Mit der Bildung einer Einheitsregierung unter Abdelhamid Dabeiba gelang im März 2021 ein Durchbruch in den Bemühungen, die politische Spaltung Libyens zu überwinden. Doch die Kehrseite der Übereinkunft zeichnet sich bereits ab. Bislang haben sich die politischen Akteure lediglich darauf geeinigt, innerhalb der Regierung um den Zugang zu staatlichen Mitteln zu konkurrieren. Die Verteilungskämpfe könnten schnell zur Zerreißprobe werden. Derweil harren zahlreiche substantielle Streitpunkte ihrer Bearbeitung. So versucht die Regierung die Herausforderungen im Sicherheitssektor zu ignorieren. Spannungen zwischen Profiteuren und Gegnern der Regierung drohen eine neue politische Krise zu verursachen, falls Fortschritte hin zu den für Dezember 2021 geplanten Wahlen ausbleiben. Aber auch die Wahlen selbst bergen beträchtliches Konfliktpotential.
Im Februar 2021 zeitigten die Vermittlungsbemühungen der Vereinten Nationen (VN) einen unerwarteten Erfolg, als das von ihnen einberufene Libysche Politische Dialogforum (LPDF) einen dreiköpfigen Präsidialrat sowie einen Premierminister wählte. Noch erstaunlicher war, dass Premierminister Dabeiba am 10. März die Zustimmung des 2014 gewählten Abgeordnetenhauses für seine Regierung erhielt. Damit hat Libyen erstmals seit August 2014 wieder eine einheitliche Regierung. Diese soll laut LPDF-Fahrplan bis zu Wahlen am 24. Dezember 2021 amtieren, für die jedoch bisher die rechtliche Grundlage fehlt.
Unverhofft war dieser Durchbruch nicht nur angesichts der politischen Spaltung des Landes, die sich in den letzten Jahren immer mehr verfestigt hat, und in Anbetracht des erbittert geführten Bürgerkriegs, der von April 2019 bis Juni 2020 um die Hauptstadt Tripolis tobte. Die Bildung der Einheitsregierung überraschte auch deswegen, weil sich die eigentlichen Konfliktparteien – anders als die politischen Vertreter im LPDF – bisher kaum angenähert haben. Die bewaffneten Gruppen, die im letzten Bürgerkrieg für die beiden verfeindeten Lager kämpften, ordnen sich weiterhin unterschiedlichen militärischen Kommandostrukturen zu und beherbergen zu ihrer Unterstützung ausländische Militärs und Söldner im Land.
Überdies wäre zu erwarten gewesen, dass Russland, die Türkei und die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) die Bildung einer Einheitsregierung verhindern, da diese ausländische Truppen oder Söldner des Landes hätte verweisen können. Zu solchen Torpedierungsversuchen von außen kam es jedoch nicht. Vor allem Ägypten und die Türkei unterstützten den Prozess sogar, obwohl sie in Libyen jahrelang auf entgegengesetzten Seiten gestanden hatten.
Den Rahmen der Verhandlungen bildete der Berliner Prozess, den Deutschland und die VN im Herbst 2019 lancierten, um eine Annäherung zwischen den in Libyen involvierten Staaten herbeizuführen. Dass die Vermittlungsbemühungen an Fahrt gewinnen konnten, lag aber nicht am Berliner Prozess. Grundlegend waren vielmehr zwei Faktoren: Erstens schuf die massive türkische Intervention zugunsten der Regierung in Tripolis im Frühjahr 2020 ein militärisches Kräftegleichgewicht – in offener Missachtung der Berliner Erklärung vom Januar 2020. Die Intervention beendete den Krieg in Tripolis und damit die Hoffnungen des Milizenführers Khalifa Haftar auf einen militärischen Sieg. Der unter VN-Ägide ausgehandelte Waffenstillstand vom Oktober 2020 formalisierte lediglich die Pattsituation im Zentrum des Landes. Zweitens schnitten sich die beiden gegnerischen Lager seit Anfang 2020 gegenseitig den Zugang zu den Erdöleinnahmen ab und brachten sich damit in eine immer schwierigere finanzielle Lage. Russische Versuche im Sommer 2020, ein Arrangement zur Wiederaufnahme der Erdölproduktion auszuhandeln, bewegten die USA dazu, in dieser Frage selbst zu vermitteln. Seither bestand für Libyens Politiker der wichtigste Anreiz zur Bildung einer Einheitsregierung darin, dass nur diese den Zugang zu den Einkünften aus der Ölförderung wieder eröffnen konnte.
