Die Parlamentswahlen in Frankreich werden die EU verändern – und die französische Schuldenkrise verschärfen. Höchste Zeit für Europa, diesen Weckruf zu hören, meint Ronja Kempin.
Fünf Mal ist die französische Nationalversammlung seit Bestehen der Republik vorzeitig aufgelöst worden – noch nie jedoch als Reaktion auf die Wahlen zum Europäischen Parlament (EP). Als die Partei Marine Le Pens 2014 erstmals als stärkste politische Kraft aus den EP-Wahlen hervorging, tauschte der damalige Präsident François Hollande lediglich eine Staatssekretärin aus.
Emmanuel Macron wollte am Abend des 9. Juni 2024 jedoch nicht länger so tun, »als sei nichts geschehen«. Zu deutlich hatte er einmal mehr sein Wahlversprechen verfehlt, das Bollwerk gegen die extreme Rechte zu sein. Seit Macron 2017 als Präsident in den Elysée-Palast eingezogen ist, feiert das Rassemblement National (RN) einen Wahlerfolg nach dem anderen: In der Nationalversammlung ist es seit 2022 mit 89 Abgeordneten größte Oppositionsfraktion, bei den Wahlen zum EP eroberte die Partei nun 30 Sitze – mehr als doppelt so viele wie das Lager des Präsidenten.
Schon jetzt ist klar: Der Ausgang der Parlamentswahlen, die am 30. Juni und 7. Juli 2024 stattfinden, wird die EU verändern. Ein politisch geschwächter Staatspräsident wird sich schwertun, radikale Forderungen zu innen- wie europapolitischen Reformen zu moderieren. Die Wahlen bieten Brüssel aber auch die Chance, eine politische Agenda aufzustellen, die die extremen Parteien langfristig schwächen könnte.
Vielerorts dominiert die Annahme, dass das RN nach den Wahlen die Regierungsverantwortung tragen wird. Dazu müsste die Partei jedoch die absolute Mehrheit der 577 Abgeordnetenmandate der Nationalversammlung erringen. Viel wahrscheinlicher ist, dass die Wahlen zu einer politischen Pattsituation führen werden, in der die drei rivalisierenden politischen Lager – die extreme Rechte, die Mitte Macrons und die neuformierte linke Volksfront – in etwa gleich stark abschneiden. Frankreich wäre in einer solchen Situation politisch weitgehend gelähmt. Einer Minderheitenregierung »Macron 2.0« dürfte es kaum gelingen, Mehrheiten für ihre politischen Vorhaben zu erreichen.
Als Staatspräsident wird Emmanuel Macron zwar die Vorrangstellung in der Europa-, Außen- und Verteidigungspolitik behalten. Seine politischen Gegner werfen ihm aber schon lange vor, für eine EU einzustehen, die Frankreichs Interessen schade. Macron dürfte daher in der Europapolitik deutlich vorsichtiger agieren, vor allzu großen Reforminitiativen zurückschrecken und für eine eher defensiv ausgerichtete Kommissionsagenda votieren. Eine politische Pattsituation in Frankreich würde darüber hinaus das Ende der angebotsorientierten Standortpolitik Macrons bedeuten – und die französische Staatsschuldenkrise verschärfen.
Bereits nach der Ankündigung, das Parlament neu wählen zu lassen, sind französische Staatsanleihen unter Druck geraten. Das ist kein neues Phänomen: Frankreichs Schulden laufen seit Jahren aus dem Ruder. Im April 2024 betrug das Defizit des Landes 5,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Der Internationale Währungsfonds forderte die Regierung auf, 2024 mindestens 10 Milliarden Euro, 2025 sogar 20 Milliarden Euro einzusparen. Sorgen bereiten auch die Staatsschulden des Landes, die bei 110,6 Prozent der nationalen Wirtschaftsleistung liegen. Am 20. Juni hat die EU-Kommission ein Defizitverfahren gegen Frankreich eingeleitet. Dennoch wollen sowohl die neue Volksfront als auch das Rassemblement National zahlreiche angebotsorientierte Wirtschaftsreformen rückgängig machen. Das Programm der Linken sieht vor, zur Rente mit 60 Jahren zurückzukehren. Das RN fordert seit langem, die Mehrwertsteuer für Strom, Gas, Sprit und Lebensmittel von 20 auf 5,5 Prozent zu senken, um die Kaufkraft der Bevölkerung zu steigern. Aufgrund dieser kostspieligen sozialpolitischen Forderungen aus beiden oppositionellen Lagern dürften die Schulden des Landes proportional zu deren Wahlerfolg aus dem Ruder laufen. Nervöse Märkte werden ihr übriges tun, um Frankreich an die Schwelle der Zahlungsunfähigkeit zu bringen. Die EU wird sich also bald ernsthaft mit der Frage der gemeinsamen Schuldenhaftung befassen müssen.
Gerade deswegen sollte Europa die Wahlen in Frankreich als Weckruf verstehen. Es gilt zu begreifen, dass die französische Wahlbevölkerung weder rechtsextrem ist, noch die EU ablehnt. Sie sieht die Austeritätspolitik Brüssels jedoch als Ursache für die De-Industrialisierung und den drastischen Abbau der Daseinsvorsorge im Land an. Das neue Brüsseler Spitzenpersonal sollte daher das Wohlstandsversprechen in den Mittelpunkt seines Programms stellen und mehr wirtschaftspolitische Souveränität wagen.
Macrons riskantes politisches Manöver würde der EU auf diese Weise womöglich sogar ein Rezept gegen den Rechtsruck in der EU an die Hand geben.