Direkt zum Seiteninhalt springen

Eiszeit für den »Kalten Frieden« zwischen Ägypten und Israel

Wie sich der Gaza-Krieg auf die bilateralen Beziehungen auswirkt

SWP-Aktuell 2024/A 13, 06.03.2024, 6 Seiten

doi:10.18449/2024A13

Forschungsgebiete

Der Terrorangriff der Hamas vom 7. Oktober 2023 und die darauffolgende israelische Militärintervention im Gaza-Streifen bedeuten auch eine Zäsur für die Beziehungen zwischen Ägypten und Israel. Diese wurden während der Präsidentschaft Abdel Fattah al-Sisis im wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Bereich immer weiter ausgebaut. Nun sind sie geprägt von gegenseitigen Anschuldigungen: Während Ägypten der israelischen Führung vorwirft, auf eine Vertreibung der Bevölkerung des Gaza-Streifens auf den Sinai hinzuarbeiten, kritisiert Israel Ägyptens ver­meintliche Unter­stützung der Hamas. Beide Vorwürfe sind keineswegs unbegründet; auch Deutschland und seine europäischen Partner sollten sie sehr ernst nehmen. Dabei ist zu emp­fehlen, dass die Bundesregierung bei ihrer Ablehnung einer Ver­trei­bung den Schulter­schluss mit Ägypten sucht. Andererseits gilt es, Israels Forderung zu unter­stützen, dass eine zukünftige Sicherung der Grenze zwischen Ägypten und dem Gaza-Streifen nicht allein durch Kairo erfolgen kann.

Das 1979 geschlossene Friedensabkommen zwischen Ägypten und Israel steht seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel und der darauffolgenden israelischen Militärintervention im Gaza-Streifen schwer unter Druck. Als Reaktion auf Israels angekün­digte Offensive auf die Stadt Rafah an der Grenze zu Ägypten drohten ägyptische Offizielle Mitte Februar sogar damit, das Abkommen für nichtig zu erklären. Der ägyp­tische Außenminister Sameh Shoukry betonte zwar wenig später, dass sich sein Land an das Abkommen gebunden fühle, solange Israel das auch tue. Nachdem zeit­gleich der israelische Finanzminister Bezalel Smotrich jedoch Ägypten beschuldigte, »eine erheb­liche Verantwortung« für die Geschehnisse des 7. Oktober zu tragen, forderte der Vor­sitzende des Auswärtigen Ausschusses des ägyptischen Senats, die Sicherheitszusammenarbeit mit Israel auf Eis zu legen.

Der 7. Oktober als Zäsur

Bemerkenswert ist diese Verschlechterung der bilateralen Beziehungen umso mehr, als in den vergangenen zehn Jahren eine gegenteilige Entwicklung zu beobachten war. Zwar blieb der Frieden zwischen Ägypten und Israel wie schon in den Jahr­zehnten davor ein kalter Frieden, also ohne wirk­liche Annäherung zwischen den bei­den Bevölkerungen. Die Machtübernahme des ägyptischen Militärs Anfang Juli 2013 führte aber zu einer sukzessiven Intensivierung der zwischenstaatlichen Beziehungen. Trieb­feder hierbei war die Kooperation zwi­schen den Sicherheitsapparaten, die bereits in den Jahren zuvor durchaus gut gewesen war, nun aber eine neue Qualität erlangte. Israel gestand Ägypten zu, die durch den Friedens­vertrag limitierte Militär­präsenz auf dem Sinai deutlich auszubauen, um dort gegen mili­tant-islamistische Gruppierungen zu kämp­fen. Darüber hinaus half die israelische Armee mit Luftangriffen auch selbst, gegen die Aufständischen vor­zu­gehen.

Seit 2016 kam es offenbar zu mehreren Treffen zwischen dem israelischen Pre­mier­minister Benjamin Netanjahu und dem ägyptischen Präsidenten Abdel Fattah al-Sisi, bei denen es auch um Energiekooperation zwischen den beiden Staaten ge­gangen sein dürfte. Anfang 2018 wurde ein Vertrag über den Export israelischen Erdgases nach Ägyp­ten unterzeichnet. Angesichts stei­gen­der Versorgungsengpässe in den Folgejahren wurde das israelische Gas für Ägypten immer wichtiger. Im Au­gust 2023 wurde vereinbart, die israe­li­schen Gasexporte zu erhöhen, um die häufigen Stromausfälle abzufedern. Zudem nahm die Bedeutung israelischer Urlauber für den ge­beutelten ägyptischen Tourismus­sektor zu. 2022 wurde sogar eine direkte Flug­verbin­dung zwischen Israel und dem ägyp­tischen Bade­ort Sharm el-Sheikh eingerichtet.