Die Logik der Einigung
Der Prozess, der zur Bildung der Einheitsregierung führte, war selektiv hinsichtlich der Akteure, die in ihn einbezogen waren, und der Fragen, über die sie verhandelten. Dies erleichterte die Einigung, schmälert aber die Erfolgsaussichten der Regierung.
Das im November 2020 einberufene LPDF ist eines von drei Verhandlungsforen der VN für die Konfliktbeilegung in Libyen. Die zwei anderen sind der Libysche Wirtschaftsdialog und die Gemeinsame Militärkommission. Diese unterzeichnete im Oktober 2020 den Waffenstillstand und ist für dessen Umsetzung verantwortlich. Sie soll aber auch die Vereinigung der militärischen Kommandostrukturen aushandeln.
Die Ernennung des Präsidialrats und Premierministers durch das LPDF und die anschließende Regierungsbildung in Verhandlungen mit dem Abgeordnetenhaus brachte politische Akteure zusammen, die oft nur schwache Verbindungen zu den eigentlichen Konfliktakteuren besitzen. Etwa die Hälfte der 75 LPDF-Teilnehmer, die von den VN ausgewählt wurden, sind Abgeordnete der beiden konkurrierenden Parlamente, also des Abgeordnetenhauses und des Hohen Staatsrats. Da diese in den letzten Jahren vor allem für politische Obstruktion und die Verteidigung ihrer Privilegien standen, hat die Bevölkerung ihrer Wahlkreise längst aufgehört, sie als Vertreter ihrer Belange zu betrachten. Ägypten, das über den Präsidenten des Abgeordnetenhauses Agila Saleh großen Einfluss ausübt, stellte sicher, dass zahlreiche Anhänger Salehs am LPDF teilnehmen und die LPDF-Beschlüsse vom Abgeordnetenhaus abgesegnet werden müssen. Hinzu kommen im LPDF Vertreter einzelner Politiker, in weitaus geringerem Maße auch solche militärischer Akteure, sowie Repräsentanten der Zivilgesellschaft.
Die Verbände Haftars und die bewaffneten Gruppen Westlibyens dagegen sind im LPDF schwach vertreten. Auch für die Anliegen der Konfliktopfer – der Binnenvertriebenen, Kriegsversehrten und Angehörigen der Todesopfer – machen sich nur wenige Delegierte stark. Für die meisten hatte die Teilhabe an der Regierungsbildung Vorrang.
Eine noch stärkere Rolle spielten die Parlamentarier bei der Bildung des Kabinetts. Die Zustimmung des Abgeordnetenhauses zur Einheitsregierung war eine entscheidende Voraussetzung dafür, die politische Spaltung formell zu überwinden. Um dieses Plazet zu bekommen, erlaubte Premierminister Dabeiba es kleinen Gruppen von Parlamentariern oder sogar einzelnen Abgeordneten, künftige Minister zu benennen. Bei den Verhandlungen forderten viele Abgeordnete offen, ihre Städte, Stämme oder Regionen sollten ihren gerechten Anteil an der Regierung bekommen. Dabeiba unterwarf sich diesen Forderungen völlig und bekam so eine Regierung von 35 Ministern. Sie wurden auf der Basis von Klientelbeziehungen ausgewählt und haben kaum gemeinsame Interessen. Meist stammen sie aus den Reihen des aufgeblähten Verwaltungsapparats und öffentlichen Sektors und haben teilweise schon unter Gaddafi Ämter bekleidet. Einige der neuen Minister waren bereits wegen Amtsmissbrauchs, Veruntreuung von Geldern oder anderer Vergehen gemaßregelt oder in Gerichtsverfahren belangt worden.
Die Einigung beruht also nicht auf der Bildung einer Koalition zwischen klar identifizierbaren politischen Blöcken. Diese sind in Libyen ohnehin schwach ausgeprägt. Organisierte politische Kräfte gingen bei der Regierungsbildung weitgehend leer aus, so etwa Haftars Machtstruktur im Osten oder die mit der Muslimbruderschaft assoziierte Partei für Gerechtigkeit und Aufbau. Stattdessen besteht die Regierung aus einzelnen Vertretern dutzender unterschiedlicher Klientelnetzwerke.
