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Ein Paradies für Gangster?

Transnationale organisierte Kriminalität in Zeiten der Covid-19-Pandemie

SWP-Aktuell 2020/A 93, 03.12.2020, 8 Seiten

doi:10.18449/2020A93

Forschungsgebiete

Seit dem Ausbruch der Covid-19-Pandemie erleben einige illegale Geschäftsfelder wie etwa der Handel mit gefälschten Medizinprodukten eine Hochkonjunktur. Andere typische Einkommensquellen der Organisierten Kriminalität (OK) brachen aufgrund von Lockdowns, Reisebeschränkungen und Grenzschließungen kurzzeitig eher ein. Mit den stetigen Veränderungen der Infektionslage und einer zunehmenden Fragmentierung der Gegenmaßnahmen ist die Lage auch für kriminelle Akteure unübersichtlicher geworden. Was die OK mittelfristig beeinflussen kann, sind vor allem die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Folgen der Pandemie. Neben Verschiebungen auf illegalen (Drogen-)Märkten könnten sich das Potential für kriminelle Ausbeutung in der Folge der Gesundheitskrise erhöhen und der Einfluss krimineller Grup­pen auf Staat und Gesellschaft verstärken. Teilweise sind diese Entwicklungen bereits sichtbar. Die damit einhergehenden Risiken bedürfen erhöhter Aufmerksamkeit durch politische Entscheidungsträger und Strafverfolgungsbehörden und einer gezielteren internationalen Zusammenarbeit.

Nach der ersten Welle der Ausbreitung von Covid-19 dauerte es nicht lange, bis die Medien über eine Zunahme illegaler Ge­schäftspraktiken berichteten. Schlagzeilen machten vor allem der Handel mit gefälsch­ten Schutzmasken, Desinfektionsmitteln oder Test-Kits und der Betrug mit vermeintlichen Behandlungs- oder Impfstoffen gegen Covid-19. Doch die Auswirkungen der Pandemie gingen weit darüber hinaus.

Kriminalität im ersten Lockdown

Es überrascht kaum, dass kriminelle Akteu­re in der Pandemie sogleich versuchten, von der Knappheit an medizinischen Gütern, der schnellen und häufig unbürokratischen Ausschüttung von Hilfszahlungen und einer starken Zunahme digitaler Transaktionen zu profitieren. Bei einem großen Teil der pandemiebedingten OK-Aktivitäten han­delte es sich um Betrugsdelikte wie etwa Online-Kreditkartenbetrug oder die Fäl­schung von Websites, um Spenden ab­zugrei­fen. Daneben nahm auch der Online-Handel mit Drogen und Material von sexu­ellem Kindesmissbrauch zu.

Doch die OK war durch die Gesundheits­krise auch mit Beeinträchtigungen konfron­tiert: Reisebeschränkungen, Grenzschließun­gen und Lockdowns unterbrachen illegale Lieferketten und Transportwege. In Mexiko ging offenbar die Produk­tion von Fentanyl und Methamphetamin zurück, weil chemi­sche Grundstoffe aus China nicht in gewohn­tem Umfang importiert werden konnten. Zudem wurde an verschiedenen Punkten der Schmuggel von Kokain nach Europa und in die USA erschwert. Für viele Netz­werke und Banden war es auch schwieriger, Drogen an die Konsumentinnen und Kon­sumenten auszuliefern. Teilweise nutzten sie daher stärker den Postweg oder als »systemrelevant« getarnte Kuriere. Die ver­ordneten Einschränkungen bei der Mobi­lität gingen an einigen Orten vorüber­gehend mit einem deutlichen Rückgang von Delikten wie bandenmäßigem Taschen- und Einbruchdiebstahl einher. Bestimmte kriminelle Einnahmequellen, wie etwa der Menschenschmuggel, versiegten hier und da fast ganz; viele Migrantinnen und Migranten saßen in der Folge entlang der Schmuggelrouten fest.