Durch den Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober hat diese Phase der Intensivierung der bilateralen Beziehungen schlag­artig geendet. In Ägypten gab es in den sozialen Medien, aber auch von semistaat­lichen Akteuren wie der al-Azhar, der wich­tigsten islamischen Institution des Landes, gera­dezu verständnisvolle Reaktionen auf das blutige Vorgehen der Hamas. Während diese oftmals als »Befreiungsorganisation« bezeichnet wurde, stieß die israelische Mili­tär­intervention als Reaktion auf den Angriff unmittelbar auf Kritik. Im ägyptischen Par­lament wurde eine Kopie des Friedensvertrags zerrissen und überdies gefordert, den israelischen Botschafter auszuweisen. Am 8. Okto­ber erschoss ein ägyp­tischer Polizist zwei isra­elische Touristen in Alexandria. Diese Tat wurde in der ägyptischen Öffent­lichkeit keineswegs einhellig ver­urteilt. Die Regierung in Jerusalem forderte israe­lische Touristen auf, Ägypten schnellst­möglich zu verlassen, was zu einem Ein­bruch der Besucherzahlen im südlichen Sinai führte.

Zusätzlich belastet wurden die Bezie­hungen auf Regierungsebene durch die Aus­sagen eines ägyptischen Geheimdienst­mitarbeiters, man habe die israelische Seite mehrere Tage vor dem 7. Oktober über ver­trauliche Kanäle mehr­fach gewarnt. Für Premierminister Benjamin Netanjahu und seine Regierung war diese vermeintliche Indiskretion aus dem ägyptischen Sicherheitsapparat ein Affront; entsprechend wurde der Bericht umgehend als Lüge zu­rück­gewiesen. Vor allem aber etablierte Israel, offenkundig ohne Kairo vorab zu informieren, eine vollständige Blockade des Gaza-Streifens, die den ägypti­schen Grenz­übergang in der Stadt Rafah einschloss. Das israelische Militär führte mehrere Luft­schläge auf die Grenz­anlage auf palästinensischer Seite aus, die nicht mit Kairo abge­sprochen waren. In den Folgemonaten warfen sich beide Seiten gegenseitig vor, humanitäre Hilfe für den Gaza-Streifen zu blockieren.

Für weitere Unruhe sorgte die Entscheidung Israels, die Gasexporte nach Ägypten zu reduzieren. Begründet wurde dies mit Sicherheitsbedenken, die es erfor­derlich machten, eine Förderung des Tamar-Gas­feldes zunächst auszusetzen. Ende Oktober 2023 sprach die ägyptische Regierung sogar von einem kompletten Stopp der Gas­importe aus Israel, die anscheinend erst im November wieder langsam anstiegen. Zu­gleich gab es Berichte über die Weigerung Kairos, aus einem früheren Gasgeschäft stammende Verbindlichkeiten gegen­über Israel zu bedienen. In den Mittelpunkt der politischen Auseinandersetzung zwischen den beiden Ländern rückten indes zwei Vor­würfe, die zur eigentlichen Belas­tung des bilateralen Verhältnisses geworden sind.

Streitpunkt Flüchtlinge

Unmittelbar nach Beginn der israelischen Militärintervention im Gaza-Streifen warnte Kairo davor, die palästinensische Bevölkerung auf den Sinai zu vertreiben. Präsident Sisi, der bei seiner Kritik am israelischen Vorgehen grundsätzlich einen gemä­ßigte­ren Ton anschlägt als etwa das ägyptische Außenministerium, machte sehr früh deut­lich, dass er einen Massenzustrom von Flüchtlingen aus dem Gaza-Streifen unter keinen Umständen dulden werde. Die Sorge vor einem solchen Szenario ist absolut nicht unbegründet. Bereits in den ersten Wochen der Militärintervention sprachen sich zahl­reiche israe­lische Analysten und selbst Regierungsmitglieder für eine »freiwillige Abwanderung« von Palästinenserinnen und Palästinensern aus. Ende Oktober wurde eine Empfehlung des israelischen Geheimdienst­ministeriums zur Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung geleakt. Zeitgleich berichteten Medien über Ver­suche von Premier­minister Ben­jamin Netanjahu, euro­päische Regierungschefs davon zu über­zeugen, Druck auf Ägyptens Regierung auszuüben, damit diese Flücht­linge aus dem Gaza-Streifen auf­nehmen würde.

