Seit dem Ausbruch der Covid-19-Pandemie erleben einige illegale Geschäftsfelder wie etwa der Handel mit gefälschten Medizinprodukten eine Hochkonjunktur. Andere typische Einkommensquellen der Organisierten Kriminalität (OK) brachen aufgrund von Lockdowns, Reisebeschränkungen und Grenzschließungen kurzzeitig eher ein. Mit den stetigen Veränderungen der Infektionslage und einer zunehmenden Fragmentierung der Gegenmaßnahmen ist die Lage auch für kriminelle Akteure unübersichtlicher geworden. Was die OK mittelfristig beeinflussen kann, sind vor allem die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Folgen der Pandemie. Neben Verschiebungen auf illegalen (Drogen-)Märkten könnten sich das Potential für kriminelle Ausbeutung in der Folge der Gesundheitskrise erhöhen und der Einfluss krimineller Gruppen auf Staat und Gesellschaft verstärken. Teilweise sind diese Entwicklungen bereits sichtbar. Die damit einhergehenden Risiken bedürfen erhöhter Aufmerksamkeit durch politische Entscheidungsträger und Strafverfolgungsbehörden und einer gezielteren internationalen Zusammenarbeit.
Nach der ersten Welle der Ausbreitung von Covid-19 dauerte es nicht lange, bis die Medien über eine Zunahme illegaler Geschäftspraktiken berichteten. Schlagzeilen machten vor allem der Handel mit gefälschten Schutzmasken, Desinfektionsmitteln oder Test-Kits und der Betrug mit vermeintlichen Behandlungs- oder Impfstoffen gegen Covid-19. Doch die Auswirkungen der Pandemie gingen weit darüber hinaus.
Kriminalität im ersten Lockdown
Es überrascht kaum, dass kriminelle Akteure in der Pandemie sogleich versuchten, von der Knappheit an medizinischen Gütern, der schnellen und häufig unbürokratischen Ausschüttung von Hilfszahlungen und einer starken Zunahme digitaler Transaktionen zu profitieren. Bei einem großen Teil der pandemiebedingten OK-Aktivitäten handelte es sich um Betrugsdelikte wie etwa Online-Kreditkartenbetrug oder die Fälschung von Websites, um Spenden abzugreifen. Daneben nahm auch der Online-Handel mit Drogen und Material von sexuellem Kindesmissbrauch zu.
Doch die OK war durch die Gesundheitskrise auch mit Beeinträchtigungen konfrontiert: Reisebeschränkungen, Grenzschließungen und Lockdowns unterbrachen illegale Lieferketten und Transportwege. In Mexiko ging offenbar die Produktion von Fentanyl und Methamphetamin zurück, weil chemische Grundstoffe aus China nicht in gewohntem Umfang importiert werden konnten. Zudem wurde an verschiedenen Punkten der Schmuggel von Kokain nach Europa und in die USA erschwert. Für viele Netzwerke und Banden war es auch schwieriger, Drogen an die Konsumentinnen und Konsumenten auszuliefern. Teilweise nutzten sie daher stärker den Postweg oder als »systemrelevant« getarnte Kuriere. Die verordneten Einschränkungen bei der Mobilität gingen an einigen Orten vorübergehend mit einem deutlichen Rückgang von Delikten wie bandenmäßigem Taschen- und Einbruchdiebstahl einher. Bestimmte kriminelle Einnahmequellen, wie etwa der Menschenschmuggel, versiegten hier und da fast ganz; viele Migrantinnen und Migranten saßen in der Folge entlang der Schmuggelrouten fest.
Dies waren jedoch Entwicklungen, die vor allem auf die restriktiven Maßnahmen zu Beginn der Pandemie zurückzuführen waren. Wie sich Covid-19 mittelfristig auf die organisierte Kriminalität auswirken wird, hängt unter anderem davon ab, wie sich das Infektionsgeschehen und die dagegen gerichteten Restriktionen weiter entwickeln werden. Es zeichnen sich allerdings schon jetzt massive wirtschaftliche, soziale und politische Folgen ab. Auch wenn die OK-Phänomene sich nach Region und Land deutlich unterscheiden, sind sie oft nicht nur transnational, sondern über verschiedene Kontinente hinweg miteinander verbunden. Auch illegale und legale Märkte sind auf vielfältige Weise verflochten. Damit wird die anhaltende Pandemie unweigerlich Auswirkungen auf die grenzüberschreitende OK haben, die über die erwähnten kurzfristigen Verschiebungen hinausgehen. Die vier nachfolgend beschriebenen Entwicklungen bergen besonderes Gefahrenpotential.