Dies waren jedoch Entwicklungen, die vor allem auf die restriktiven Maßnahmen zu Beginn der Pandemie zurückzuführen waren. Wie sich Covid-19 mittelfristig auf die organisierte Kriminalität auswirken wird, hängt unter anderem davon ab, wie sich das Infektionsgeschehen und die da­gegen gerichteten Restriktionen weiter ent­wickeln werden. Es zeichnen sich allerdings schon jetzt massive wirtschaftliche, soziale und politische Folgen ab. Auch wenn die OK-Phänomene sich nach Region und Land deutlich unterscheiden, sind sie oft nicht nur transnational, sondern über verschiedene Kontinente hinweg miteinander ver­bunden. Auch illegale und legale Märkte sind auf vielfältige Weise verflochten. Damit wird die anhaltende Pandemie un­weigerlich Auswirkungen auf die grenzüberschreitende OK haben, die über die erwähnten kurzfristigen Verschiebungen hinausgehen. Die vier nachfolgend beschrie­benen Entwicklungen bergen besonderes Gefahrenpotential.

Neue analoge und virtuelle Profitmöglichkeiten

Kriminelle Netzwerke reagieren meist rasch auf neu entstehende Ertragschancen. Zwar ist der Handel mit minderwertigen und gefälschten Medikamenten und Medizin­produk­ten seit längerem ein profitables Ge­schäftsfeld (siehe SWP-Aktuell 30/2019) und auch die Art der Delikte und das Vor­gehen dabei waren nach der Ausbreitung von Covid-19 nicht unbedingt anders; mit der Pandemie boten sich für kriminelle Akteure jedoch neue Möglichkeiten, unter anderem durch die stark anziehende Nachfrage nach bestimmten medizinischen Gütern.

Doch die Folgen von Covid-19 für das legale Wirtschaftsleben wirken sich auf illegale Geschäfte und Handelsströme noch in anderer Hinsicht aus: Kriminelle Akteure können zum Beispiel von Lieferengpässen auf legalen Märkten profitieren, die durch die zeitweilige Einschränkung der Produktion bestimmter Güter in Lockdown-Situa­tionen eingetreten sind. Sie können vor allem durch Produktfälschungen einen Teil der Nachfrage bedienen. Das gilt nicht nur für pharmazeutische Produkte und medizi­nisches Material, sondern für Konsum- und Gebrauchsgüter aller Art. Dieses Geschäft könnte auch dadurch begünstigt werden, dass Verbraucher, die pandemiebedingt Einkommenseinbußen haben, zunehmend auf preisgünstigere Fälschungen und ge­schmuggelte Produkte, etwa Zigaretten, zurückgreifen. Dabei entstehen durchaus Gefahren für die Endabnehmer, denen die Herkunft der Waren aufgrund der Ver­mischung legaler und illegaler Märkte nicht unbedingt bewusst ist.

Ein zweites Feld, das nicht nur kurzfristig mehr Profite verspricht, sind kriminelle Geschäfte und Aktivitäten im virtuellen Raum. Zum einen ist davon auszugehen, dass auch bei Abflauen der Pandemie nicht nur legale, sondern auch illegale Dienstleis­tungen vermehrt online abgewickelt wer­den. Zum anderen wächst mit der verstärkten Digitalisierung ganz generell das Poten­tial für Cyberkriminalität wie Onlinebetrug, Phishing oder Angriffe mit Schadsoftware zur Lösegelderpressung. Für kriminelle Netz­werke ergeben sich durch diese Entwick­lung viele Ansatzpunkte. Wegen der niedri­geren Hürden beim Marktzugang gilt dies durchaus auch für neue Akteure, die nicht unbedingt der OK zuzuordnen sind. Anders stellt sich die Situation im internationalen Drogenhandel dar, der durch das Verbot der gehandelten Substanzen – mit wenigen lokalen bzw. nationalen Ausnahmen bei Cannabisprodukten – ohnehin praktisch vollständig im illegalen Raum stattfindet.

Verschiebungen im internationalen Drogenhandel

Die Auswirkungen der Pandemie auf den Drogenhandel sind aus zwei Gründen be­sonders relevant. Erstens ist das Drogen­geschäft für die OK weltweit nach wie vor die lukrativste Einnahmequelle. Allein der Umsatz in Europa wird auf jährlich 30 Mil­liarden Euro geschätzt. Zweitens geht mit Kräfteverschiebungen an einzelnen Punk­ten der Lieferkette immer die Gefahr ein­her, dass über Jahre gewachsene Arrangements unter kriminellen Akteuren in Frage gestellt werden – mit möglichen negativen Folgen wie zunehmender Gewalt. Regel­mäßig verweisen internationale Berichte, etwa von Europol, darauf, dass OK-Gruppen besonders in diesem Geschäftsfeld die Exis­tenz globaler Handelsströme und die gestie­gene Mobilität ausnutzen. Doch was, wenn diese Rahmenbedingungen ins Wanken geraten?

