In Großbritannien sind die Unsicherheiten über die Höhe der Steuerausfälle und der zu zahlenden Hilfen wegen des Brexits und der Covid-19-Pandemie groß. Dennoch erhielt das britische Militär eine Zusage vom Finanzministerium über 4 Milliarden Pfund zusätzlich, jedes Jahr, für die nächsten vier Jahre. Das Vereinigte Königreich unterstreicht damit seine Bestrebungen nach sicherheitspolitischer Unabhängigkeit und will sich, insbesondere den USA gegenüber, als verlässlicher Partner erweisen. Es erkauft sich mit der Erfüllung des 2-Prozent-Ziels der Nato auch Freiheiten für seine »Global Britain«-Agenda. Großbritanniens Fokussierung auf eine weltweite Einsetzbarkeit seiner Kräfte und neue Technologien macht Streichungen an anderen Stellen wahrscheinlich. Die dann entstehenden (Fähigkeits-)Lücken müssten von Alliierten gefüllt werden.
Die Erhöhung des britischen Verteidigungsetats soll ein deutliches Signal an Verbündete, vor allem die USA, und an potentielle Gegner senden. Der Zeitpunkt dafür ist nicht zufällig: Der neue US-Präsident Joe Biden ist kein Brexit-Befürworter. Militärische Verlässlichkeit– das scheint Londons Maxime zu sein – könnte dazu beitragen, das Spezielle in der »special relationship« zu erhalten. Die im November 2020 bekanntgegebene Erhöhung sieht vor, den Finanzrahmen des Verteidigungsministeriums (MoD) über vier Jahre mit weiteren 16,5 Milliarden Pfund zu alimentieren. Großbritannien erfüllt derzeit bereits das 2-Prozent-Ziel der Nato. Der Verteidigungshaushalt hat momentan ein Volumen von 41,5 Milliarden Pfund. Er soll zudem jährlich um 0,5 Prozent über dem Inflationswert wachsen. Insgesamt stehen dem MoD damit circa 24,1 Milliarden Pfund extra zur Verfügung.
Der Budgeterhöhung gegenüber steht eine Finanzierungslücke von bis zu 13 Milliarden Pfund im Ausrüstungsplan 2019–2029 des MoD. Der von Premierminister Boris Johnson angekündigte Fähigkeitsaufbau in der Cyber- und Weltraumtechnologie ist dort nur in Teilen enthalten. Schwer vorhersagbar sind Kostensteigerungen, die durch Zölle nach dem Brexit und einen weiteren Wertverlust des Britischen Pfundes entstehen könnten, das seit 2015 schon circa 25 Prozent gegenüber dem Euro nachgelassen hat.
Die Erhöhung des Verteidigungsetats ist zugleich eine Investition in die eigene Industrie, als Technologieentwicklungs- und Beschäftigungsprogramm. 10 000 Arbeitsplätze sollen jährlich entstehen. Das Geld wäre jetzt zwar ausreichend, um die bestehenden Lücken zu füllen. Da damit aber zusätzliche Projekte finanziert werden sollen, wird das MoD priorisieren, das heißt bestimmte Programme kürzen oder streichen müssen. Erwartungsgemäß werden Projekte, die die eigene Wirtschaft stärken (z. B. die Entwicklung des britischen Future Combat Air Systems »Tempest«), einen gewissen Bestandsschutz genießen.
Welche Priorisierungen das MoD tatsächlich vornimmt, ist von weiteren politischen Vorgaben abhängig. Ende Januar 2021 soll der Integrated Security, Defence and Foreign Policy Review (Integrated Review) erscheinen, eine strategische Analyse zu allen Aspekten der internationalen und nationalen Sicherheitspolitik. Schon jetzt ist deutlich, dass Großbritannien nach dem Brexit einen strategischen »Reset« anvisiert. London setzt bewusst auf sichtbare militärische Stärke, um seine globalen Ambitionen zu unterstreichen. Sie ist Teil seiner »Global Britain«-Strategie, die das Vereinigte Königreich nach dem Brexit international stärken und weltweit besser vernetzen soll. Gleichwohl wird Großbritannien europäische Partner brauchen, beispielsweise im Schiffsbau.