Neue analoge und virtuelle Profitmöglichkeiten
Kriminelle Netzwerke reagieren meist rasch auf neu entstehende Ertragschancen. Zwar ist der Handel mit minderwertigen und gefälschten Medikamenten und Medizinprodukten seit längerem ein profitables Geschäftsfeld (siehe SWP-Aktuell 30/2019) und auch die Art der Delikte und das Vorgehen dabei waren nach der Ausbreitung von Covid-19 nicht unbedingt anders; mit der Pandemie boten sich für kriminelle Akteure jedoch neue Möglichkeiten, unter anderem durch die stark anziehende Nachfrage nach bestimmten medizinischen Gütern.
Doch die Folgen von Covid-19 für das legale Wirtschaftsleben wirken sich auf illegale Geschäfte und Handelsströme noch in anderer Hinsicht aus: Kriminelle Akteure können zum Beispiel von Lieferengpässen auf legalen Märkten profitieren, die durch die zeitweilige Einschränkung der Produktion bestimmter Güter in Lockdown-Situationen eingetreten sind. Sie können vor allem durch Produktfälschungen einen Teil der Nachfrage bedienen. Das gilt nicht nur für pharmazeutische Produkte und medizinisches Material, sondern für Konsum- und Gebrauchsgüter aller Art. Dieses Geschäft könnte auch dadurch begünstigt werden, dass Verbraucher, die pandemiebedingt Einkommenseinbußen haben, zunehmend auf preisgünstigere Fälschungen und geschmuggelte Produkte, etwa Zigaretten, zurückgreifen. Dabei entstehen durchaus Gefahren für die Endabnehmer, denen die Herkunft der Waren aufgrund der Vermischung legaler und illegaler Märkte nicht unbedingt bewusst ist.
Ein zweites Feld, das nicht nur kurzfristig mehr Profite verspricht, sind kriminelle Geschäfte und Aktivitäten im virtuellen Raum. Zum einen ist davon auszugehen, dass auch bei Abflauen der Pandemie nicht nur legale, sondern auch illegale Dienstleistungen vermehrt online abgewickelt werden. Zum anderen wächst mit der verstärkten Digitalisierung ganz generell das Potential für Cyberkriminalität wie Onlinebetrug, Phishing oder Angriffe mit Schadsoftware zur Lösegelderpressung. Für kriminelle Netzwerke ergeben sich durch diese Entwicklung viele Ansatzpunkte. Wegen der niedrigeren Hürden beim Marktzugang gilt dies durchaus auch für neue Akteure, die nicht unbedingt der OK zuzuordnen sind. Anders stellt sich die Situation im internationalen Drogenhandel dar, der durch das Verbot der gehandelten Substanzen – mit wenigen lokalen bzw. nationalen Ausnahmen bei Cannabisprodukten – ohnehin praktisch vollständig im illegalen Raum stattfindet.
Verschiebungen im internationalen Drogenhandel
Die Auswirkungen der Pandemie auf den Drogenhandel sind aus zwei Gründen besonders relevant. Erstens ist das Drogengeschäft für die OK weltweit nach wie vor die lukrativste Einnahmequelle. Allein der Umsatz in Europa wird auf jährlich 30 Milliarden Euro geschätzt. Zweitens geht mit Kräfteverschiebungen an einzelnen Punkten der Lieferkette immer die Gefahr einher, dass über Jahre gewachsene Arrangements unter kriminellen Akteuren in Frage gestellt werden – mit möglichen negativen Folgen wie zunehmender Gewalt. Regelmäßig verweisen internationale Berichte, etwa von Europol, darauf, dass OK-Gruppen besonders in diesem Geschäftsfeld die Existenz globaler Handelsströme und die gestiegene Mobilität ausnutzen. Doch was, wenn diese Rahmenbedingungen ins Wanken geraten?