Gerade die Märkte für Kokain und Heroin sind anfällig für Störungen interregio­naler Transportwege. Der Verkauf kann zwar am Ende der Kette über das World Wide Web bzw. das Darknet stattfinden, doch zuvor muss der Schmuggel über lange Strecken erfolgen – bei Kokain überwiegend aus der Andenregion, bei Heroin vor­nehmlich aus Asien, vor allem Afghanistan und Myanmar, aber auch aus Mexiko und anderen lateinamerikanischen Ländern. Von dort müssen die Substanzen zu den Hauptabsatzmärkten gelangen, vor allem nach Europa und Nordamerika. Auf die Ernte in den Drogenanbaugebieten hatte die Pandemie offenbar kaum Auswirkungen; vielfach wird erwartet, dass der Anbau mit der wirtschaftlichen Krise eher noch ausgeweitet wird. Dennoch konstatierte das UN-Büro für Drogen und Verbrechens­bekämpfung (UNODC) steigende Preise in Europa und abnehmende Qualität bei Dro­gen wie Kokain. Ein Teil der Konsumentinnen und Konsumenten wich aufgrund von Lieferengpässen offenbar auf verschreibungspflichtige Medikamente aus. Bei Heroin schloss Europol ebenfalls aufgrund steigender Preise und sinkender Qualität auf eine geringere Verfügbarkeit. Dagegen konnte die verstärkte Nachfrage nach Can­nabisprodukten während der ersten Welle von Lockdowns in Europa aufgrund der deutlich kürzeren Liefer­ketten leichter bedient werden.

Die Preise könnten sich bei einer wirkungsvollen Eindämmung der Pandemie in Europa und Nordamerika schnell wieder »normalisieren«. Allerdings wird der inter­regionale Handel von Drogen auf absehbare Zeit zumindest erschwert bleiben, unter anderem wegen des reduzierten internatio­nalen Flugverkehrs und stärkerer Kontrollen an einigen wichtigen Grenzen. Ende Okto­ber 2020 waren nach Angaben der Inter­natio­nalen Zivilluftfahrtorganisation noch 186 Flughäfen weltweit ganz oder teilweise geschlossen. Die etablierten kriminellen Organisationen reagieren auf die Einschrän­kungen beim Schmuggel durchaus kreativ. So gibt es Berichte, denen zufolge Drogen vermehrt mit Hilfe von Drohnen über die geschlossene US-mexikanische Grenze transportiert wurden. Neben dem Einsatz aufwendigerer Technologien müssen krimi­nelle Organisationen in Pandemiezeiten mitunter auch ein höheres Risiko eingehen, etwa beim Schmuggel von Opiaten über Land in Zentralasien. Auch deshalb be­mühen sich OK-Gruppen, die im internatio­nalen Heroinhandel aktiv sind, derzeit offenbar, für den Transport nach Europa stärker die Seewege entlang der südlichen Route über den Indischen Ozean zu nutzen. Veränderungen lassen sich auch auf den maritimen Routen des Kokain­handels nach Europa feststellen. Zahlreiche Beschlag­nahmungen in europäischen Häfen im Sommer legen nahe, dass diese weiter wich­tige Einfallstore sind. Doch der Umfang der Funde könnte auch darauf hinweisen, dass größere Mengen Kokain in einzelnen Lieferungen über den Seeweg transportiert werden. Vor allem behindern die neu ver­hängten oder verlängerten Maßnahmen gegen die Pande­mie wohl die Weiter­verteilung von Kokain über Land.

Dieser Trend könnte sich auch beim Konsum auf wichtigen Absatzmärkten wie Europa oder den USA niederschlagen. Bei steigenden Preisen könnten Konsumentinnen und Konsumenten etwa statt Heroin verstärkt synthetische Opiate nutzen, die näher am Absatzmarkt produziert werden können. Kokain konkurriert mit neuen psychoaktiven Substanzen und (Meth)­Amphetaminen, die auch in Europa her­gestellt werden. Da seit dem Herbst 2020 in Europa und anderswo wieder Ausgangssperren und Lokalschließungen verhängt werden und sich die wirtschaftliche Lage kaum erholt, wird es noch längere Zeit dauern, bis die Nachfrage beim Gelegenheitskonsum von Drogen wie Kokain wieder anzieht. Nach der Finanzkrise 2008 wechsel­ten Nutzer beispielsweise verstärkt auf bil­ligere synthetische oder gemischte Drogen. Die genaue Entwicklung der Nachfrage ist schwer vorherzusehen. UNODC berichtete aber im Sommer von einem plötzlichen Ab­sturz des Opiumpreises in Myanmar und von nachlassenden Kokainpreisen, vor allem in Peru. Dies kann ein Zeichen von sinkender Nachfrage, aber auch von stocken­den Abläufen in der Lieferkette sein.