Bislang beschränkt sich die Einigung darauf, dass diese Netzwerke innerhalb der Einheitsregierung um den Zugang zu staatlichen Mitteln konkurrieren. Wie diese genau verteilt werden, muss jedoch weitgehend noch ausgehandelt werden, denn Ministerposten sind dabei nur ein Aspekt. Zahlreiche weitere Ämter müssen oder können neu besetzt werden, Budgets sind aufzuteilen. Noch benötigt Dabeiba für den Etat die Zustimmung der Abgeordneten. Im Gegenzug versuchen diese, auch die stellvertretenden Minister zu benennen. Sobald das Budget beschlossen ist, wird sich innerhalb der Regierung ein Wettstreit um die Kontrolle über die Mittel entwickeln. Darüber hinaus versuchen Vertreter der beiden Parlamente, sich auf die Neubesetzung hoher Ämter wie das des Zentralbankgouverneurs oder des Generalstaatsanwalts zu verständigen. Auch diese Ämter sollen auf der Basis des regionalen Proporzes verteilt werden. Die Gewinner und Verlierer des neuen politischen Arrangements müssen also großteils noch bestimmt werden. Daher werden sich auch erst nach und nach die Gegner der Einheitsregierung organisieren. Bereits jetzt regt sich Unmut unter den vielen politischen und militärischen Akteuren, denen Dabeiba Posten versprochen hat, bislang ohne seine Versprechen zu halten.
Die unausgesprochene Logik des Proporzes auf der Grundlage regionaler oder lokaler Zugehörigkeit hatte schon vorangegangene Regierungen geprägt. Im gegenwärtigen Prozess wurde sie jedoch offen zum Prinzip erhoben. Sie spiegelt sich auch in der Zusammensetzung des dreiköpfigen Präsidialrats wider, dessen Mitglieder den Westen, Osten und Süden Libyens repräsentieren. Die unverhohlenen Forderungen nach einem proportionalen Anteil an Regierungsämtern zielen darauf ab, Zugriff auf staatliche Mittel zu bekommen. Sie beruhen auf dem stillschweigenden Einverständnis der politischen Akteure, dass diese Mittel dem Aufbau von Patronagenetzwerken oder schlicht der Unterschlagung dienen. Diese Logik hat die Bildung der Einheitsregierung klar dominiert. Grund ist vor allem, dass seit Einberufung des LPDF die Aussicht auf staatliche Gelder die bei weitem wichtigste Triebkraft des politischen Prozesses war.
Bleibende militärische Realitäten
Um den Zugang zu staatlichen Mitteln neu auszuhandeln, wurden Kernfragen des Konflikts ausgespart und wichtige Akteure umgangen. Zu den ausgeblendeten Hauptthemen gehören die Fortexistenz gegnerischer militärischer Verbände sowie die Anliegen der sozialen Gruppen, aus denen sich die Konfliktparteien rekrutieren, etwa die Aufarbeitung von Kriegsverbrechen.
Die bewaffneten Gruppen der beiden gegnerischen Lager des letzten Krieges waren in den politischen Prozess nur am Rande einbezogen. Haftar beugte sich diesem Prozess, da er nach seiner Niederlage in Tripolis stark an ausländischer Unterstützung verloren hatte und ägyptischem Druck ausgesetzt war. Seine Gegner in Westlibyen ließen die Regierungsbildung über ihre Köpfe hinweg geschehen, da sie nach dem Ende des Krieges wieder rivalisierende Fraktionen bildeten. Von einer Teilhabe an der Einigung und einer Unterordnung unter die Einheitsregierung sind beide Seiten jedoch weit entfernt.
Die Einheitsregierung hat es bislang vermieden, im Sicherheitssektor einen Führungsanspruch zu erheben. Der Präsidialrat ist laut LPDF-Beschluss befugt, die Militärführung neu zu besetzen und damit die beiden konkurrierenden Kommandostrukturen zu vereinen. Bisher hat er das jedoch unterlassen. Da das Abgeordnetenhaus die LPDF-Beschlüsse nicht offiziell angenommen hat, ist zudem unklar, ob dessen Präsident Agila Saleh und Haftar die Kompetenz des Präsidialrats anerkennen. Dabeiba wiederum hat keinen Verteidigungsminister ernannt, da kein Vorschlag zugleich die Akzeptanz Haftars und die seiner Widersacher gefunden hat. Dabeibas Innenminister war zuvor stellvertretender Innenminister und steht wie die meisten seiner Vorgänger für eine Politik, die es konkurrierenden bewaffneten Gruppen erlaubt, als Einheiten des Innenministeriums zu operieren und so an staatliche Mittel zu gelangen. Dabeiba selbst hat umfangreiche Kontakte zu bewaffneten Gruppen in Tripolis, Misrata und Zawiya. Unter seiner Regierung genießen sie bisher größeren Handlungsspielraum als unter dem damaligen Innenminister Fathi Bashagha.