Vor allem aber deutet das militärische Vorgehen selbst darauf hin, dass Israel die Vertreibung von Palästinenserinnen und Palästinensern aus dem Gaza-Streifen zu­mindest billigend in Kauf nehmen könnte: Die Offensive der israelischen Streitkräfte wird mit Härte fortgesetzt, trotz immenser Opferzahlen unter der palästinensischen Zivilbevölkerung, einer sich ständig ver­schlechternden humanitären Lage im Gaza-Streifen und wiederholter internationaler Appelle, das Völkerrecht einzuhalten. Den jüngst getroffenen Anordnungen des Inter­nationalen Gerichts­hofs, sofortige und wirk­same Maßnahmen zum Schutz von Zivi­listen zu ergreifen, stehen Berichte über die systematische Behinderung von Hilfs­lieferungen durch Israel gegenüber.

Anstatt, wie auch von Präsident Sisi ge­fordert, Fluchtkorridore für palästinensische Zivi­listen auf israelisches Staatsgebiet zu schaffen oder zumindest ausreichend große Schutzzonen auszuweisen, muss die Zivilbevölkerung innerhalb des dicht bevöl­kerten Gaza-Strei­fens Schutz suchen, ins­besondere in Rafah. Dessen Einwohnerzahl ist infolge des Flüchtlingszustroms von rund 280.000 auf über 1,5 Millionen Men­schen angestiegen, was über zwei Drit­tel der Bevölkerung des Gaza-Streifens ent­spricht. Dadurch hat sich der Druck auf die ägyptische Grenze ungemein erhöht. Der Ausbau der Grenz­befestigung, den Kairo schon seit geraumer Zeit vorantreibt, dürfte dabei kaum aus­reichend sein, um schutzsuchende Palästi­nenserinnen und Palästinenser im Falle israelischer Angriffe auf­zuhalten.

Auch wenn die Sisi-Administration mitt­lerweile Vorkehrungen für die Errichtung von Flüchtlingslagern zu treffen scheint, lehnt sie es dennoch aus mehreren Grün­den kategorisch ab, die Grenze zu öffnen. Dabei geht es nicht nur um die Sorge, durch die Aufnahme von Flüchtlingen zur permanenten Vertreibung von Palästinenserinnen und Palästinensern beizutragen. Vielmehr gibt es im ägyptischen Sicherheitsestablish­ment ebenso Befürchtungen, dass sich militante Akteure unter die Flüchtlinge mischen würden, die die Instabilität im nörd­lichen Sinai befördern könnten. Die Region war zwischen 2011 und 2021 Schau­platz von teils bürgerkriegsähnlichen Aus­ein­ander­setzungen zwischen ägyptischen Sicherheitskräften und militant-islamis­tischen Gruppen mit Tausenden von Toten. Zudem äußerte Präsident Sisi die Befürchtung, dass solche militanten Ak­teure vom Sinai aus Angriffe auf Israel starten könn­ten, was den über vierzig Jahre alten Frie­dens­vertrag zwischen den beiden Ländern gefährden würde.

Streitpunkt Grenzsicherung

Mit dem Krieg zwischen Israel und der Hamas wurde auch der Streit um die Kon­t­rolle der Grenze zwischen Ägypten und dem Gaza-Streifen neu entfacht. Im Jahr 2005 hatte sich Israel aus der so genannten »Philadelphi-Passage« zurückgezogen, einer 14 Kilometer langen Sicherheitszone zwi­schen Ägypten und dem Gaza-Streifen, und ägyptische Grenzsoldaten wurden dort stationiert. Seitdem kam es immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen den beiden Staaten, wie diese Grenze ad­äquat überwacht werden könne. Äuße­rungen von Premierminister Netanjahu Ende 2023, Israel müsse wieder die voll­ständige Kont­rolle über die Philadelphi-Passage überneh­men, schlugen in Ägypten hohe Wellen. Die hiermit verbundene Unterstellung, Ägyp­ten könne seine Grenze nicht sichern und würde Waffenschmuggel zulassen, haben ägyptische Offizielle umgehend zurückgewiesen und jede Ände­rung des Status der Grenze abgelehnt. Tat­sächlich ist diese Unterstellung aber keines­falls aus der Luft gegriffen.