Gerade die Märkte für Kokain und Heroin sind anfällig für Störungen interregionaler Transportwege. Der Verkauf kann zwar am Ende der Kette über das World Wide Web bzw. das Darknet stattfinden, doch zuvor muss der Schmuggel über lange Strecken erfolgen – bei Kokain überwiegend aus der Andenregion, bei Heroin vornehmlich aus Asien, vor allem Afghanistan und Myanmar, aber auch aus Mexiko und anderen lateinamerikanischen Ländern. Von dort müssen die Substanzen zu den Hauptabsatzmärkten gelangen, vor allem nach Europa und Nordamerika. Auf die Ernte in den Drogenanbaugebieten hatte die Pandemie offenbar kaum Auswirkungen; vielfach wird erwartet, dass der Anbau mit der wirtschaftlichen Krise eher noch ausgeweitet wird. Dennoch konstatierte das UN-Büro für Drogen und Verbrechensbekämpfung (UNODC) steigende Preise in Europa und abnehmende Qualität bei Drogen wie Kokain. Ein Teil der Konsumentinnen und Konsumenten wich aufgrund von Lieferengpässen offenbar auf verschreibungspflichtige Medikamente aus. Bei Heroin schloss Europol ebenfalls aufgrund steigender Preise und sinkender Qualität auf eine geringere Verfügbarkeit. Dagegen konnte die verstärkte Nachfrage nach Cannabisprodukten während der ersten Welle von Lockdowns in Europa aufgrund der deutlich kürzeren Lieferketten leichter bedient werden.
Die Preise könnten sich bei einer wirkungsvollen Eindämmung der Pandemie in Europa und Nordamerika schnell wieder »normalisieren«. Allerdings wird der interregionale Handel von Drogen auf absehbare Zeit zumindest erschwert bleiben, unter anderem wegen des reduzierten internationalen Flugverkehrs und stärkerer Kontrollen an einigen wichtigen Grenzen. Ende Oktober 2020 waren nach Angaben der Internationalen Zivilluftfahrtorganisation noch 186 Flughäfen weltweit ganz oder teilweise geschlossen. Die etablierten kriminellen Organisationen reagieren auf die Einschränkungen beim Schmuggel durchaus kreativ. So gibt es Berichte, denen zufolge Drogen vermehrt mit Hilfe von Drohnen über die geschlossene US-mexikanische Grenze transportiert wurden. Neben dem Einsatz aufwendigerer Technologien müssen kriminelle Organisationen in Pandemiezeiten mitunter auch ein höheres Risiko eingehen, etwa beim Schmuggel von Opiaten über Land in Zentralasien. Auch deshalb bemühen sich OK-Gruppen, die im internationalen Heroinhandel aktiv sind, derzeit offenbar, für den Transport nach Europa stärker die Seewege entlang der südlichen Route über den Indischen Ozean zu nutzen. Veränderungen lassen sich auch auf den maritimen Routen des Kokainhandels nach Europa feststellen. Zahlreiche Beschlagnahmungen in europäischen Häfen im Sommer legen nahe, dass diese weiter wichtige Einfallstore sind. Doch der Umfang der Funde könnte auch darauf hinweisen, dass größere Mengen Kokain in einzelnen Lieferungen über den Seeweg transportiert werden. Vor allem behindern die neu verhängten oder verlängerten Maßnahmen gegen die Pandemie wohl die Weiterverteilung von Kokain über Land.
Dieser Trend könnte sich auch beim Konsum auf wichtigen Absatzmärkten wie Europa oder den USA niederschlagen. Bei steigenden Preisen könnten Konsumentinnen und Konsumenten etwa statt Heroin verstärkt synthetische Opiate nutzen, die näher am Absatzmarkt produziert werden können. Kokain konkurriert mit neuen psychoaktiven Substanzen und (Meth)Amphetaminen, die auch in Europa hergestellt werden. Da seit dem Herbst 2020 in Europa und anderswo wieder Ausgangssperren und Lokalschließungen verhängt werden und sich die wirtschaftliche Lage kaum erholt, wird es noch längere Zeit dauern, bis die Nachfrage beim Gelegenheitskonsum von Drogen wie Kokain wieder anzieht. Nach der Finanzkrise 2008 wechselten Nutzer beispielsweise verstärkt auf billigere synthetische oder gemischte Drogen. Die genaue Entwicklung der Nachfrage ist schwer vorherzusehen. UNODC berichtete aber im Sommer von einem plötzlichen Absturz des Opiumpreises in Myanmar und von nachlassenden Kokainpreisen, vor allem in Peru. Dies kann ein Zeichen von sinkender Nachfrage, aber auch von stockenden Abläufen in der Lieferkette sein.
