi­sionismus gilt es weiterhin im vertraulichen Dialogkontext zu diskutieren.

Tobias Scholz ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Asien.

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