Zwar hat Ägypten nicht erst unter Präsident Sisi seine Bemühungen verstärkt, die Grenze zu sichern. Bereits während der Präsidentschaft des Muslimbruders Muham­mad Mursi wurden Tunnel zum Gaza-Strei­fen geflutet, um die Versorgungslinien für jihadistische Gruppen auf dem Sinai zu unterbinden. Nach Mursis Entmachtung durch das ägyptische Militär im Juli 2013 wurde die Zerstörung von Tunneln fort­ge­setzt. Anders als unter Mursi ging es der neuen politischen Führung unter Präsident Sisi hierbei nun aber auch darum, die Hamas zu schwächen. Sie wurde wegen ihrer Ver­bindungen zur ägyptischen Muslim­bruder­schaft als Bedrohung gesehen. Zwischen 2013 und 2015 ließ die Regierung eine Puffer­zone zum Gaza-Streifen errichten, wobei Tausende Häuser auf ägyptischer Seite zerstört und ihre Bewohner zwangsumgesiedelt wurden.

Wenig beachtet hat die Sisi-Admi­nis­t­ration nach 2016 indes eine Kehrtwende vollzogen. Offenbar mit dem Ziel, die Auf­standsbewegung auf dem Sinai effektiv zu bekämpfen, wurden die Beziehungen zur Hamas suk­zessive verbessert. Die Hamas ist der Sisi-Administration ihrerseits weit ent­gegengekommen. 2017 verzichtete sie in einem Politikdokument sogar auf den Hin­weis, wonach sie Teil der transnationalen Muslimbruderschaft sei, und kappte damit formal ihre Ver­bindungen zur ägyptischen Mutterorgani­sation. Infolgedessen verbesserte sich ebenfalls die Zusammenarbeit im Grenz­manage­ment. Dieses entwickelte sich sowohl für die Hamas als auch für die ägyptische Seite zu einem äußerst lukrativen Geschäft: Der Personenverkehr etwa wurde über den Grenzübergang Rafah ab­gewickelt, der immer wie­der geschlossen wurde. Auf­grund zahlreicher Schikanen waren Palästi­nenserinnen und Palästinenser gezwungen, die kostspieligen Dienste von Vermittlungsagenturen in Anspruch zu nehmen, die offensichtlich enge Ver­bin­dungen zum ägyp­tischen Sicherheitsapparat unterhielten.

Noch lukrativer dürfte allerdings die ge­meinsame Kontrolle eines Teils des Waren­verkehrs in den Gaza-Streifen gewesen sein. Nach einer Verständigung zwischen Israel und der Hamas Ende 2018, in deren Folge es zu einer teilweisen Lockerung der jahre­langen israelischen Blockade des Gaza-Strei­fens kam, wurde der Grenz­übergang Salah-al-Din bei Rafah in Betrieb genommen. Zwar wurden gemäß offiziellen Zahlen über diesen Übergang zunächst weniger als 10 Pro­zent des Warenverkehrs in den Gaza-Strei­fen abgewickelt; der Großteil der Trans­porte verlief über den israelischen Grenz­übergang Kerem Shalom. In den Folgejah­ren erhöhte sich der Anteil aber erheblich: Im August 2023, rund einen Monat vor dem An­griff der Hamas auf Israel, gelangten 37 Prozent der offiziellen Güterimporte auf diesem Weg in den Gaza-Streifen. Über die Erhebung von Zöllen und Gebühren ver­dienten die Sicherheitsorgane auf beiden Seiten der Grenze hervorragend, im Falle der Hamas, wie es aussieht, rund 14 Mil­lionen US-Dollar im Monat.

Vor allem aber unterlag der Warenverkehr über den Grenzübergang Salah-al-Din nicht der Kontrolle im Rahmen des Gaza Reconstruction Mechanism, eines Dreier­abkommens zwischen der Palästinensischen Autonomiebehörde, der israelischen Regie­rung und den Vereinten Nationen, das den Wiederaufbau des Gaza-Strei­fens nach dem Krieg von 2014 regeln sollte. Vielmehr blieb die Abwicklung des Güter­verkehrs ebenso wie diejenige des Personen­verkehrs weitest­gehend in­trans­parent. Ge­rade der offenkundig erfolgreiche Schmug­gel von Waffen und Baumaterial durch die Hamas dürfte Israel darin bestär­ken, auf einer direkten Kontrolle der Grenze des Gaza-Streifens zu Ägypten zu bestehen.

Ausblick und Empfehlungen

Sowohl Ägypten als auch Israel hätten viel zu verlieren, sollten sich die bilateralen Beziehungen weiter verschlechtern – ins­besondere wenn dies darauf hinausliefe, dass der Friedensvertrag von 1979 ausgesetzt oder aufgekündigt würde. Dieser Ver­trag ist die formale Grundlage für jährliche US-amerikanische Rüstungshilfen in Höhe von 1,3 Milliarden US-Dollar an Ägypten. Ein Wegfall dieser Unterstützung bedeutete einen erheblichen Einschnitt in den Ver­teidigungshaushalt des Landes. Darüber hinaus würde Kairo seine bislang durchaus komfortable Vermittlerrolle zwischen Israel und den Palästinensern verlieren, die der Regierung in der Ver­gangenheit in den westlichen Hauptstädten ein gewisses poli­ti­sches Gewicht eingeräumt hat.