Der internationale Handel mit Drogen wird weiterhin sehr profitabel bleiben. Allerdings werden coronabedingte Ein­schränkungen und die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie von den beteiligten kriminellen Akteuren immer wieder Anpas­sungen erfordern. Die Unwägbarkeiten auf dem Markt scheinen schon jetzt an einigen Stellen zu einem stärkeren Verdrängungswettbewerb geführt zu haben. In Zentralamerika und Mexiko etwa ist ein Anstieg von Gewalt zwischen kriminellen Gruppen zu beobachten, der auf den Kampf um den schrumpfenden Stammmarkt und den Zu­gang zu Handelsrouten zurück­geführt wird. Trotz des Lockdowns erreichte die Mordrate in Mexiko im März ein neues Rekordhoch und auch die Gewalt gegen Zivilistinnen und Zivilisten hat zugenommen. Gewalt­same Auseinandersetzungen mögen auch dadurch befeuert werden, dass manche Gruppen in den von ihnen kontrollierten Gebieten sinkende Erträge aus der Schutzgelderpressung verzeichnen. Jedenfalls versuchen einige Banden, ihre Einnahme­quellen zu diversifizieren, etwa Gangs in Mittelamerika, die als Nebengeschäft in den Kokain- und Cannabishandel einsteigen. In Anbaugebieten könnten die Auswirkungen von Verschiebungen im Drogenhandel eben­falls schwerwiegend sein. In Kolumbien konzentrierte sich mit dem Lockdown die Gewalt gegen Zivilistinnen und Zivilisten auf einige Provinzen, zum Beispiel Cauca, wo verschiedene kriminelle Organisationen um die Kontrolle von Anbaugebieten strei­ten. Auch auf den Friedensprozess in Afgha­nistan könnten sich Marktveränderungen niederschlagen, da sich die Taliban unter anderem durch die Besteuerung des Schlaf­mohnanbaus, die Heroinherstellung und den Transport finanzieren.

Die Effekte der Pandemie auf den Drogen­handel sind allerdings nicht auf Anbau- und Transitgebiete beschränkt. Ein Bericht zu den Auswirkungen von Covid-19 auf europäische Drogenmärkte kommt zu dem Schluss, dass die kriminellen Geschäfte ent­lang der Lieferkette in Europa in einem zunehmend volatilen Umfeld stattfinden und diese Instabilität bereits zu einem Mehr an Gewalt unter Lieferanten und Zwischen­händlern geführt hat. Schon vor Covid-19 gab es Anzeichen für einen zunehmenden Wettbewerb im internationalen Kokainhandel. Ausgelöst wurde er unter anderem durch neue Gruppen, die neben den domi­nierenden kolumbianischen und italie­ni­schen kriminellen Organisationen auf den Markt drängten. Bei längerer Dauer der Pan­demie ergeben sich vermutlich Vorteile für international gut vernetzte Organisationen, insbesondere solche, die die gesamte Liefer­kette von den Anbaugebieten bis zu den Absatzmärkten kontrollieren – wie die albanische Organisation Kompania Bello, gegen die im September eine europäische Strafverfolgungsoperation vorging. Andere Gruppen könnten sich bei schwindenden Einnahmen stärker auf Gewaltkriminalität verlegen. Damit hätten die pandemie­bedingten Verschiebungen im internatio­nalen Drogengeschäft auch für die innere Sicher­heit in Europa Konsequenzen.

Verwundbarkeit für kriminelle Ausbeutung steigt

Knapp ein Jahr nach dem Ausbruch von Covid-19 zeigt sich bereits, dass die gesell­schaftliche Resilienz gegenüber OK infolge der Gesundheitskrise eher abnimmt. Bestimmte Bevölkerungsgruppen werden verwund­barer für die Ausbeutung durch kriminelle Organisationen. Die Welt­bank geht davon aus, dass durch Covid-19 circa 115 Millionen mehr Menschen in Armut leben werden. Wegen der Pandemie werden vor allem Menschen aus Ländern mit mitt­lerem Einkommen, die in Städten leben und einen höheren Bildungsgrad haben, in die Armut abrutschen. Sie könnten dann leichter von kriminellen Gruppen rekrutiert und Opfer von sexueller oder Arbeitsausbeutung werden.