Der internationale Handel mit Drogen wird weiterhin sehr profitabel bleiben. Allerdings werden coronabedingte Einschränkungen und die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie von den beteiligten kriminellen Akteuren immer wieder Anpassungen erfordern. Die Unwägbarkeiten auf dem Markt scheinen schon jetzt an einigen Stellen zu einem stärkeren Verdrängungswettbewerb geführt zu haben. In Zentralamerika und Mexiko etwa ist ein Anstieg von Gewalt zwischen kriminellen Gruppen zu beobachten, der auf den Kampf um den schrumpfenden Stammmarkt und den Zugang zu Handelsrouten zurückgeführt wird. Trotz des Lockdowns erreichte die Mordrate in Mexiko im März ein neues Rekordhoch und auch die Gewalt gegen Zivilistinnen und Zivilisten hat zugenommen. Gewaltsame Auseinandersetzungen mögen auch dadurch befeuert werden, dass manche Gruppen in den von ihnen kontrollierten Gebieten sinkende Erträge aus der Schutzgelderpressung verzeichnen. Jedenfalls versuchen einige Banden, ihre Einnahmequellen zu diversifizieren, etwa Gangs in Mittelamerika, die als Nebengeschäft in den Kokain- und Cannabishandel einsteigen. In Anbaugebieten könnten die Auswirkungen von Verschiebungen im Drogenhandel ebenfalls schwerwiegend sein. In Kolumbien konzentrierte sich mit dem Lockdown die Gewalt gegen Zivilistinnen und Zivilisten auf einige Provinzen, zum Beispiel Cauca, wo verschiedene kriminelle Organisationen um die Kontrolle von Anbaugebieten streiten. Auch auf den Friedensprozess in Afghanistan könnten sich Marktveränderungen niederschlagen, da sich die Taliban unter anderem durch die Besteuerung des Schlafmohnanbaus, die Heroinherstellung und den Transport finanzieren.
Die Effekte der Pandemie auf den Drogenhandel sind allerdings nicht auf Anbau- und Transitgebiete beschränkt. Ein Bericht zu den Auswirkungen von Covid-19 auf europäische Drogenmärkte kommt zu dem Schluss, dass die kriminellen Geschäfte entlang der Lieferkette in Europa in einem zunehmend volatilen Umfeld stattfinden und diese Instabilität bereits zu einem Mehr an Gewalt unter Lieferanten und Zwischenhändlern geführt hat. Schon vor Covid-19 gab es Anzeichen für einen zunehmenden Wettbewerb im internationalen Kokainhandel. Ausgelöst wurde er unter anderem durch neue Gruppen, die neben den dominierenden kolumbianischen und italienischen kriminellen Organisationen auf den Markt drängten. Bei längerer Dauer der Pandemie ergeben sich vermutlich Vorteile für international gut vernetzte Organisationen, insbesondere solche, die die gesamte Lieferkette von den Anbaugebieten bis zu den Absatzmärkten kontrollieren – wie die albanische Organisation Kompania Bello, gegen die im September eine europäische Strafverfolgungsoperation vorging. Andere Gruppen könnten sich bei schwindenden Einnahmen stärker auf Gewaltkriminalität verlegen. Damit hätten die pandemiebedingten Verschiebungen im internationalen Drogengeschäft auch für die innere Sicherheit in Europa Konsequenzen.
Verwundbarkeit für kriminelle Ausbeutung steigt
Knapp ein Jahr nach dem Ausbruch von Covid-19 zeigt sich bereits, dass die gesellschaftliche Resilienz gegenüber OK infolge der Gesundheitskrise eher abnimmt. Bestimmte Bevölkerungsgruppen werden verwundbarer für die Ausbeutung durch kriminelle Organisationen. Die Weltbank geht davon aus, dass durch Covid-19 circa 115 Millionen mehr Menschen in Armut leben werden. Wegen der Pandemie werden vor allem Menschen aus Ländern mit mittlerem Einkommen, die in Städten leben und einen höheren Bildungsgrad haben, in die Armut abrutschen. Sie könnten dann leichter von kriminellen Gruppen rekrutiert und Opfer von sexueller oder Arbeitsausbeutung werden.
