Das Wahljahr 2022 hat Frankreichs Präsidenten Emmanuel Macron geschwächt. Obgleich wiedergewählt, ist sein politischer Handlungsspielraum jetzt stark eingeschränkt. Mehrheiten für seine wirtschafts- und sozialpolitischen Reformen müssen teuer erkauft werden, lassen sich vielleicht gar nicht finden. Die Auflösung der Nationalversammlung könnte ein Ausweg sein. Dass die politischen Extreme weiter gestärkt werden, kann Macron nur vermeiden, wenn er zu seinem Versprechen einer progressiven Politik zurückkehrt und die Kluft zwischen Arm und Reich verringert. Seine politische Agenda birgt Konflikte für die deutsch-französische Europapolitik. Will Berlin jedoch verhindern, dass Macrons Nachfolgerin 2027 tatsächlich Marine Le Pen heißt, sollte es die Reformagenda des französischen Präsidenten unterstützen.
Für Emmanuel Macron fällt die Bilanz des Wahljahres 2022 ernüchternd aus: Zwar ist er als Staatspräsident bestätigt worden, hat aber die absolute Mehrheit im Parlament verloren. Die Wiederwahl als Präsident gelang vor ihm nur dem Gründer der V. Republik, Charles de Gaulle, dem ersten sozialistischen Präsidenten François Mitterrand sowie dessen konservativem Nachfolger Jacques Chirac. Chirac stand bei seiner Wiederwahl im Jahr 2002 dem Rechtsextremen Jean-Marie Le Pen gegenüber.
Emmanuel Macron hat 20 Jahre später seinen zweiten politischen Machtkampf gegen Marine Le Pen nur zur Hälfte gewinnen können. Die Rechtsextreme hat ihrer Partei Rassemblement National (RN) bei den Parlamentswahlen vom 12. und 19. Juni 2022 zu 89 Abgeordnetenmandaten verholfen. Während Präsident Macron die eigene absolute Mehrheit in der Nationalversammlung eingebüßt hat, führt Le Pen nun die größte Oppositionspartei des Landes an. Sie wird diesen Umstand nutzen, ihre Partei als »notable« politische Kraft zu inszenieren und den rechtsextremen Markenkern des RN weiter zu banalisieren.
Macron: Wahlsieger und ‑verlierer
In seine zweite Amtszeit startet Macron somit zugleich als Wahlsieger und ‑verlierer. Dass seine neue Amtszeit mit einer schweren Hypothek belegt sein würde, haben bereits die Ergebnisse der Stichwahl um das Präsidentenamt am 24. April 2022 gezeigt. Lediglich ein gutes Drittel der französischen Wahlberechtigten hatte ihrem Präsidenten die Stimme gegeben. Schlimmer noch: Diejenigen, die für Macron votiert haben, taten dies zumeist, um einen Wahlsieg Le Pens zu verhindern – nicht aber, weil sie das Programm des Präsidenten unterstützen. Die Rechtsextreme hat es geschafft, ihr Ergebnis von 34 Prozent im Jahr 2017 auf über 41 Prozent im Jahr 2022 zu verbessern und den Rückstand auf Macron von 10 Millionen auf 5,5 Millionen Stimmen nahezu zu halbieren.
Demokratische Malaise
Die Parlamentswahlen vom Juni 2022 waren ein weiterer Beleg für Frankreichs demokratische Malaise, die sich vorrangig in zwei Dingen manifestiert: einem Erstarken der politischen Extreme und einer – nunmehr strukturell – geringen Wahlbeteiligung.
Starke politische Extreme
Seit Juni 2022 entfallen 164 der 577 Parlamentssitze auf den rechtsextremen RN von Marine Le Pen (89 Sitze) und die linksextreme La France Insoumise (LFI) von Jean-Luc Mélenchon (75 Sitze). Beide Parteien konnten die Zahl ihrer Abgeordneten deutlich steigern, der RN von 8 auf 89, die LFI von 17 auf 75 Mandate. Ihren Stimmenzuwachs verdanken sowohl die Rechts- als auch die Linksextremen ihrer Forderung nach bestimmten Maßnahmen, um den Kaufkraftverlust insbesondere der einkommensschwächeren Bürgerinnen und Bürger einzudämmen. Dazu gehörte etwa, die Benzinpreise »einzufrieren« und den Mindestlohn zu erhöhen. Auch die von Macron unmittelbar vor den Präsidentschaftswahlen angekündigte Anhebung des Renteneintrittsalters auf 65 Jahre spielte eine gewichtige Rolle. 75 Prozent der Anhängerinnen und Anhänger Le Pens und 85 Prozent derjenigen Mélenchons befürworteten die Möglichkeit, bereits mit 60 Jahren (bei 40 Beitragsjahren) in den Ruhestand gehen zu können.