Die Erfahrung lehrt, dass Menschen­handel nach dem Ausbruch einer Epidemie zunimmt. Die UN-Sonder­berichterstatterin zu Menschenhandel konstatierte im Okto­ber, dass »mehr Men­schen gefährdet sind […] besonders in der informellen Ökonomie«. Menschenhändler könnten die ver­zweifelte Lage vieler Menschen leicht aus­nutzen. Viele informell Beschäftigte verlie­ren in der Pandemie schlichtweg ihr Ein­kommen. Mangels staatlicher Hilfen besteht ein erhöhtes Risiko, dass sie sich kriminellen Organisationen zuwenden. Auch Kinder sind hier stärker gefährdet. In Kolumbien etwa haben sich in der ersten Hälfte 2020 bereits so viele Kinder organisierten krimi­nellen Gruppen angeschlossen wie im gan­zen Jahr 2019. Die mancherorts lang an­dauernden Schulschließungen und die län­gere Zeit, die Kinder zu Hause online ver­brin­gen, haben auch die Bedrohung für sexuellen Kindesmissbrauch über das Inter­net deut­lich erhöht. Europol erwartet lang­fristig eine Zunahme solcher Fälle und eine steigende Nachfrage nach entsprechendem Online-Material.

Mit der Pandemie wird auch das Auf­decken von Menschenhandel schwieriger. Denn durch die Auswirkungen auf das öffentliche Leben und die Mobilität ist die Kriminalität weiter in den Untergrund ge­drängt worden. Auch Hilfsangebote für Opfer sind teilweise ausgesetzt oder redu­ziert worden.

Zudem sind viele der weltweit Millionen von Arbeitsmigrantinnen und Arbeits­migranten während der Pandemie gestran­det. Im Libanon etwa wurden aufgrund der wirt­schaftlichen Krise, die sich durch die Pandemie verschärft hat, viele Hausangestell­te aus afrikanischen Ländern von ihren Arbeitgebern einfach auf die Straße gesetzt. Häufig ohne Papiere und Geld, können viele nicht nach Hause zurückkehren und nur wenige erhalten Unterstützung durch sozia­le Dienste oder Botschaften. In der Golf­region haben sich die gemeldeten Fälle von Arbeitsausbeutung seit Beginn der Pande­mie verdreifacht. Regelmäßig wird Migran­tinnen und Migranten der Lohn vorent­halten, während ihre Schulden zur Beglei­chung von Anwerbungsgebühren und Lebens­haltungskosten weiter steigen. In sol­chen Situationen ist für Arbeiterinnen und Arbei­ter die Gefahr besonders groß, Opfer von (weiterer) Ausbeutung zu werden.

Grundsätzlich erhöht sich auch das Risiko, dass über Grenzen geschmuggelte Personen Opfer von Menschenhandel wer­den. Denn die Situation von Migrantinnen und Migranten entlang der Schmuggel­routen hat sich mit Covid-19 vielfach zu­gespitzt. Die Abnahme der irregulären Migra­tion an den europäischen Grenzen um 85 Prozent von März auf April ist vor allem auf die kurzzeitige Unterbrechung der Transportwege zu­rückzuführen. Die Mehrheit der Migrantinnen und Migranten, die Europa von Nordafrika erreichen, nutzt die Dienste organisierter Schmuggel­netzwerke, die angesichts der veränderten Situation mehr Geld von ihnen fordern und sie häufig ausbeuten oder zur Ausbeutung weiterverkaufen.

In europäischen Staaten wird aufgrund der Rezession vor allem damit gerechnet, dass das Potential für Arbeitsausbeutung steigt – zum Beispiel in Branchen wie dem Gastgewerbe. Im Bereich der Prostitution haben viele etablierte kriminelle Gruppen während der Lockdowns schnell Wege ge­funden, ihr Geschäftsmodell anzupassen. Doch für diejenigen, die in diesen Sektoren gegen ihren Willen arbeiten, werden die erschwerten Bedingungen oft noch weniger »Verdienst« unter noch gefährlicheren oder unwürdigeren Umständen bedeuten. In Italien werden Tausende von Frauen aus Nigeria, die zur Prostitution gezwungen und derzeit ohne Einnahmen sind, weiter­hin von Schuldeneintreibern drangsaliert. Das wachsende Potential für verschiedene Formen der Ausbeutung durch kriminelle Gruppen erfordert also auch von der EU robustere Antworten und größere Anstrengungen bei der Prävention.