Die Erfahrung lehrt, dass Menschenhandel nach dem Ausbruch einer Epidemie zunimmt. Die UN-Sonderberichterstatterin zu Menschenhandel konstatierte im Oktober, dass »mehr Menschen gefährdet sind […] besonders in der informellen Ökonomie«. Menschenhändler könnten die verzweifelte Lage vieler Menschen leicht ausnutzen. Viele informell Beschäftigte verlieren in der Pandemie schlichtweg ihr Einkommen. Mangels staatlicher Hilfen besteht ein erhöhtes Risiko, dass sie sich kriminellen Organisationen zuwenden. Auch Kinder sind hier stärker gefährdet. In Kolumbien etwa haben sich in der ersten Hälfte 2020 bereits so viele Kinder organisierten kriminellen Gruppen angeschlossen wie im ganzen Jahr 2019. Die mancherorts lang andauernden Schulschließungen und die längere Zeit, die Kinder zu Hause online verbringen, haben auch die Bedrohung für sexuellen Kindesmissbrauch über das Internet deutlich erhöht. Europol erwartet langfristig eine Zunahme solcher Fälle und eine steigende Nachfrage nach entsprechendem Online-Material.
Mit der Pandemie wird auch das Aufdecken von Menschenhandel schwieriger. Denn durch die Auswirkungen auf das öffentliche Leben und die Mobilität ist die Kriminalität weiter in den Untergrund gedrängt worden. Auch Hilfsangebote für Opfer sind teilweise ausgesetzt oder reduziert worden.
Zudem sind viele der weltweit Millionen von Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten während der Pandemie gestrandet. Im Libanon etwa wurden aufgrund der wirtschaftlichen Krise, die sich durch die Pandemie verschärft hat, viele Hausangestellte aus afrikanischen Ländern von ihren Arbeitgebern einfach auf die Straße gesetzt. Häufig ohne Papiere und Geld, können viele nicht nach Hause zurückkehren und nur wenige erhalten Unterstützung durch soziale Dienste oder Botschaften. In der Golfregion haben sich die gemeldeten Fälle von Arbeitsausbeutung seit Beginn der Pandemie verdreifacht. Regelmäßig wird Migrantinnen und Migranten der Lohn vorenthalten, während ihre Schulden zur Begleichung von Anwerbungsgebühren und Lebenshaltungskosten weiter steigen. In solchen Situationen ist für Arbeiterinnen und Arbeiter die Gefahr besonders groß, Opfer von (weiterer) Ausbeutung zu werden.
Grundsätzlich erhöht sich auch das Risiko, dass über Grenzen geschmuggelte Personen Opfer von Menschenhandel werden. Denn die Situation von Migrantinnen und Migranten entlang der Schmuggelrouten hat sich mit Covid-19 vielfach zugespitzt. Die Abnahme der irregulären Migration an den europäischen Grenzen um 85 Prozent von März auf April ist vor allem auf die kurzzeitige Unterbrechung der Transportwege zurückzuführen. Die Mehrheit der Migrantinnen und Migranten, die Europa von Nordafrika erreichen, nutzt die Dienste organisierter Schmuggelnetzwerke, die angesichts der veränderten Situation mehr Geld von ihnen fordern und sie häufig ausbeuten oder zur Ausbeutung weiterverkaufen.
In europäischen Staaten wird aufgrund der Rezession vor allem damit gerechnet, dass das Potential für Arbeitsausbeutung steigt – zum Beispiel in Branchen wie dem Gastgewerbe. Im Bereich der Prostitution haben viele etablierte kriminelle Gruppen während der Lockdowns schnell Wege gefunden, ihr Geschäftsmodell anzupassen. Doch für diejenigen, die in diesen Sektoren gegen ihren Willen arbeiten, werden die erschwerten Bedingungen oft noch weniger »Verdienst« unter noch gefährlicheren oder unwürdigeren Umständen bedeuten. In Italien werden Tausende von Frauen aus Nigeria, die zur Prostitution gezwungen und derzeit ohne Einnahmen sind, weiterhin von Schuldeneintreibern drangsaliert. Das wachsende Potential für verschiedene Formen der Ausbeutung durch kriminelle Gruppen erfordert also auch von der EU robustere Antworten und größere Anstrengungen bei der Prävention.