Im Zuge der Parlamentswahlen hatte sich ein linkes Wahlbündnis gebildet, die Nouvelle Union Populaire Écologique et Sociale (Nupes), zu dem sich LFI, Parti Communiste Français (PCF), die grüne Partei Europe Écologie – Les Verts (EELV) sowie Teile der Parti Socialiste (PS) zusammengeschlossen hatten. Angeführt wurde es von LFI. Dem Bündnis Nupes ist es zwar gelungen, das legislative Gewicht der Linken insgesamt zu stärken. Mit 151 Mandaten verfehlte es aber sein Ziel, die Mehrheit der Abgeordnetensitze zu erringen und Präsident Macron in eine »Cohabitation« zu zwingen. Darüber hinaus konnten sich die in Nupes zusammengefundenen Parteien nicht darauf verständigen, nach der Wahl vereint zu bleiben und in der neuen Assemblée Nationale als Fraktion in Erscheinung zu treten.
Umso historischer ist die Dimension des Abschneidens des RN, der erstmals seit 1986 wieder in Fraktionsstärke in der Nationalversammlung vertreten ist. Bei den Parlamentswahlen 1986 bekam die Partei 35 Mandate – allerdings wurde damals nach proportionalem Wahlrecht abgestimmt, das »kleinere« Parteien traditionell begünstigt. 2022 ist dem RN mit einer Verzehnfachung seiner Abgeordnetensitze (im Vergleich zu 2017) ein Quantensprung gelungen. Als größte Oppositionspartei verfügt er nun über beträchtliche legislative Machtmittel.
Das Erstarken der politischen Extreme ist einer der Gründe, warum Emmanuel Macron mit seinem Wahlbündnis Ensemble! keine absolute Mehrheit in der Nationalversammlung erreichen konnte. Ensemble! war ein Zusammenschluss der drei Parteien Renaissance (ehemals La République en Marche, LREM), MoDem und Horizons, der 250 der 577 Abgeordnetenmandate gewinnen konnte. Neben dem Verlust der absoluten Mehrheit war für Macron besonders bitter, dass seine Partei fast die Hälfte ihrer Mandate verloren hat: Zum Amtsantritt Macrons 2017 war LREM mit 314 Abgeordneten in die Assemblée Nationale eingezogen, 2022 muss sie sich unter dem neuen Namen Renaissance mit 170 Sitzen begnügen.
Dass die Urnengänge 2022 somit zuvorderst »Anti-Macron-Wahlen« waren, hatte der Präsident bereits am Abend seiner Wiederwahl erkannt. Er räumte ein, ein Großteil der Wählerinnen und Wähler habe nicht für ihn gestimmt, »um [s]eine Ideen zu unterstützen, sondern um einen Damm gegen die extreme Rechte zu errichten«. Dass diese front républicain, die bisher verhindert hatte, dass Marine Le Pens RN wahrnehmbare Erfolge bei nationalen Wahlen erzielen konnte, nunmehr weniger wiegt als die front anti-Macron, offenbarten die Parlamentswahlen knapp zwei Monate später: In 110 Wahlkreisen fand die Stichwahl zwischen Kandidatinnen und Kandidaten des RN und jenen des Präsidentenbündnisses Ensemble! statt. In 62 Fällen lagen die Bewerber und Bewerberinnen des RN vorn.
Geringe Wahlbeteiligung
Einem Großteil der französischen Wahlbevölkerung missfällt, dass die politische Landschaft ihres Landes dreigeteilt ist in eine extreme Linke, eine extreme Rechte und eine liberale Mitte. Ihre Unzufriedenheit drückten die Wahlberechtigten aus, indem sie nicht zur Wahl gingen – in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen enthielten sich 26 Prozent der Wählerinnen und Wähler, der Stichwahl blieben 28 Prozent fern. Bei den Parlamentswahlen lag die Wahlenthaltung im ersten Durchgang bei 52, im entscheidenden zweiten bei 54 Prozent.
