Mit dem »Windsor-Framework« haben die EU und das Vereinigte Königreich nicht nur den Warenverkehr zwischen Nordirland und der EU neu geregelt. Das Abkommen eröffnet auch Perspektiven für eine pragmatischere Kooperation, meint Nicolai von Ondarza.
Der Konflikt zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich um das Nordirland Protokoll (NIP) ist beigelegt: Nach Zustimmungen durch den Rat der EU und dem britischen Unterhaus wurde das kürzlich verhandelte »Windsor Framework« am 24. März 2023 formell verabschiedet. Das Abkommen sieht Erleichterungen bei den Warenkontrollen zwischen Großbritannien und Nordirland vor und erlaubt dem nordirischen Parlament Mitbestimmung bei der Anwendung von neuen EU-Regeln.
Somit reduziert die Einigung zwei Einschränkungen, welche die Beziehungen zwischen Brüssel und London seit dem Brexit belastet haben. Das ist erstens der Konflikt um den Umgang mit Nordirland und die Umsetzung des NIP. Zur Erinnerung: Das NIP hatte Boris Johnson 2019 ausgehandelt, um den harten Brexit für Großbritannien durchzusetzen. Voraussetzung war, dass für Nordirland weiterhin Teile der Regeln des EU-Binnenmarktes und der Zollunion gelten. So sollte die Grenze zwischen der Republik Irland (EU) und Nordirland (Vereinigtes Königreich) offen bleiben, die Zollgrenze zwischen der EU und Großbritannien in der Irischen See verlaufen. Doch schon direkt nach Abschluss hat Johnson die britische Verpflichtung, Kontrollen in der irischen See durchzuführen, nicht anerkannt. Später setzte seine Regierung das NIP nur teilweise um und forderte eine radikale Neuverhandlung von der EU; 2022 noch hatten Johnson und seine damalige Außenministerin Liz Truss voll auf Konfrontation mit der EU gesetzt. Sie drohten, Kernelemente des NIP per britischem Gesetz einseitig auszusetzen. Diese Drohung hat sowohl das Verhältnis zur EU, zu Deutschland als auch zu den USA schwer belastet.
Für die Einigung haben nun sowohl die EU als auch die Regierung Sunak weitreichende Zugeständnisse gemacht. Mit der »Stormont-Bremse« können nordirische Parteien neue EU-Gesetzgebung stoppen, die automatisch in Nordirland gelten würden. Im Gegenzug akzeptiert das Vereinigte Königreich die weitere Gültigkeit von EU-Regeln in Nordirland, einschließlich der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs. Zur Umsetzung erhält die EU Zugang zu zentralen IT-Systemen. Diese Einigung konnte nicht alle überzeugen: Die nordirische unionistische DUP etwa hält das Windsor Framework für unzureichend und blockiert weiterhin die Regierungsbildung in Belfast. Zwischen EU und britischer Regierung aber ist eine zentrale Barriere aufgehoben.
Die zweite bedeutsame Hypothek für die Beziehungen zwischen London und Brüssel war die Kontrolle der harten Brexiteers über die konservative Partei und die Regierung. Mit dem Triumph bei den Neuwahlen 2019 hatte Boris Johnson alle Positionen in der Regierung mit Brexit-Befürwortern besetzt. In der konservativen Fraktion stürzte die sogenannte European Research Group (ERG) 2019 zunächst Theresa May und drängte die Regierung danach immer wieder zu einer harten Haltung gegenüber der EU– nicht nur, aber insbesondere auch in Bezug auf das NIP. Auch der neue Premier Rishi Sunak ist ein originärer Brexit-Befürworter, setzt aber auf eine pragmatischere Zusammenarbeit mit der EU. Mit einer Kombination aus Einbeziehung von ERG-Vertretern wie Steve Baker in die NIP-Verhandlungen, aus britischer Sicht echten Fortschritten bei den Regeln zu Nordirland dank eines Vertrauensvorschusses der EU, der Unterstützung durch die Labour-Opposition sowie nicht zuletzt einer breiten Brexit-Müdigkeit ist Sunak das gelungen, woran Theresa May noch gescheitert war: Er mobilisierte eine überparteiliche Mehrheit und brachte das Windsor-Abkommen mit einer überwältigenden Mehrheit von 515 zu 29 durch das Unterhaus. Dabei spaltete er auch die ERG: Gegen die Regierung stimmten nicht einmal dreißig Abgeordnete, darunter symbolträchtig die beiden Ex-Premiers Boris Johnson und Liz Truss. Erstmals seit 2019 hat damit der pragmatischere Flügel der konservativen Partei wieder die Kontrolle übernommen.