Mehr Raum für Einfluss von OK
Die Folgen der Covid-19-Pandemie könnten zudem den Einfluss krimineller Organisationen im öffentlichen Raum stärken. Erstens bieten sich der OK vermehrt Chancen zur Infiltration der legalen Wirtschaft. Die ökonomischen Folgen der Lockdowns eröffnen ihr zusätzliche Gelegenheiten, schwächelnde Unternehmen – etwa in der Transport-, Gastronomie- oder Tourismusbranche –zu unterstützen oder direkt zu übernehmen. Gerade wo staatliche Hilfsprogramme nicht greifen, wie im informellen Sektor, bringen sich OK-Gruppen gern als günstige und unbürokratische Kreditgeber ins Spiel. Dabei geht es nicht nur um Geldwäsche, sondern vor allem darum, in Teilen der Bevölkerung Abhängigkeiten und Loyalitäten zu schaffen.
Zweitens bemühen sich kriminelle Organisationen, auch selbst an finanzielle Mittel aus den Unterstützungsprogrammen zu gelangen. So hat zum Beispiel die kalabrische Mafia ’Ndrangheta versucht, über Unternehmen im Stahlsektor italienische Hilfsgelder zu erhalten. Transparency International warnt davor, dass organisierte Kriminelle staatliche und europäische Hilfen wie den EU-Recovery Fund ausnutzen werden. Die vermehrte und beschleunigte Ausschüttung von Hilfsgeldern bietet der OK vielfältige Möglichkeiten zur Veruntreuung, Bestechung oder Übernahme von öffentlichen Aufträgen, vor allem im derzeit wichtigen Gesundheitssektor. Damit können kriminelle Organisationen nicht nur ihre Profite steigern, sie greifen dabei eben auch auf öffentliche Gelder und Sektoren zu. Je nach Umfeld kann dies dazu führen, dass neue Verbindungen und Abhängigkeiten zwischen kriminellen und staatlichen Akteuren entstehen.
Drittens ist durch die Pandemie vielerorts mit einer Zunahme der Korruption zu rechnen. Kriminellen Organisationen dürfte es so noch leichter fallen, ihre illegalen Geschäfte abzusichern. In manchen Staaten werden im Schatten der Covid-19-Krise wohl auch politisch-kriminelle Arrangements gestärkt, in denen politische Entscheidungsträger zum Beispiel gegen finanzielle Unterstützung für Wahlkämpfe bestimmte kriminelle Gruppen schützen. Angesichts der schwerwiegenden wirtschaftlichen Folgen der Pandemie dürfte dies insbesondere in einigen fragilen Staaten der Fall sein.
Wie diese drei Aspekte zusammenwirken und wie sehr die OK tatsächlich ihren Einfluss auf Staat und Gesellschaft ausbauen kann, wird je nach Kontext sehr unterschiedlich sein. Ein Staat, der vor der Pandemie schon schwach war, wird vermutlich weiter an Legitimität in der Bevölkerung verlieren, wenn kriminelle Gruppen effizient staatsähnliche Funktionen übernehmen.
Kriminelle Organisationen, die bereits eine lokale Machtbasis und gewisse Ordnungsfunktionen haben, werden anders auf die Krise reagieren als lose und territorial ungebundene Netzwerke. So traten verschiedene OK-Gruppen bei der Bekämpfung der Pandemie mit eigenen Hilfs- und Sicherungsmaßnahmen in Erscheinung. Kriminelle Organisationen profilierten sich in den von ihnen kontrollierten Kommunen als »Wohltäter«, wie zum Beispiel das Sinaloa-Kartell in Mexiko, für das eine der Töchter von El Chapo, dem historischen Anführer des Kartells, Lebensmittel mit dem Bild ihres Vaters an Menschen in finanzieller Not verteilte. Auch in den Favelas von Rio de Janeiro inszenierten sich kriminelle Banden als Garanten der öffentlichen Sicherheit und Gesundheitsversorgung. Mit Textnachrichten an die Bewohnerinnen und Bewohner machten sie deutlich, dass staatliche Kräfte bei der Bekämpfung des Virus versagt hätten und die Mitglieder der Gruppen selbst Maßnahmen zum Gesundheitsschutz auch unter Anwendung von Gewalt durchsetzen würden. Aktuell mobilisieren verschiedene Mafiagruppen in Italien gegen den erneuten Lockdown und versuchen dabei, das Misstrauen gegenüber dem italienischen Staat zu schüren. Dass durch die Pandemie neue Gruppen Kontrolle aufbauen können, denen das bislang nicht gelungen war, erscheint dagegen fraglich.