Zur Frage, wie die beiden gegnerischen militärischen Befehlsstrukturen in West und Ost einer einheitlichen Führung unterstellt werden könnten, hat die Regierung bislang lediglich auf die Gemeinsame Militärkommission verwiesen. Diese besteht aus je fünf Offizieren, die von Haftar beziehungsweise der Vorgängerregierung in Tripolis eingesetzt worden waren. Die Militärkommission hat sich bisher aber darauf beschränkt, die Details des Waffenstillstands und seiner Überwachung auszuarbeiten. Um die Armee erneut zu vereinen, fehlt ihr das nötige politische Gewicht. Die fünf von Tripolis eingesetzten Offiziere genießen wenig Vertrauen unter den bewaffneten Gruppen, die die eigentlichen militärischen Kräfte Westlibyens ausmachen. Die fünf von Haftar ernannten Offiziere sollen die Existenz einer regulären Militärhierarchie suggerieren, doch die tatsächliche Entscheidungsgewalt liegt bei einem Zirkel enger Verwandter des Warlords.
Es besteht keine Chance, dass Haftar seine Verbände effektiv einer einheitlichen Armeeführung unterstellt. Ebenso ausgeschlossen ist, dass seine Gegner eine Führungsrolle für Haftar oder seine Söhne akzeptieren. Dafür sind die Kerneinheiten der Libysch-Arabischen Streitkräfte Haftars zu eng mit dessen Herrschaftsanspruch und der Selbstbereicherung seiner Vertrauten verknüpft. Solange Haftars Machtstruktur fortbesteht, ist allenfalls denkbar, dass eine solche Integration rein formell stattfindet, um ihm Zugang zu Geldern zu eröffnen. Diesen benötigt Haftar dringend, um seine Autorität zu sichern, denn seine finanziellen Schwierigkeiten wachsen, sein Ansehen ist seit der Niederlage in Tripolis beschädigt und auf die Regierungsbildung hatte er nur wenig Einfluss. Mit Haftars Verbänden dauert jedoch auch die Bedrohung für seine Gegner in Westlibyen an, die deshalb lokale Milizen und türkischen Schutz als Sicherheitsgarantien benötigen.
Fortschritte in Richtung vereinter Kommandostrukturen, einer stärkeren Kontrolle über bewaffnete Verbände und der Zerschlagung von Milizen sind von der Einheitsregierung nicht zu erwarten. Zum einen fehlt dafür die nötige Verzahnung zwischen politischem Prozess und bewaffneten Akteuren. Zum anderen geht die Regierung den Herausforderungen im Sicherheitssektor aus dem Weg, da diese mit ihrem Ansatz kollidieren, politische Akteure lagerübergreifend durch die Verteilung staatlicher Gelder einzubinden. Und schließlich bildet Haftars Machtstruktur weiterhin das größte Hindernis für den Aufbau nationaler Sicherheitsinstitutionen.
Auch wenn die Regierung versucht, die schwierigen Fragen im Sicherheitssektor zu ignorieren, wird sie sich bald mit den Realitäten der militärischen Landschaft konfrontiert sehen. In Tripolis üben bewaffnete Gruppen großen Einfluss in staatlichen Institutionen aus, was anderswo für Verbitterung sorgt und bereits 2018 zum offenen Konflikt in Tripolis führte. Die Milizen in Tripolis drängen weiter darauf, ihre Vertreter in Führungspositionen des Staatsapparats zu placieren, und befinden sich dabei in einem scharfen Konkurrenzkampf. Im Osten und im Zentrum des Landes wird die Regierung nur mit Billigung Haftars agieren können. Regierungsvertreter müssen sich mit Haftars Verbänden arrangieren. Für diese entstehen daraus Möglichkeiten, sich Geld zu beschaffen und Posten zu besetzen. Vor allem aber dürften die regelmäßigen Gewaltakte durch bewaffnete Akteure bald zeigen, welch geringen Einfluss auch die neue Regierung auf Milizen hat, die nominell als staatliche Sicherheitskräfte auftreten.