Israel wiederum konnte durch seine guten Beziehungen zum südlichen Nach­barn seine Verteidigungsanstrengungen auf die nördliche Landesgrenze sowie auf die Sicherung der besetzten Gebiete kon­zent­rieren. Bereits in den letzten Jahren äußer­ten israelische Analysten ihre Sorge über die massive Aufrüstung des großen Nach­barn. Sollte es nun Zweifel an der Fried­fertigkeit Ägyptens geben, wäre Israel gezwungen, seine Streitkräfte entlang der südlichen Grenze aufzustocken. Mit Blick auf die bestehende Belastung für das israe­li­sche Militär wäre dies eine enorme Heraus­forderung. Zudem ist Ägypten nach wie vor als Vermittler gefragt, nämlich bei den fort­dauernden Verhandlungen um die Frei­lassung der von der Hamas entführten isra­e­lischen Geiseln.

Wenig verwunderlich scheinen beide Seiten daher trotz verbaler Drohungen wei­ter­hin das Gespräch miteinander zu suchen, wie auch ein im Februar 2024 geschlossenes, neues Abkom­men über eine Erhöhung der israe­lischen Gasexporte zeigt. Dennoch dürfte es kaum gelingen, die beiden zentra­len Streit­punkte in den bilateralen Bezie­hungen auszuräumen. Denn selbst wenn eine Mas­senflucht von Palästinenserinnen und Paläs­tinensern auf den Sinai kurzfristig ausbleiben sollte, würde ein solches Sze­na­rio für den Gaza-Streifen wohl auch nach Beendigung der Kriegshandlungen weiter Bestand haben. Grund sind die unklaren Entwicklungs­perspektiven. Und dass Israel freiwillig auf eine militärische Wieder­besetzung der Philadelphi-Passage verzichten könnte, steht angesichts der Konflikt­dynamik eher nicht zu erwarten.

Deutschland und seine europäischen Partner sollten in beiden Streitpunkten klar Position beziehen. Dabei ist Ägyptens Ab­lehnung jeder Form von Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung aus dem Gaza-Streifen vorbehaltlos zu unterstützen. Die Bundesregierung hat bereits erklärt, dass eine großflächige Vertreibung nicht statt­finden darf. Allerdings droht diese keines­wegs nur infolge einer weiteren mili­tärischen Eska­la­tion. Auch wenn der Status quo beibehalten wird, kann daraus eine solche Vertreibung resultieren, da sich die Lebensbedingungen im Gaza-Streifen stünd­lich ver­schlechtern. Die Europäer sollten deshalb nicht nur auf eine humanitäre Feuerpause drängen, sondern auf einen dauerhaften Waffenstillstand. Dieser ist Vor­aussetzung für eine nachhaltige Stabili­sie­rung, wie sie etwa der vom Außen­beauf­trag­ten der Europäischen Union, Josep Borrell, unterbreitete Friedens­plan zum Ziel hat.

In Bezug auf die Grenzsicherung gilt es, die Sorgen Israels ernst zu nehmen. Die Rückkehr zum Status quo ante, bei dem Ägypter und Palästinenser gemeinsam die südliche Grenze des Gaza-Streifens kon­t­rolliert haben, ist angesichts der massiven Aufrüstung der Hamas in den vergangenen Jahren keine Option. Das zukünftige Grenz­management muss transparent sein und im Sinne eines zivilen Wiederaufbaus des Gaza-Streifens erfolgen. Entsprechend muss freier Personen- und Warenverkehr ermög­licht und gleichzeitig die Einfuhr von Waffen verhindert werden. Israel dürfte da­bei nur dann auf die eigene Kontrolle der Grenze zwischen Ägypten und dem Gaza-Streifen ver­zich­ten, wenn diese durch ver­trauenswürdige externe Akteure sicher­gestellt wird. Deutsch­land und die Euro­päische Union könnten hierzu ihre Unter­stützung anbieten.

Dr. Stephan Roll ist Leiter der Forschungsgruppe Afrika und Mittlerer Osten.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2024

SWP

Stiftung Wissenschaft und Politik

ISSN (Print) 1611-6364

ISSN (Online) 2747-5018