Kein Paradies, aber erhöhte Risiken
Mit der Ausbreitung von Covid-19 und den dagegen gerichteten Maßnahmen haben sich die Handlungsbedingungen für die OK verändert, allerdings nicht durchweg verbessert. Kurzfristig stehen neue Profitmöglichkeiten neben logistischen Behinderungen und erhöhten Risiken an bestimmten Stellen der Schmuggelrouten. Ein »Paradies für Gangster« wird die Welt wohl nicht. Es gibt jedoch Anzeichen für Entwicklungen, die sich negativ auf die staatliche und menschliche Sicherheit auswirken können, Entwicklungen, die nicht nur vom weiteren Verlauf der Pandemie und ihrer Bekämpfung abhängen, sondern auch von den wirtschaftlichen, sozialen, und politischen Folgen der Krise. Diese werden regional und national variieren. Damit braucht es auch von deutscher und europäischer Seite verschiedene Antworten.
Bei einigen Ansatzpunkten kann Europa ganz direkt nach innen handeln, etwa bei den Faktoren, die OK begünstigen oder ermöglichen wie Korruption und Geldwäsche. Infolge der Pandemie ist auch in westlichen Staaten mit einer erhöhten Infiltration der legalen Ökonomie und dem Abzweigen von Geldern aus Notfallplänen und Finanzhilfen durch kriminelle Akteure zu rechnen. Um dem entgegenzuwirken, ist es, wie UNODC unterstreicht, nach wie vor entscheidend, dass bewährte Verfahren der »Due Diligence«, transparente Vergabeprozesse und Echtzeit-Audits angewandt werden. Die Lockdowns haben nicht grundsätzlich kriminelle Organisationen gestärkt. Für die neapolitanische Camorra etwa wurde konstatiert, dass diese unter den Bedingungen der Pandemie nicht stärker, sondern »hungriger« geworden sei. Umso mehr werden derartige Akteure jede Schwäche des Staates, der Justiz und der Zivilgesellschaft ausnutzen, um ihre eigene Position zu verbessern.
In vielen Fällen allerdings bedarf es eines Blickes über Europa hinaus, schon weil die Covid-19-Folgen praktisch alle Weltregionen betreffen und die EU auf vielfältige Weise über illegale Märkte und OK-Aktivitäten mit diesen verbunden ist. Beschlagnahmungen von großen Kokainlieferungen wie im Oktober im Hafen von Antwerpen sind ein Indiz dafür, dass die Ströme nicht unterbrochen sind. Doch die Transportmittel, Routen und der Modus Operandi verändern sich mitunter.
Umso wichtiger ist eine stete Analyse von relevanten Verschiebungen entlang der Lieferkette. Aufmerksamkeit verdient zum Beispiel auch die Frage, inwieweit sich der legale internationale Handel nach Corona durch ein möglicherweise verstärktes »De-coupling« verändert und welche Folgen das für den interregionalen illegalen Handel hätte. Genau zu beobachten bleibt darüber hinaus, ob Gewalt und Instabilität zunehmen, wenn sich Routen und die Arrangements krimineller Gruppen im Drogenhandel nachhaltiger ändern sollten. Die Effekte solcher Umbrüche könnten sich auch in Konfliktgebieten niederschlagen, die Anbau- oder Transitgebiete des Drogenhandels sind. Von Kolumbien und Haiti über Afghanistan bis nach Mali könnten Verschiebungen im illegalen Handel zu einem Faktor in fragilen Friedens- und Stabilisierungsprozessen werden, in denen auch Deutschland und die EU auf verschiedene Weise engagiert sind.