Insbesondere die jüngere Generation sieht sich nicht repräsentiert: Drei Viertel der 18- bis 24‑Jährigen haben sich der ersten Runde der Parlamentswahlen verweigert. Demgegenüber lag die Nichtbeteiligung in der Gruppe der über 64‑Jährigen bei nur gut einem Drittel.
Neben dem Alter war bei den diesjährigen Wahlen das Haushaltseinkommen wahlentscheidend, nicht aber der Beruf. Bei den Präsidentschaftswahlen blieb jeweils ein Drittel der Führungskräfte, der Angehörigen mittlerer Berufe und der Arbeiterschaft den Urnen fern, bei den Angestellten waren es etwas weniger. Im Unterschied dazu enthielten sich 40 Prozent der Wahlberechtigten, die in Umfragen angaben, ihr Haushaltseinkommen liege unter 1250 Euro pro Monat, und 32 Prozent derjenigen, deren Haushaltseinkommen zwischen 1250 und 2000 Euro beträgt. Von den Wahlberechtigten, die über ein monatliches Haushaltseinkommen zwischen 2000 und 3000 Euro verfügen, gaben 25 Prozent ihre Stimme nicht ab, in der Kategorie darüber waren es 22 Prozent.
Das bedeutet, fortan markieren Alter und die Kluft zwischen Arm und Reich eine politische Grenze in Frankreich: Die gut verdienenden oder üppige Pensionen beziehenden Älteren unterstützen Emmanuel Macron, die prekär Beschäftigten tendieren zu Marine Le Pen, die jungen Menschen schließlich stimmen für ein von Jean-Luc Mélenchon gefordertes gerechteres Sozialsystem.
Konsequenzen für Frankreich
Bei seiner Amtseinführung als wiedergewählter Präsident hat Macron betont, seine zweite Amtszeit werde keine »Fortsetzung« der ersten sein, sondern er verstehe sich als »neuer Präsident mit einem neuen Mandat«. Den Bürgerinnen und Bürgern seines Landes versprach er, »die Reformen nicht aneinanderzureihen, als wolle man dem Volk Fertiglösungen vorsetzen«. Vielmehr werde er »eine neue Methode erfinden, die sich von den abgenutzten Ritualen und Choreographien entfernt«, und stellte ein besseres Zusammenspiel von »Regierung, Verwaltung, Parlament, Sozialpartnern, Vereinen und politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Akteuren aus dem ganzen Land« in Aussicht. Entschlossen werde er für Frankreich und Europa handeln, »einen neuen europäischen Frieden schaffen und neue Autonomie auf unserem Kontinent«.
Verschiedene politische Kalküle
Viele dieser Vorhaben wird der Präsident indes nicht umsetzen können – dafür verfolgen seine politischen Opponenten zu unterschiedliche Strategien. Bereits in den ersten Tagen der neuen politischen Zeitrechnung in Frankreich ist klar geworden, dass Jean-Luc Mélenchon seine Partei LFI auf eine Fundamentalopposition gegenüber Präsident Macron und seiner Regierung einstimmt. Allen Reforminitiativen, die schädlich für das Land seien, werde man eine Absage erteilen. Diesem Kurs schließen sich bislang auch weite Teile der Grünen, der Sozialisten und der Kommunisten an.
Im Unterschied zu Mélenchon definiert Marine Le Pen für ihre Partei die Rolle einer konstruktiven Partnerin. Le Pen möchte den RN schnell ins politische Spiel integrieren und damit seine »Notabilisierung« erreichen. Mittelfristig strebt sie an, eigene Gesetzesvorhaben einzubringen und dafür Mehrheiten zu gewinnen. Einen ersten Erfolg konnte sie verbuchen, als der RN die notwendige Zustimmung von Macrons Parteienbündnis und von den Konservativen (Les Républicains) erhielt, um die zwei Posten als Vizepräsidenten der Nationalversammlung einzunehmen, die ihm zustehen.