Prioritäten
Politisch sind erste Vorgaben gemacht: Neben der Erhaltung seines Potentials zur nuklearen Abschreckung und der Stärkung der Marine will Großbritannien seine Cyber- und Weltraumfähigkeiten ausbauen. Die Streitkräfte sollen technisch auf die Zukunft ausgerichtet und im Sinne der »Global Britain«-Strategie aufgestellt werden. Das heißt, die Zielkategorien sind weltweite Einsetzbarkeit, dimensionenübergreifender Ansatz, Digitalisierung und Adaption neuer Technologien.
Trident, das britische Nuklearprogramm, beansprucht insgesamt circa 18 Prozent der verfügbaren Mittel des Verteidigungshaushalts. 41 Milliarden Pfund sind bereits für die in Planung befindlichen »Dreadnought«-U‑Boote, den ab 2030 geplanten Ersatz der alternden »Vanguards«, veranschlagt. Nach dem Brexit könnte sich die Zulieferung benötigter Teile aus der Europäischen Union, verzögern und/oder verteuern. Die dazugehörige U-Boot-Infrastruktur wird ebenfalls in Stand gesetzt. Die Projekte liegen bis zu sechs Jahre hinter dem Zeitplan zurück und werden schon jetzt über 1,35 Milliarden Pfund mehr kosten. Zusätzlich sollen die alten Trägerraketen überholt und die Gefechtsköpfe durch eine Neuentwicklung ersetzt werden. Die dadurch entstehenden Mehrkosten könnten auf Kosten anderer Programme gehen.
Gleiches gilt für das Ziel, langfristig eine Flugzeugträgerkampfgruppe einsatzbereit zu haben. Die beiden Flugzeugträger sind bereits fertiggestellt. Die HMS Queen Elizabeth soll bereits 2021 in den Indopazifik entsandt werden. Sie wird zunächst auch Flugzeuge des US Marine Corps mitführen, denn die erforderlichen 24 F35-Jets sind noch nicht geliefert. Insgesamt wurden bisher 48 Stück bestellt, weitere könnten folgen. Der Großteil der Flotte soll seinen Schwerpunkt zwar weiterhin im Atlantik haben, aber die Flugzeugträger binden Kräfte, zumal die britische Marine auf lange Sicht befähigt werden soll, die Eskorte ohne Unterstützung zu stellen. Die Royal Navy soll dazu unter anderem mit 13 neuen Fregatten ausgestattet werden. Kann dies nicht realisiert werden, braucht es Partner zum Begleiten oder um übrige Aufgaben zu übernehmen.
Im Wettlauf der Großmächte um die militärische Nutzung des Cyber-, Informations- und Weltraums plant Großbritannien eine Agentur für künstliche Intelligenz, eine nationale »Cyber Force« und ein eigenes »Space Command«. Zudem will das Vereinigte Königreich bis 2022 die Fähigkeit zum Start eigener Weltraumraketen entwickeln. Zusätzliche Investitionen in defensive wie offensive Fähigkeiten in diesen Bereichen erscheinen unabdingbar, um im Kampf in der »Grauzone«, das heißt unterhalb der Schwelle eines bewaffneten Konflikts, nicht den Anschluss an Russland und China zu verlieren.
Die Verteidigung des insularen Königreichs selbst und seiner Überseegebiete hat für London oberste Priorität. Dieses zweifache Erfordernis setzt unter anderem die Verfügbarkeit leichter Kräfte voraus, die per Schiff oder Flugzeug an den Einsatzort gebracht werden können. Militärische Macht lässt sich aber auch durch weitreichende Waffen, Drohnen, Flugzeuge und Instrumente im Cyber- und Weltraum projizieren.