Mehr Raum für Einfluss von OK

Die Folgen der Covid-19-Pandemie könnten zudem den Einfluss krimineller Organisa­tio­nen im öffentlichen Raum stärken. Ers­tens bieten sich der OK vermehrt Chancen zur Infiltration der legalen Wirtschaft. Die öko­nomischen Folgen der Lockdowns eröffnen ihr zusätzliche Gelegenheiten, schwächelnde Unternehmen – etwa in der Transport-, Gastronomie- oder Tourismusbranche –zu unterstützen oder direkt zu übernehmen. Gerade wo staatliche Hilfsprogramme nicht greifen, wie im informellen Sektor, bringen sich OK-Gruppen gern als günstige und un­bürokratische Kreditgeber ins Spiel. Dabei geht es nicht nur um Geldwäsche, sondern vor allem darum, in Teilen der Bevölkerung Abhängigkeiten und Loyalitäten zu schaffen.

Zweitens bemühen sich kriminelle Orga­nisationen, auch selbst an finanzielle Mittel aus den Unterstützungsprogrammen zu ge­langen. So hat zum Beispiel die kalabrische Mafia ’Ndrangheta versucht, über Unterneh­men im Stahl­sektor italienische Hilfsgelder zu erhalten. Transparency International warnt davor, dass organisierte Kriminelle staatliche und europäische Hilfen wie den EU-Recovery Fund ausnutzen werden. Die vermehrte und beschleunigte Ausschüttung von Hilfsgeldern bietet der OK vielfältige Möglichkeiten zur Veruntreuung, Bestechung oder Übernahme von öffentlichen Aufträgen, vor allem im derzeit wichtigen Gesundheitssektor. Damit können krimi­nelle Organisationen nicht nur ihre Profite steigern, sie greifen dabei eben auch auf öffentliche Gelder und Sektoren zu. Je nach Umfeld kann dies dazu führen, dass neue Verbindungen und Abhängigkeiten zwi­schen kriminellen und staatlichen Akteu­ren entstehen.

Drittens ist durch die Pandemie vielerorts mit einer Zunahme der Korrup­tion zu rechnen. Kriminellen Organisationen dürfte es so noch leichter fallen, ihre illegalen Ge­schäfte abzusichern. In manchen Staaten werden im Schatten der Covid-19-Krise wohl auch politisch-kriminelle Arrangements ge­stärkt, in denen politische Ent­scheidungs­träger zum Beispiel gegen finanzielle Unter­stützung für Wahlkämpfe bestimmte kri­mi­nelle Gruppen schützen. Angesichts der schwerwiegenden wirtschaftlichen Folgen der Pandemie dürfte dies insbesondere in einigen fragilen Staaten der Fall sein.

Wie diese drei Aspekte zusammenwirken und wie sehr die OK tatsächlich ihren Ein­fluss auf Staat und Gesellschaft ausbauen kann, wird je nach Kontext sehr unterschied­lich sein. Ein Staat, der vor der Pandemie schon schwach war, wird vermutlich weiter an Legitimität in der Bevölkerung verlieren, wenn kriminelle Gruppen effizient staats­ähnliche Funktionen übernehmen.

Kriminelle Organisationen, die bereits eine lokale Machtbasis und gewisse Ord­nungsfunktionen haben, werden anders auf die Krise reagieren als lose und territorial ungebundene Netzwerke. So traten ver­schie­dene OK-Gruppen bei der Bekämpfung der Pandemie mit eigenen Hilfs- und Sicherungs­maßnahmen in Erscheinung. Kriminelle Organisationen profilierten sich in den von ihnen kontrollierten Kommunen als »Wohl­täter«, wie zum Beispiel das Sinaloa-Kartell in Mexiko, für das eine der Töchter von El Chapo, dem historischen Anführer des Kartells, Lebensmittel mit dem Bild ihres Vaters an Menschen in finanzieller Not verteilte. Auch in den Favelas von Rio de Janeiro inszenierten sich kriminelle Banden als Garanten der öffentlichen Sicherheit und Gesundheitsversorgung. Mit Text­nachrich­ten an die Bewohnerinnen und Bewohner machten sie deutlich, dass staat­liche Kräfte bei der Bekämpfung des Virus versagt hätten und die Mitglieder der Grup­pen selbst Maßnahmen zum Gesundheitsschutz auch unter Anwendung von Gewalt durchsetzen würden. Aktuell mobilisieren verschiedene Mafiagruppen in Italien gegen den erneuten Lockdown und versuchen da­bei, das Misstrauen gegenüber dem italieni­schen Staat zu schüren. Dass durch die Pan­demie neue Gruppen Kontrolle aufbauen können, denen das bislang nicht gelungen war, erscheint dagegen fraglich.