Die Konservativen lehnten ihrerseits das Angebot Präsident Marons ab, eine Koalition zu schmieden. Die 62 Mandate, die sie bei den Parlamentswahlen verteidigen konnten, hätten dem Präsidentenbündnis in der Nationalversammlung die absolute Mehrheit (die bei 289 Stimmen liegt) garantiert. Gleichwohl möchte sich die Partei nicht auf die Rolle einer Mehrheitsbeschafferin für Macron reduzieren lassen.
Vor dem Hintergrund dieser ungewöhnlichen politischen Gemengelage hat Präsident Macron zwei Möglichkeiten, seine neue Amtszeit zu gestalten.
Projektmehrheiten beschaffen
Die schwierigere Option für Emmanuel Macron besteht darin, für alle Gesetzesvorhaben und ‑änderungen Mehrheiten in der Nationalversammlung zu finden. Dass er diesen Versuch wagen will, machte seine Premierministerin Élisabeth Borne in ihrer Regierungserklärung vom 6. Juli 2022 deutlich. In der Assemblée Nationale mahnte sie die Abgeordneten zum Kompromiss: »Eine neue Seite unserer politischen und parlamentarischen Geschichte beginnt: die der Projektmehrheiten. Gemeinsam mit meiner Regierung werde ich unermüdlich daran arbeiten.«
Um die Kompromissfindung zu begünstigen, macht die Regierung fast allen politischen Kräften Angebote: Der Linken stellt sie die Verstaatlichung des Energieunternehmens EDF in Aussicht und verspricht eine »inklusivere« Gesellschaft, was auch die Reform der staatlichen Beihilfen für Menschen mit Behinderung einschließt. Renten und zahlreiche Sozialleistungen, insbesondere das Kindergeld, die Aktivitätsprämie oder die Wohnbeihilfe, will die neue Regierung erhöhen und damit vergessen machen, dass Macron zu Beginn seiner ersten Amtszeit ebensolche Hilfen gekürzt hat, was seinen Ruf als »Präsident der Reichen« begründet hat.
Den Grünen sichert die Regierung »Radikalität« im Kampf für das Klima zu und betont, die Klimarevolution werde nicht auf Verzicht beruhen, sondern aus Innovationen, neuen Branchen und zukunftsorientierten Arbeitsplätzen bestehen.
Den Konservativen, auf deren Unterstützung Präsident Macron weiter in besonderem Maße zählt, macht seine Regierung gleich drei Angebote: Sie setzt den Kampf gegen Unsicherheit gleich mit dem Kampf für »Chancengleichheit« und nimmt so ein Thema auf, das bisher im Profil Emmanuel Macrons gefehlt hat. Darüber hinaus verspricht sie, zu größerer Haushaltsdisziplin zurückzukehren: »Unsere Ziele sind klar: 2026 müssen wir damit beginnen, die Schulden zu verringern. Im Jahr 2027 müssen wir das öffentliche Defizit auf unter 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts senken.« Schließlich hält sie an der Rentenreform fest, die auch die Konservativen für erforderlich halten. Ausdrücklich kein Kooperationsangebot erging an LFI und RN.
Dass dieser Weg jedoch nicht über die gesamte zweite Amtszeit des Präsidenten hinweg funktionieren dürfte, haben bereits die Auseinandersetzungen um das erste Gesetzespaket gezeigt. Mit ihm versucht die Regierung, die Kaufkraft der Bevölkerung zu verbessern. Weil eine Entlastung der Bürgerinnen und Bürger in Zeiten steigender Energiepreise und galoppierender Inflation allen Parteien am Herzen liegt, war es folgerichtig, dieses Gesetz an den Beginn der Amtszeit zu stellen. Um den Gesetzesentwurf durch den parlamentarischen Prozess zu bekommen, hat Macron dennoch einen sehr hohen Preis bezahlt: Der Entwurf sieht vor, Renten und diverse Sozialleistungen rückwirkend zum 1. Juli 2022 um 4 Prozent zu erhöhen, den Tankrabatt von 18 Cent je Liter auf 30 Cent anzuheben sowie Geringverdiener zu unterstützen, indem sie Lebensmittelzuschüsse erhalten und Mieterhöhungen begrenzt werden. Angestellte können von ihrem Arbeitgeber künftig jährlich eine abgabenfreie »Macron-Prämie« von bis zu 3000 Euro bekommen, der Energiekonzern EDF wird verstaatlicht.