Die Wirtschaft als Chance?
Statt die Probleme im Sicherheitssektor anzusprechen, betont Dabeiba, er wolle die Wirtschaft ankurbeln und staatliche Basisdienstleistungen wiederherstellen – allen voran die Stromversorgung sowie die Verfügbarkeit von Bargeld und Treibstoff. Damit greift er dringende Anliegen der Bevölkerung auf. Wirtschaft und Finanzsektor haben unter der jahrelangen Spaltung der Institutionen schwer gelitten. Die öffentliche Infrastruktur ist wegen ausbleibender Investitionen, Korruption und Zerstörung stark heruntergekommen. Inflation und der Niedergang öffentlicher Dienstleistungen haben weite Teile der Mittelschicht verarmen lassen.
Doch die Konzentration auf wirtschaftliche Aspekte entspricht auch politischen Kalkülen. Zum einen passt sie gut in die gegenwärtige Tendenz innerhalb der politischen Klasse, die eigentlichen Streitfragen zu ignorieren, um sich auf die Neuverteilung von Pfründen zu einigen. Zum anderen kann sich Dabeiba erhoffen, aus einer scheinbaren oder tatsächlichen Verbesserung der wirtschaftlichen Lage politisches Kapital zu schlagen und sich so möglicherweise länger als vorgesehen an der Macht zu halten. Dafür spricht auch Dabeibas frühe Entscheidung, die Gehälter im öffentlichen Sektor um 20 Prozent zu erhöhen sowie eine Grundrente, Kinder- und Ehefrauengeld zu zahlen.
Auch Dabeibas Absicht, erstmals seit der politischen Spaltung wieder größere staatliche Investitionen in die Infrastruktur zu tätigen, dürfte Hintergedanken verbergen. Erstens könnte Dabeiba mit der Vergabe von Aufträgen versuchen, das Wohlwollen ausländischer Regierungen zu gewinnen und so seine Macht zu sichern. Zweitens besteht die berechtigte Sorge, dass die mit Dabeiba verbundene Clique Großinvestitionen nutzen könnte, um durch Provisionen oder andere Methoden auf unlautere Weise Profite zu erzielen. Dabeiba ist nämlich Vertreter eines Netzwerks, das für genau solche Praktiken berüchtigt wurde.
Der jetzige Premierminister führte in den letzten Jahren des Gaddafi-Regimes das staatseigene Unternehmen Libyan Investment and Development Holding Company (LIDCO). Gemeinsam mit ausländischen Firmen setzte es die milliardenschweren Bauprojekte der Organisation for the Development of Administrative Centers (ODAC) um. Leiter dieser staatlichen Behörde war bis 2011 Ali Dabeiba, Vetter des gegenwärtigen Premiers und heute Verhandlungsteilnehmer im LPDF. Ali Dabeiba kam an der Spitze von ODAC zu einem immensen Vermögen, das sich einzig durch massive Korruption erklären lässt und ihm in Libyen und Großbritannien Verfahren wegen Verdachts auf Betrug eingebracht hat. Auch Abdelhamid Dabeibas ostentativer Reichtum ist nicht mit der Leitung eines staatlichen Unternehmens in Einklang zu bringen. Zudem zahlte der jetzige Premier in den letzten Jahren Millionenbeträge an Lobbyfirmen in den USA und Frankreich, um sich als Führungsfigur ins Gespräch zu bringen. Dafür verwendete er unter anderem Mittel von LIDCO. Es liegt nahe, in Dabeibas politischen Ambitionen ein Streben nach noch größerem Reichtum zu sehen.