Zusammengenommen geben diese beiden Entwicklungen der britischen Regierung Raum, pragmatischere Lösungen zur Zusammenarbeit mit der EU zu entwickeln, ohne sofort entweder am Vertrauensverlust der EU in Bezug auf das NIP oder innerparteilichem Widerstand zu scheitern. Hierfür ist ein neues Abkommen weder notwendig noch empfehlenswert. Denn das von Boris Johnson ausgehandelte Handels- und Kooperationsabkommen hat zwar den harten Brexit umgesetzt, enthält aber Instrumente, um die Zusammenarbeit auszubauen. Hier bieten sich mindestens vier Bereiche an: Erstens die Außen- und Sicherheitspolitik, in der die von der Regierung Sunak im März verabschiedeten außenpolitischen Leitlinien die Bereitschaft zu mehr Zusammenarbeit mit der EU erkennen lassen – etwa bei der engeren Abstimmung zu Sanktionen, der militärischen Unterstützung für die Ukraine, der Cyber-Sicherheit oder der Zusammenarbeit in der neu geschaffenen Europäischen Politischen Gemeinschaft. Ein zweiter Bereich ist die Energiepolitik, etwa bei Offshore-Windanlagen in der Nordsee. Der dritte konkrete Bereich wäre die britische Beteiligung an der EU-Forschungsförderung Horizon, die bis dato wegen des Streits um das NIP auf Eis gelegt war. Potentiale gibt es aber auch beim Abbau der durch den harten Brexit neu entstandenen nicht-tarifären Handelshemmnisse, zum Beispiel über die britische Kooperation mit EU-Agenturen. Schnell wird dabei aber London wieder mit der Frage konfrontiert werden, ob es in Einzelbereichen EU-Regulierung akzeptiert.
Das »Windsor-Framework« kann zum Befreiungsschlag in den Beziehungen zwischen Brüssel und London werden und diese in eine tatsächliche Post-Brexit-Ära führen. Gleichzeitig sollten die Erwartungen realistisch bleiben. Eine Rückabwicklung des Brexits steht nicht auf der Agenda – und die EU wie das Vereinigte Königreich werden in all diesen Bereichen um ihre Interessen ringen. London wird auch bei mehr Offenheit zur Kooperation mit der EU auf seine Eigenständigkeit und Souveränität achten, und sich nicht zum Juniorpartner degradieren lassen wollen. Die EU ihrerseits bietet Drittstaaten bisher eine Beteiligung ohne Mitspracherecht an, woran bereits etwa die Fortsetzung der britischen Beteiligung an dem Satellitennavigationssystem Galileo gescheitert ist. Um den positiven Zwischenraum auszuloten, sollte die bei Windsor gezeigte Flexibilität als Vorbild dienen.
Unter dem Eindruck des russischen Angriffs auf die Ukraine haben in Prag die EU-27 und 17 weitere europäische Staaten die Europäische Politische Gemeinschaft gegründet. Das neue Gipfelformat ermöglicht den gleichberechtigten Austausch über Themen, die ganz Europa betreffen. Sein Erfolg hängt aber von der EU ab, meint Barbara Lippert.
Stand und Folgen für Deutschland und die EU nach einem Jahr Brexit
doi:10.18449/2022A16
Warum sich die EU und das Vereinigte Königreich nach dem Brexit gemeinsam um flexible Lösungen bemühen sollten
doi:10.18449/2021A60