Auch über diese Aspekte hinaus wird die internationale Zusammenarbeit beim Vorgehen gegen OK wichtiger denn je. Mittelfristig wird die Haushaltslage vieler – auch westlicher – Staaten angespannt sein. So ist es zumindest unwahrscheinlich, dass die Strafverfolgungsbehörden »aufrüsten« und mit Veränderungen der OK Schritt halten werden, gerade in puncto IT-Expertise und technischer Ausrüstung. Negativ niederschlagen werden sich auch die Verminderung oder zeitweise Einstellung sozialer Dienste und die Einschränkungen, die zivilgesellschaftliche Initiativen treffen – ob direkt durch die Pandemiemaßnahmen oder mittelfristig durch sinkende Budgets. Daher wird es noch wichtiger werden, nicht nur im Bereich der Strafverfolgung durch Informationsaustausch und Amtshilfe grenzüberschreitend zu kooperieren, sondern auch auf politischer, zivilgesellschaftlicher und privatwirtschaftlicher Ebene über Länder- und Regionen hinweg gemeinsame Ansätze gegen OK zu entwickeln.
Internationale Foren sind hier nicht der vorrangige Ansatzpunkt. Zwar konnte die diesjährige Konferenz der Unterzeichnerstaaten der UN-Konvention gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität in hybridem Format stattfinden. Doch es mangelte an informellen Konsultationsmöglichkeiten und an der Beteiligung von Nichtregierungsorganisationen. Der auf März 2021 verschobene UN Crime Congress kann einen Rahmen für die Diskussion über neue Herausforderungen durch Covid-19 bieten. Doch starke Impulse sind schon aufgrund des fehlenden Konsenses bei politisch sensiblen Themen nicht zu erwarten.
Umso relevanter ist deshalb die Kooperation mit Drittstaaten und europäischen Nachbarregionen. Deutschland und die EU sind über die OK auf vielschichtige Weise mit anderen Teilen der Welt verbunden. Diese Bezüge und die Interessen betroffener Staaten müssen zum einen besser verstanden werden; zum anderen müssen die außen-, sicherheits- und entwicklungspolitischen Prioritäten mit denen der OK-Bekämpfung und ‑Prävention im Inneren möglichst ausgewogen abgestimmt werden. Das durch die Covid-19-Pandemie erhöhte Potential für kriminelle Ausbeutung etwa sollte Politik, Strafverfolgung, Justiz und die sozialen Dienste in Europa verstärkt auf den Plan rufen. Wichtig ist aber auch, dass die Behörden entlang der Schlepperrouten nach Europa trotz der Überlappungen mit der Schleusung von Migrantinnen und Migranten Fälle von Menschenhandel als solche identifizieren. Interpol stellte schon 2018 in einem Bericht zu OK in Westafrika fest, dass »Ausbeutung oft zugunsten von Fragen der illegalen Migration übersehen wird, was manchmal zu einer erneuten Viktimisierung derjenigen führt, die über die Grenzen geschmuggelt wurden«. Dieses Problem wird sich mit der Pandemie eher verstärken. Hier sollte die EU im Rahmen ihrer Zusammenarbeit mit Drittstaaten deutliche Akzente zur gezielteren Bekämpfung von Menschenhandel und Ausbeutung setzen. Auch interregionale Programme wie das jüngst von der EU aufgesetzte Projekt zur Bekämpfung organisierter Kriminalität in Westafrika (OCWAR), das je eigene Komponenten zu illegalem Handel, Cybercrime und Geldwäsche umfasst, sind ein sinnvoller Ansatz. Ein stetiger Austausch über Konzepte, Instrumente und Best Practices im Umgang mit OK über die Silostrukturen der Ressorts des Innen- und Außenhandels hinweg wäre ebenfalls ein Fortschritt. Ein solcher Austausch wird noch wichtiger werden, wenn es darum geht, die gefährlichen Auswirkungen der Pandemie auf transnationale OK genauer zu ermitteln und unter tendenziell erschwerten Bedingungen wirkungsvoll gegenzusteuern.
Maria Dellasega war von Juni bis September 2020 Praktikantin der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik.
Dr. Judith Vorrath ist Wissenschaftlerin in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik.
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ISSN 1611-6364
doi: 10.18449/2020A93