Schon jetzt ist deutlich, dass mit Dabeiba ein ganzes Interessengeflecht an die Macht gekommen ist. Gut informierte Beobachter aus Dabeibas Heimatstadt Misrata sind sich einig, dass sein Cousin Ali Dabeiba die graue Eminenz hinter dem Premier ist. Ali Dabeiba hat seit 2011 unter anderem ein Klientelnetzwerk zwischen bewaffneten Gruppen in Misrata und Tripolis aufgebaut, um seinen Einfluss zu bewahren. Sein Sohn Ibrahim ist der engste Berater des Premiers und begleitet diesen selbst zu Treffen mit ausländischen Staatschefs. Auch die anderen Berater sind langjährige Vertraute, mit denen der Premier teils schon bei LIDCO zusammengearbeitet hat und von denen etliche mit ihm verschwägert sind. Eng verbunden mit dem Netzwerk der Dabeibas sind zudem der Bauminister, der Transportminister sowie der Staatsminister für Angelegenheiten des Premierministers. Kraft seines Amtes wird der Premier versuchen, auch Schlüsselpositionen in staatlichen Unternehmen mit Verbündeten zu besetzen.
Die Interessenlage des Dabeiba-Netzwerks ist also ambivalent. Einerseits würde eine sichtliche Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Lage dem Machterhalt dienen. Andererseits dürften Vetternwirtschaft und Korruption dem Fortschritt im Wege stehen. Letzteres gilt umso mehr, als Vertreter anderer Seilschaften in Dabeibas Regierung sich ebenfalls bereichern wollen.
Nicht nur wegen der konkurrierenden Interessengruppen innerhalb der Regierung dürften Reformen nur äußerst schwer durchzusetzen sein. Korruption grassiert auf allen Ebenen des öffentlichen Sektors und lässt sich nicht eindämmen, ohne dem Justizwesen und zumindest den Ansätzen eines staatlichen Gewaltmonopols wieder Geltung zu verschaffen. Hinzu kommt, dass wichtige Institutionen, allen voran der Rechnungshof und die Zentralbank, nach wie vor gespalten sind und der Premier nicht befugt ist, Posten darin neu zu besetzen. Solche Institutionen können rivalisierenden Netzwerken als Hebel dienen, um bei Auftragsvergaben und anderen Budgetzuweisungen Einspruch zu erheben.
Im mächtigen Zentralbankgouverneur al‑Siddiq al-Kabir hat Dabeiba einen Verbündeten, der um gute Beziehungen mit der gegenwärtigen Regierung bemüht ist, um sich weiter im Amt zu halten. Unter dem Vorgänger des jetzigen Premierministers, Faiez al‑Serraj, war Kabir stark unter Druck geraten. Dass sich dies seit Dabeibas Amtsübernahme geändert hat, ist der Auflösung des Reformstaus nicht unbedingt zuträglich. Seitdem nämlich zeigt sich Kabir wesentlich weniger kooperativ, wenn es um die Wiedervereinigung der Zentralbankführung geht. Mit ihr schwände sein Einfluss auf diese Institution. Daher bleibt die Frage ungelöst, wie mit den Schulden von etwa 70 Milliarden Dinar (13 Milliarden Euro) umgegangen werden soll, welche die Parallelinstitutionen in Ostlibyen seit 2015 verursacht haben. Auch die mangelnde Verfügbarkeit von Bargeld, die Differenz zwischen offiziellem und Schwarzmarkt-Wechselkurs und das fehlende Vertrauen in den Dinar sind auf diese Weise nicht nachhaltig in den Griff zu bekommen.
Die Präsenz ausländischer Militärs
Der Kontrast zwischen der vorgeblichen politischen Einigung und den tatsächlichen Verhältnissen vor Ort offenbart sich am deutlichsten in der anhaltenden Präsenz ausländischer Militärs und Söldner, die von den Parteien des letzten Bürgerkriegs ins Land geholt wurden. Laut Waffenstillstandsabkommen vom 23. Oktober 2020 sollten sämtliche ausländische Kräfte Libyen binnen drei Monaten verlassen. Ein halbes Jahr nach Besiegelung des Waffenstillstands ist kein solcher Abzug in Sicht. Stattdessen richten sich die Türkei und Russland auf Dauer in Libyen ein. Das zeigen die fortwährenden türkischen Militärflüge in die Luftwaffenbasis al‑Wutiya sowie die großangelegten Befestigungsarbeiten im Zentrum des Landes durch Söldner der Gruppe Wagner, deren Aktivitäten die russische Führung zwar leugnet, tatsächlich aber steuert. Eine Schlüsselrolle spielen dabei auch die VAE, welche Haftars russische, syrische und sudanesische Söldner zumindest teilweise finanzieren und ausstatten.