Trotzdem votierten LFI und die große Mehrheit der Grünen gegen den Entwurf, Kommunisten und Sozialisten enthielten sich, während die Konservativen und der RN mit den Macron nahestehenden Parteien für den Text stimmten. Den zur Finanzierung dieser Maßnahmen notwendigen Nachtragshaushalt 2022 in Höhe von 44 Milliarden Euro unterstützen (neben dem Präsidentenbündnis) allein die Konservativen. Der Nachtragshaushalt treibt die französische Staatsverschuldung, die bereits bei 115 Prozent des Bruttoinlandsprodukts liegt, weiter in die Höhe.
Dass Emmanuel Macron die Politik der Reformmehrheiten gleichwohl weiterführen will, verdeutlicht der Blick auf die politischen Vorhaben, die sich die Regierung für den Herbst 2022 vorgenommen hat: etwa ein Immigrationsgesetz, über das Abschiebungen von Straftätern erleichtert werden sollen und das einen Sprachtest zur Bedingung für Aufenthaltsgenehmigungen macht. Macrons Werben um die 62 Stimmen der Konservativen bei diesem und anderen Vorhaben stärkt jedoch ebenfalls Marine Le Pen, die bei ihrer Wählerschaft sowohl mit sozialpolitischen Themen punkten kann als auch mit Vorhaben, die der französischen Bevölkerung eine Vorzugsbehandlung versprechen. Ihre Strategie, konstruktiv an der Gesetzgebung mitzuwirken und ihre Partei weiter zu »normalisieren«, geht bislang auf.
Seine weiteren Reformprojekte wird Macron indes nicht ohne Zustimmung von Grünen und Sozialisten durchführen können. Das gilt in besonderem Maße für sein Vorhaben, den ökologischen Umbau des Landes per Gesetz zu regeln, desgleichen die Förderung erneuerbarer Energien und die Reduzierung des Energieverbrauchs um 10 Prozent bis 2024. Noch haben Grüne und Sozialisten sich nicht entschieden, ob bzw. inwieweit sie mit Macron zusammenarbeiten werden. Lehnen sie dessen Pläne weiterhin ab oder enthalten sich der Stimme, dürfte Macron auch mit seinem wichtigsten Vorhaben scheitern: der Rentenreform. Hier wird er erneut zuvorderst auf die Konservativen zugehen. Deren Zustimmung könnte jedoch ins Wanken geraten, nicht zuletzt weil die übrigen Parteien die Bevölkerung mobilisieren werden, um die Rentenreform einmal mehr mittels Streik zu Fall zu bringen. Sollten die Konservativen gegen die Reform votieren, kann man davon ausgehen, dass der Präsident das Experiment, über Projektmehrheiten zu regieren, für gescheitert erklärt.
Nationalversammlung auflösen
Macron verbliebe dann eine zweite Option: die Nationalversammlung aufzulösen und Neuwahlen zu veranlassen. Nach Artikel 12 der französischen Verfassung kann der Präsident der Republik »nach Beratung mit dem Premierminister und den Präsidenten der Kammern die Nationalversammlung für aufgelöst erklären. Die allgemeinen Wahlen finden frühestens zwanzig und spätestens vierzig Tage nach der Auflösung statt.«
In der seit 1958 bestehenden V. Republik wurde bisher fünfmal davon Gebrauch gemacht. Charles de Gaulle (1962 und 1968) und François Mitterrand (1981 und 1988) lösten die Nationalversammlung aufgrund innenpolitischer Krisen oder fehlender Mehrheiten auf, beide erreichten jeweils bei den folgenden Wahlen die Mehrheit. Jacques Chirac hingegen griff 1997 ohne Not zu diesem Mittel; er verfügte über eine Mehrheit im Parlament. Da aber schwierige und unpopuläre Entscheidungen anstanden, zog er die Parlamentswahl um ein Jahr vor mit dem Ziel, seine parlamentarische Mehrheit langfristig zu sichern. Das Kalkül ging nicht auf – Chirac verlor seine Mehrheit und musste sich in eine »Cohabitationsregierung« mit den Sozialisten schicken.