Die Frage, welche konventionellen Fähigkeiten in Zukunft essentiell (»sunrise«) und welche obsolet (»sunset«) sein werden, beherrscht momentan die Diskussion in Großbritannien. In den Fokus sind insbesondere Kampfpanzer gerückt. Es ist wahrscheinlich, dass deren Zahl im Zuge der notwendigen Erneuerung der Waffensysteme verringert wird. Die Frage nach dem Personalumfang des Heeres wird ebenfalls debattiert. Bisher ist es nicht gelungen, die dort offenen Dienstposten zu füllen. Von den 82 000 verfügbaren Stellen sind 9 000 unbesetzt. Den Schwierigkeiten bei der Nachwuchsgewinnung könnte mit einer mittelfristigen Truppenreduktion auf 65 000 begegnet werden. Die angekündigte »Warfighting Division«, die 2025 einsatzbereit sein soll, könnte demnach kleiner ausfallen. Ihr Aufbau wird sich wahrscheinlich an den Erfordernissen der globalen Agenda orientieren. Die Nato hätte damit weniger Soldaten und Panzer an Land zur Verfügung.
Auswirkungen auf Partner
Der kommende US-Präsident hat deutlich gemacht, dass er das Vereinigte Königreich als Verbündeten in Europa sieht, von Asien war bisher keine Rede. Der wichtigste europäische Alliierte sei Deutschland, so Antony Blinken, der kommende US-Außenminister. Die (wirtschaftlichen) Beziehungen zur EU sind für die USA ebenfalls von großer Relevanz. Was das künftige amerikanisch-britische Verhältnis betrifft, ist die politische Ausgangslage aufgrund des Brexits und des damit verknüpften Schicksals des Karfreitagsabkommens schwierig. Änderungen am Status der irisch-nordirischen Grenze könnten zu Spannungen zwischen Washington und London führen. Insgesamt ist fraglich, ob die Erfüllung des 2-Prozent-Ziels, der Kauf von amerikanischen Systemen und erhöhte militärische Einsatzbereitschaft für eine »Sonderbeziehung« des Vereinigten Königreichs mit den USA reichen werden. Diese braucht London aber für eine bevorzugte Behandlung bei Freihandelsabkommen und (Waffen-)Entwicklungen.
Diese Unsicherheiten bieten Deutschland und Frankreich die Chance, Großbritannien wieder näher an die EU zu führen. Dazu bedarf es gemeinsamer Projekte, beispielsweise in der Rüstungskooperation oder in der (Weltraum-)Technologieentwicklung.
Die Nato bleibt für Großbritannien die tragende Säule der europäischen Verteidigung. Handlungsleitend für die Streitkräfteentwicklung des Vereinigten Königreichs wird aber sehr wahrscheinlich die »Global Britain«-Agenda sein, deren Fokus wie skizziert auf dem Ausbau maritimer militärischer Fähigkeiten liegt. In den Verhandlungen innerhalb der Nato darüber, wer welche Fähigkeiten einbringen und wie europäische Verteidigung organisiert sein soll, hat Großbritannien einen Vorteil. Es erfüllt die Investitionsziele. Der Verweis auf die Kosten der Aufrechterhaltung des strategischen Abschreckungspotentials könnte von den Briten außerdem dazu genutzt werden, der Forderung nach einer landbasierten konventionellen Aufrüstung entgegenzutreten. Die Nato-Planungen der Gesamtverteidigung müssten sich dann verstärkt an Großbritannien ausrichten. Lücken, etwa bei Panzern oder Artilleriesystemen, müssten die Partner füllen. Das würde den Abstimmungsbedarf unter den übrigen Europäern erhöhen. Die Aufgabe, die potentiell negativen Effekte für die europäische Säule in der Nato zu kompensieren, sollte nicht allein Deutschland und Frankreich zufallen. Beide werden als Vermittler in Europa und gegenüber Großbritannien gebraucht. Berlin sollte dazu eine stärkere Verbindung nach London aufbauen und weiterhin trilaterale Formate nutzen.