Die Präsenz der Türkei und Russlands verfestigt sich deswegen, weil beide weiterhin als Sicherheitsgaranten für die Konfliktparteien dienen. Letztere müssen eine Rückkehr zu offenen Auseinandersetzungen für den Fall befürchten, dass der Abzug ihrer ausländischen Unterstützer die militärischen Kräfteverhältnisse verändert. Dabei sind die syrischen Söldner, die Ankara in Libyen stationiert hat, für das Kräftegleichgewicht unerheblich, aber die eigentliche türkische Militärpräsenz umso wichtiger. Vertreter der Türkei versichern beharrlich, das offizielle Engagement ihres Landes falle nicht unter die Bestimmungen des Waffenstillstands. Seit kurzem aber signalisieren sie, dass die Türkei zum Abzug der syrischen Söldner bereit sei, falls auch die Söldner der Gegenseite das Land verließen.
Für Haftar dagegen, dessen ausländische Unterstützer ihre Rolle nicht zugeben, sind die russischen Söldner überlebenswichtig. Mit Abstrichen gilt das auch für seine syrischen und sudanesischen Kämpfer. Ein ersatzloser Abzug der Russen würde für Haftar den Verlust der Kontrolle über den Süden und das Zentrum des Landes bedeuten, möglicherweise sogar den Zerfall seiner Machtstruktur. Wie in anderen Kernfragen des Konflikts gibt es deshalb auch bei der Präsenz der Söldner kaum Aussichten auf Fortschritte, solange Haftar Einfluss in weiten Teilen des Landes ausübt und für seine ausländischen Unterstützer ein zwar schwieriger, aber unerlässlicher Partner ist. Weder den VAE noch Ägypten dürfte daran gelegen sein, dass ein Abzug der Söldner die Autorität Haftars zerstört und damit neue Konflikte in Ostlibyen entfacht.
Auch über das Söldnerproblem hinaus dürften divergierende externe Interessen die Fliehkräfte innerhalb der Regierung verstärken. Staaten, die während des letzten Krieges auf unterschiedlichen Seiten standen, versuchen nun, einzelne Regierungsvertreter für ihre Anliegen zu gewinnen. Bislang ist Premierminister Dabeiba bestrebt, die Ambivalenz in den Beziehungen mit diesen Staaten zu wahren. Deren Drängen auf eine klarere Positionierung könnte jedoch Konflikte in der Regierung hervorrufen, etwa zwischen Dabeiba und dem Präsidialrat, der ebenfalls beansprucht, das Land nach außen zu vertreten.
Krise mit oder ohne Wahlen
Mit den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen, die für den libyschen Unabhängigkeitstag am 24. Dezember 2021 vorgesehen sind, soll das Land erstmals seit 2014 wieder eine demokratisch legitimierte und landesweit anerkannte Regierung bekommen. Doch mit der Bildung der Einheitsregierung schafft der LPDF-Fahrplan eine widersprüchliche Interessenlage. Einerseits soll die Regierung das Land auf die Wahlen vorbereiten. Andererseits werden die in der Regierung vertretenen Klientelnetzwerke versuchen, sich so lange wie möglich an der Macht zu halten. Dies gilt umso mehr, als die Regierungsmitglieder laut LPDF-Beschluss nicht selbst für die Wahlen kandidieren dürfen.
Besonders ausgeprägt ist der Interessenkonflikt im Abgeordnetenhaus. Dessen Mitglieder haben gerade erst ihre Kandidaten auf Ministerposten gehievt. Nun sollen sie den Abgang der Minister besiegeln, indem sie die verfassungsmäßige Grundlage für die Wahlen sowie ein Wahlgesetz beschließen. Parlamentarier, die am Fortbestand der Regierung Dabeiba interessiert sind, könnten den anhaltenden Disput über Vorsitz und Versammlungsort des Abgeordnetenhauses sowie über ein mögliches Verfassungsreferendum nutzen, um diese Beschlüsse zu verhindern.
Ein plausibles Szenario ist daher, dass die für die Wahlen nötigen Schritte ausbleiben könnten und sich die Regierung Dabeiba über den 24. Dezember 2021 hinaus im Amt hält. Auch wenn die Regierung die Schuld hierfür dem Abgeordnetenhaus zuschiebt, würde diese Situation eine neue politische Krise heraufbeschwören. Viele Akteure haben die neue Regierung nur aufgrund ihres befristeten Mandats akzeptiert. Wird dieses überdehnt, würde das die Legitimität der Regierung in Frage stellen. Die Zahl ihrer Gegner, die mit fortdauernden Verteilungskämpfen ohnehin steigen wird, könnte dann erst recht rapide wachsen. Auch eine erneute politische Spaltung wäre denkbar.