Kein Paradies, aber erhöhte Risiken

Mit der Ausbreitung von Covid-19 und den dagegen gerichteten Maßnahmen haben sich die Handlungsbedingungen für die OK verändert, allerdings nicht durchweg ver­bessert. Kurzfristig stehen neue Profit­möglichkeiten neben logistischen Behinderungen und erhöhten Risiken an bestimmten Stel­len der Schmug­gelrouten. Ein »Paradies für Gangster« wird die Welt wohl nicht. Es gibt jedoch Anzeichen für Entwick­lungen, die sich negativ auf die staatliche und menschliche Sicherheit auswirken kön­nen, Entwicklungen, die nicht nur vom weiteren Verlauf der Pandemie und ihrer Bekämpfung abhängen, sondern auch von den wirtschaftlichen, sozialen, und poli­tischen Folgen der Krise. Diese werden re­gional und national variieren. Damit braucht es auch von deut­scher und euro­päischer Seite verschiedene Antworten.

Bei einigen Ansatzpunkten kann Europa ganz direkt nach innen handeln, etwa bei den Faktoren, die OK begünstigen oder er­möglichen wie Korruption und Geldwäsche. Infolge der Pandemie ist auch in westlichen Staaten mit einer erhöhten Infiltration der legalen Ökonomie und dem Abzweigen von Geldern aus Notfallplänen und Finanz­hilfen durch kriminelle Akteure zu rechnen. Um dem entgegenzuwirken, ist es, wie UNODC unterstreicht, nach wie vor ent­scheidend, dass bewährte Verfahren der »Due Diligence«, transparente Vergabeprozesse und Echtzeit-Audits angewandt werden. Die Lockdowns haben nicht grundsätzlich krimi­nelle Organisationen gestärkt. Für die nea­politanische Camorra etwa wurde konsta­tiert, dass diese unter den Bedingungen der Pandemie nicht stärker, sondern »hungri­ger« geworden sei. Umso mehr werden der­artige Akteure jede Schwäche des Staates, der Justiz und der Zivilgesellschaft aus­nut­zen, um ihre eigene Position zu verbessern.

In vielen Fällen allerdings bedarf es eines Blickes über Europa hinaus, schon weil die Covid-19-Folgen praktisch alle Weltregionen betreffen und die EU auf vielfältige Weise über illegale Märkte und OK-Aktivi­täten mit diesen verbunden ist. Beschlagnahmungen von großen Kokainlieferungen wie im Oktober im Hafen von Antwerpen sind ein Indiz dafür, dass die Ströme nicht unterbrochen sind. Doch die Transportmittel, Routen und der Modus Operandi verändern sich mitunter.

Umso wichtiger ist eine stete Analyse von relevanten Verschiebungen entlang der Lieferkette. Aufmerksamkeit verdient zum Beispiel auch die Frage, inwieweit sich der legale internationale Handel nach Corona durch ein möglicherweise verstärktes »De-coupling« verändert und welche Folgen das für den interregionalen illegalen Handel hätte. Genau zu beobachten bleibt darüber hinaus, ob Gewalt und Instabilität zuneh­men, wenn sich Routen und die Arrangements krimineller Gruppen im Drogen­handel nachhaltiger ändern sollten. Die Effekte solcher Umbrüche könnten sich auch in Konfliktgebieten niederschlagen, die Anbau- oder Transitgebiete des Drogen­handels sind. Von Kolumbien und Haiti über Afghanistan bis nach Mali könnten Verschiebungen im illegalen Handel zu einem Faktor in fragilen Friedens- und Stabi­lisierungsprozessen werden, in denen auch Deutschland und die EU auf verschiedene Weise engagiert sind.