Fazit
Die Nato-Verteidigung könnte durch einen Alleingang Londons im Zeichen der britischen »Unabhängigkeitsagenda« nach dem Brexit zunächst geschwächt werden. Es ist zumindest wahrscheinlich, dass eine Umverteilung der Lasten notwendig wird. Die Kontinentaleuropäer sollten sich in der Nato und der EU auf eine gemeinsame Linie verständigen hinsichtlich der Frage, wie mit Großbritannien in Zukunft sicherheits- und verteidigungspolitisch umgegangen werden soll. In den Brexit-Verhandlungen ist dieses Thema bisher ausgeklammert worden. Dass London in die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik und in Projekte im Rahmen der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit eingebunden werden kann, erscheint derzeit unwahrscheinlich. Das Vereinigte Königreich wird zumindest in naher Zukunft auf binationale Kooperation setzen, aber diese muss aus deutscher Sicht den gemeinsamen europäischen Anstrengungen nützen. Das 2018 zwischen dem Bundesministerium der Verteidigung und dem MoD unterzeichnete »Joint Vision Statement« bietet bereits Anknüpfungspunkte für eine Vertiefung der Partnerschaft. Gemeinsame Übungen, eine engere und intensivere maritime Kooperation, zum Beispiel bei der Begleitung eines Flugzeugträgers, und ein Ausbau der gemeinsamen Ausbildung sind geeignet, die Integration zu verbessern und die gegenseitige Verbindung zu festigen.
Mit dem Treffen der E3-Verteidigungsminister im August ist politisch ein Anfang gemacht. Das Format bietet sich neben bilateralen Treffen als Forum an, weil es die deutsch-französische Gemeinsamkeit unterstreicht, und sollte fortgesetzt werden. Ein deutsch-britisches Äquivalent zum Vertrag zwischen Frankreich und dem Vereinigten Königreich (Lancaster House) oder trilateral im E3-Rahmen ist nicht undenkbar und hätte nach den Missklängen im Kontext des Brexits positive Signalwirkung. Er müsste sich militärisch im Rahmen der Nato bewegen. Doppelungen oder Verpflichtungen mit stehenden Verbänden kommen für die Briten nicht in Frage. Stattdessen könnte der Fokus auf Rüstungskooperation gelegt werden. Trilaterale Anknüpfungspunkte gäbe es im Bereich mittlerer Transporthubschrauber (Nato’s Next Generation Rotorcraft Capability). Eine Einbindung in die deutsch-französische Entwicklung des Future Combat Air Systems (FCAS) ist politisch und wirtschaftlich schwierig. Die Zusammenführung der Programme »Tempest« und FCAS könnte aber Geld und Expertise bündeln. Wie schon abzusehen ist, brauchen die Briten darüber hinaus Ersatz für ihre Challenger-2-Kampfpanzer. Der Leopard 2 wäre eine gute Übergangslösung. Verbunden mit der Mitwirkung am Projekt zur Entwicklung des Kampfpanzers der nächsten Generation (Main Ground Combat Systems, MGCS), würde dies die Entwicklung eines Challenger 3 unnötig machen. All dies ist geeignet, die Integration zu verbessern und die europäische Säule in der Nato zu stärken.
Für die Bundeswehr lohnt es sich, die Entwicklungen in Großbritannien genau zu beobachten. Auch in Deutschland wird neben dem Personalmangel, der Suche nach zukunftsfähigen Technologien und zweckmäßigen Strukturen die langfristige Finanzierung problematisiert. Eine mehrjährige Finanzierungsgarantie mit Ausgleich der Inflation könnte auch für die Bundesrepublik ein Weg sein, die Planbarkeit zu verbessern, nicht zuletzt für die Wirtschaft. Wenn gleichzeitig erkennbar würde, dass die Finanzierung sich in Richtung des 2-Prozent-Ziels entwickelt, wäre eine solche Entscheidung geeignet, die Kritik von Seiten der Nato zu dämpfen. Ein deutscher »Integrated Review« könnte, auf den Ergebnissen des Strategischen Kompasses aufbauend, das Weißbuch 2016 aktualisieren. Dies böte die Möglichkeit, die sicherheitspolitische Ausrichtung der Bundesrepublik zu konkretisieren und eine zeitgemäße Grundlage für die derzeit diskutierte umfassende Strukturreform der Bundeswehr zu schaffen.
Dr. Florian Schöne ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik.
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ISSN 1611-6364
doi: 10.18449/2020A101