Wegen der großen Hindernisse für Wahlen konzentriert sich der politische Druck aus dem In- und Ausland bislang darauf, sicherzustellen, dass die Wahlen stattfinden – nicht aber darauf, die Voraussetzungen für freie, faire und geheime Wahlen zu schaffen. Für die VN wie auch politische Kräfte in Libyen sind die Wahlen zum Selbstzweck geworden. Ob sie der Konfliktbeilegung zuträglich sein werden, wird kaum erwogen. Die Mindestvoraussetzungen für erfolgreiche Wahlen sind nicht gegeben. So sollte die Einheitsregierung die Kommandostrukturen in Militär und Sicherheitssektor vereinigen und so der Gefahr vorbeugen, dass bewaffnete Gruppen die Wahlergebnisse manipulieren oder sich weigern könnten, sie anzuerkennen. Mittlerweile ist klar, dass im Sicherheitssektor keine Fortschritte zu erwarten sind.
Sollten die Wahlen stattfinden, ist davon auszugehen, dass sie in mehreren Städten und Regionen von Gewalt und Unregelmäßigkeiten begleitet werden. Besonders kritisch ist die Lage in Gebieten unter Haftars Kontrolle, wo Dissidenten mit äußerster Härte verfolgt werden. Vor allem Präsidentschaftswahlen bergen erhebliches Konfliktpotential, denn der Erfolg des Vertreters einer Konfliktpartei wäre eine existentielle Bedrohung für deren Gegner. Aber selbst ohne massive Eskalation wäre die Gefahr groß, dass politische Kräfte die Wahlergebnisse ablehnen und notfalls mit Waffengewalt anfechten würden.
Schlussfolgerungen
Erklärtes Ziel des von den VN geführten Prozesses ist es, durch eine transparentere und gerechtere Verwaltung staatlicher Gelder eine Hauptursache der Konflikte in Libyen zu beseitigen. Tatsächlich aber stellt die Bildung der Einheitsregierung die Weichen für die noch ungeniertere Plünderung des Staates. Auf diese haben sich konkurrierende Netzwerke unter dem Deckmantel des regionalen und lokalen Proporzes verständigt und dafür die meisten substantiellen Streitfragen ausgeklammert. Als Basis für ein wiedervereinigtes Libyen könnte diese Einigung weitreichende Konsequenzen haben, die das politische System auch nach Neuwahlen auf fatale Weise prägen könnten. Unmittelbar besorgniserregend ist aber, dass die Einigung so die Voraussetzungen für neue Konflikte schafft – auch wenn die neu entstehenden Ungleichgewichte und Verlierer erst nach und nach zutage treten werden.
Die europäische Haltung gegenüber der neuen Regierung dürfte diese kaum zur Mäßigung bewegen, sind die Europäer doch erleichtert, die Regierungsbildung als Erfolg ihrer Diplomatie präsentieren zu können. Zudem zeigen sie schon jetzt Interesse an den Geschäften, die Dabeiba durch staatliche Investitionen in Aussicht stellt. Der offiziellen europäischen Unterstützung für die Wahlen zum Trotz legen manche Diplomaten eine wachsende Präferenz für die vermeintliche Stabilität à la Dabeiba an den Tag. Diese Einstellung ist problematisch, denn wenn dessen Regierung über Dezember 2021 hinaus amtiert, dürfte Libyen mit hoher Wahrscheinlichkeit in eine erneute tiefe Krise geraten. Es gilt daher, Fortschritte hin zu Wahlen anzumahnen, die allerdings unter den gegebenen Bedingungen mit großen Risiken verbunden sein werden. Sobald der rechtliche Rahmen für die Wahlen feststeht, sollte sich Europa nicht mehr damit begnügen, dass die Wahlen überhaupt abgehalten werden. Vielmehr sollte sich das Augenmerk dann auf die Umstände richten, in denen sie stattfinden, und auf die Akteure, die einen friedlichen Machtwechsel nach den Wahlen verhindern könnten.
Dr. Wolfram Lacher ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Afrika und Mittlerer Osten.
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doi: 10.18449/2021A34