Auch über diese Aspekte hinaus wird die internationale Zusammenarbeit beim Vor­gehen gegen OK wichtiger denn je. Mittel­fristig wird die Haushaltslage vieler – auch westlicher – Staaten angespannt sein. So ist es zumindest unwahrscheinlich, dass die Strafverfolgungsbehörden »aufrüsten« und mit Veränderungen der OK Schritt halten werden, gerade in puncto IT-Expertise und technischer Ausrüstung. Negativ niederschlagen werden sich auch die Verminderung oder zeitweise Einstellung sozialer Dienste und die Einschränkungen, die zivil­gesellschaftliche Initiativen treffen – ob direkt durch die Pandemiemaßnahmen oder mittelfristig durch sinkende Budgets. Daher wird es noch wichtiger werden, nicht nur im Bereich der Strafverfolgung durch Informationsaustausch und Amtshilfe grenzüberschreitend zu kooperieren, son­dern auch auf politischer, zivilgesellschaftlicher und privatwirtschaftlicher Ebene über Länder- und Regio­nen hinweg gemein­same Ansätze gegen OK zu entwickeln.

Internationale Foren sind hier nicht der vorrangige Ansatzpunkt. Zwar konnte die diesjährige Konferenz der Unterzeichner­staa­ten der UN-Konvention gegen die grenzüber­schreitende organisierte Kriminalität in hybri­dem Format stattfinden. Doch es mangelte an informellen Konsultationsmöglichkeiten und an der Beteiligung von Nichtregierungs­organisationen. Der auf März 2021 ver­schobene UN Crime Congress kann einen Rahmen für die Diskussion über neue Heraus­forderungen durch Covid-19 bieten. Doch starke Impulse sind schon aufgrund des fehlenden Konsenses bei politisch sen­siblen Themen nicht zu erwarten.

Umso relevanter ist deshalb die Koope­ration mit Drittstaaten und europäischen Nachbarregionen. Deutschland und die EU sind über die OK auf vielschichtige Weise mit anderen Teilen der Welt verbunden. Diese Bezüge und die Interessen betroffener Staaten müssen zum einen besser verstanden werden; zum anderen müssen die außen-, sicherheits- und entwicklungs­politischen Prioritäten mit denen der OK-Bekämpfung und ‑Prävention im Inneren möglichst ausgewogen abgestimmt werden. Das durch die Covid-19-Pandemie erhöhte Potential für kriminelle Ausbeutung etwa sollte Politik, Strafverfolgung, Justiz und die sozialen Dienste in Europa verstärkt auf den Plan rufen. Wichtig ist aber auch, dass die Behörden entlang der Schlepperrouten nach Europa trotz der Überlappungen mit der Schleusung von Migrantinnen und Migranten Fälle von Menschenhandel als solche identifizieren. Interpol stellte schon 2018 in einem Bericht zu OK in Westafrika fest, dass »Ausbeutung oft zugunsten von Fragen der illegalen Migration übersehen wird, was manchmal zu einer erneuten Viktimisierung derjenigen führt, die über die Grenzen geschmuggelt wurden«. Dieses Problem wird sich mit der Pandemie eher verstärken. Hier sollte die EU im Rahmen ihrer Zusammenarbeit mit Drittstaaten deut­liche Akzente zur gezielteren Bekämpfung von Menschenhandel und Ausbeutung setzen. Auch interregionale Programme wie das jüngst von der EU aufgesetzte Projekt zur Bekämpfung organisierter Kriminalität in Westafrika (OCWAR), das je eigene Kom­po­nenten zu illegalem Handel, Cybercrime und Geldwäsche umfasst, sind ein sinn­voller Ansatz. Ein stetiger Austausch über Konzepte, Instrumente und Best Practices im Umgang mit OK über die Silostrukturen der Ressorts des Innen- und Außenhandels hinweg wäre ebenfalls ein Fort­schritt. Ein solcher Austausch wird noch wichtiger werden, wenn es darum geht, die gefähr­lichen Auswirkungen der Pandemie auf transnationale OK genauer zu ermitteln und unter tendenziell erschwerten Bedin­gungen wirkungsvoll gegenzusteuern.

Maria Dellasega war von Juni bis September 2020 Praktikantin der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik.
Dr. Judith Vorrath ist Wissenschaftlerin in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2020

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ISSN 1611-6364