Emmanuel Macron könnte sich, analog zu François Mitterrand, durch die Auflösung der Nationalversammlung und Neuwahlen mehr politischen Handlungsspielraum zurückerobern wollen. Bei diesem Unterfangen ginge er indes ein hohes Risiko ein, denn die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit seiner Politik ist weiterhin groß. Überdies ist das Land heute politisch dreigeteilt; das bipolare Parteiensystem, in dem de Gaulle, Mitterrand und Chirac regierten, existiert nicht länger. Und schließlich: Je später Macron die Nationalversammlung auflöst, desto weniger kann er auf ein Bündnis mit der Partei Horizons zählen, der Édouard Philippe vorsteht, von 2017 bis 2020 erster Premierminister unter Macron. Es gilt nämlich als sehr wahrscheinlich, dass sich Philippe 2027 in das Rennen um den Élysée-Palast begeben und daher gezwungen sein wird, eigene politische Akzente zu setzen.
Konsequenzen für Deutschland und Europa
Deutschland wie die Europäische Union (EU) sollten sich auf zwei unterschiedliche Phasen in der zweiten Amtszeit Macrons einstellen: In der ersten Zeit wird der Präsident eine Politik der Reformmehrheiten betreiben. Im Vordergrund werden die Themen Kaufkraft und Inflation, Soziales und Renten sowie Energie und Klima stehen. Sein Ziel wird sein, das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger zurückzugewinnen und sich eine gute Ausgangsposition für Neuwahlen zu sichern. Entsprechend wird Macron in dieser Phase sehr viel politische Energie darauf verwenden, innenpolitische Kompromisse auszuhandeln – und dafür auch von seinem Versprechen abrücken, Frankreichs Staatsschulden abzubauen.
Vor diesem Hintergrund wird Präsident Macron in der EU dafür werben, weitere Konjunkturpakete zu schnüren und neue Fonds zu entwickeln, mit deren Hilfe die Mitgliedstaaten die Folgen des Ukraine-Krieges für ihre Bevölkerungen und Industrien abmildern können. Auch wird sich der französische Präsident in dieser Phase für eine Reform des Stabilitäts- und Wachstumspaktes einsetzen, um mehr finanziellen Spielraum für seine innenpolitischen Reformvorhaben zu gewinnen. Konflikte mit Berlin sind in dieser Phase also vorprogrammiert, wenn Berlin sich weigert, die Maastricht-Kriterien weiterhin auszusetzen oder zu reformieren. Doch die Bundesregierung sollte stets im Hinterkopf behalten, dass Macron im Verlauf seines Mandats gezwungen sein wird, die Nationalversammlung aufzulösen, um eine innenpolitische Blockade zu umgehen.
Gelingt es Macron, die demokratische Malaise Frankreichs mittels einer entschiedenen Sozialpolitik zu überwinden und die wahlentscheidende Kluft zwischen Arm und Reich zu verringern, hätte er in der zweiten Phase seiner Amtszeit mehr Spielraum, sich den Zukunftsfragen der EU zuzuwenden – der Europäischen Politischen Gemeinschaft, der Autonomie der Union, dem Frieden in Europa. Um diese Themen im deutsch-französischen Gleichklang zu bearbeiten, sollte die deutsche Europapolitik für sich das Ziel formulieren, dass Emmanuel Macron seine innenpolitische Reformagenda realisieren kann. Um den wachsenden sozialen Unterschieden in seinem Land entgegenzuwirken, bedarf Macron Berlins Unterstützung. Es wäre wichtig, dass sich die Bundesregierung klar zur Autonomie der EU in der Gesundheits- und Energiepolitik bekennt und Impulse zugunsten einer einheitlichen Sozial- und Arbeitsmarktpolitik setzt.
Es mag wohlfeil klingen, doch ist es wahrscheinlicher als je zuvor: Sollte Macron scheitern, dürfte seine Nachfolgerin 2027 Marine Le Pen heißen. Sie befindet sich seit den Parlamentswahlen im Juni in einer sehr komfortablen Machtposition – die in den kommenden Monaten durch eine rigide deutsche Europapolitik nicht noch weiter gestärkt werden sollte.
Dr. Ronja Kempin ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe EU / Europa.
Julina Mintel ist studentische Mitarbeiterin in der Forschungsgruppe EU / Europa.
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