Direkte Verhandlungen über einen Waffenstillstand im Krieg Russlands gegen die Ukraine brachen bereits nach wenigen Monaten ab. Heute versuchen Moskau und Kyjiw, durch diplomatische Initiativen den internationalen Kontext des Krieges in ihrem Sinne zu beeinflussen. Die russische Kriegsdiplomatie zielt darauf ab, den »kollektiven Westen« auf globaler Ebene zu schwächen. Dies soll dazu beitragen, dass die externe Unterstützung für die Ukraine zum Erliegen kommt. Die Ukraine arbeitet darauf hin, Russland zu isolieren. Derweil setzt Russland seinen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg fort. Deutschland und seine Partner müssen die Ukraine weiter militärisch stärken, um künftige Waffenstillstandsverhandlungen überhaupt erst zu ermöglichen.
Im Herbst 2023 werden die Rufe nach Friedensverhandlungen zwischen der Ukraine und Russland wieder lauter. Wer eine solche pauschale Forderung vorbringt, verkennt allerdings die Dynamik des bisherigen Verhandlungsverlaufs ebenso wie das komplexe Geflecht diplomatischer Prozesse, das sich seit Februar 2022 im Kontext des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine entwickelt hat.
Krieg und Verhandlungen
Wie in jeder anderen militärischen Auseinandersetzung wird auch in diesem Krieg das Feld der diplomatischen Aktivitäten von der Dynamik auf dem Schlachtfeld bestimmt. Beide Parteien kämpfen darum, sich im Hinblick auf ihre Kriegsziele einen günstigen »militärischen Ausgangshorizont« für Verhandlungen zu verschaffen. Russland strebt weiter danach, den unabhängigen ukrainischen Staat durch Besatzung und Zerstörung zu vernichten. Die Ukraine will genau dies durch die Befreiung der besetzten Gebiete und die Abwehr des russischen Luftkriegs verhindern.
Der Krieg hat bislang mehrere Phasen durchlaufen, die jeweils den Rahmen für Aktivitäten auf der diplomatischen Ebene absteckten. Die erste Kriegsphase reichte vom Einmarsch der russischen Streitkräfte im Februar 2022 bis zum Ende der ersten ukrainischen Gegenoffensive im Herbst 2022. Der rasche russische Ein- und Vormarsch erweckte zunächst den Anschein einer überwältigenden Überlegenheit der angreifenden Seite. Angesichts der starken ukrainischen Gegenwehr mussten die russischen Streitkräfte im April jedoch die Belagerung Kyjiws und die Nordfront aufgeben. Moskau konzentrierte seine Truppen fortan im Osten und Süden der Ukraine. Dort konnten die ukrainischen Streitkräfte im Zuge ihrer ersten Gegenoffensive zwischen August und November 2022 bedeutende Gebiete befreien. Putin proklamierte daraufhin im September 2022 die Annexion der nur teilweise russisch besetzten ukrainischen Gebiete Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson. Er kündigte außerdem eine Teilmobilmachung an.
Diese russischen Maßnahmen beendeten eine Phase, in der es vergleichsweise intensive Kontakte zwischen den Kriegsparteien gegeben hatte. Zu Beginn der Vollinvasion verhandelte die ukrainische Seite aus einer Position der existentiellen Bedrohung heraus. Ende März bot sie im sogenannten Istanbuler Kommuniqué weitreichende unilaterale Konzessionen an. Kyjiw signalisierte seine Bereitschaft zu dauerhafter Neutralität und zu bilateralen Verhandlungen über den Status der Krim im Laufe von 15 Jahren. Der Prozess wurde vom türkischen Präsidenten Erdoğan moderiert. Er endete aus vier Gründen im Mai 2022 in einer Sackgasse: Moskau zeigte kein Interesse an den ukrainischen Vorschlägen und beharrte auf seinen maximalen Kriegszielen (1). In dem Maße, wie die ukrainische Gegenwehr Wirkung zeigte (2), fand sich eine internationale Unterstützungskoalition zusammen, die die ukrainischen Streitkräfte durch Waffenlieferungen weiter ertüchtigte (3). Die Aufdeckung horrender Kriegsverbrechen in den Gebieten, die Russland bis Anfang April besetzt hatte, ließ in der Ukraine die gesellschaftliche Unterstützung für Kompromisse mit Moskau auf den Nullpunkt sinken (4).
Im Juli 2022 vermittelten die Türkei und die Vereinten Nationen eine ukrainisch-russische Einigung über die teilweise Aufhebung der russischen Seeblockade im Schwarzen Meer. Im Rahmen der sogenannten Black Sea Grain Initiative (BSGI) konnte die Ukraine ihre Getreideexporte, wenn auch in viel geringerem Umfang als vor dem Krieg, wieder aufnehmen. Es gelang indes nicht, aus dem diplomatischen Teilerfolg eine positive Dynamik für andere Verhandlungen, beispielsweise über die Sicherheit des Kernkraftwerks Saporischschja, abzuleiten – ganz zu schweigen von einer Rückkehr zu Waffenstillstandsgesprächen. Die vertraglich festgelegten regelmäßigen Verlängerungen der BSGI gerieten vielmehr zu einem Drahtseilakt für die Vermittler, weil Moskau immer wieder drohte, seine Zustimmung zu entziehen. Russland nutzte außerdem seine Inspektionsrechte, die mit der BSGI verknüpft waren, um die ukrainischen Ausfuhren immer weiter zu verlangsamen.
Russlands proklamierte Annexion der ukrainischen Gebiete Luhansk, Donezk, Saporischschja und Cherson am 30. September 2022 markierte eine Zäsur im Hinblick auf bilaterale Friedensverhandlungen. Denn Moskau fordert seit September 2022, Kyjiw müsse die »Zugehörigkeit« nicht nur der Krim, sondern auch der anderen (teilweise) besetzten Territorien zum russischen Staatsgebiet anerkennen, bevor Friedensgespräche aufgenommen werden können. Außenminister Sergej Lawrow hat diese Position im September 2023 folgendermaßen zusammengefasst: »[…] wir sind bereit, uns zu einigen, auf der Grundlage der Realitäten vor Ort und unserer […] Interessen. Auch unsere Sicherheitsinteressen müssen berücksichtigt und die Entstehung eines Nazi-Regimes an unserer Grenze muss verhindert werden; ein Regime, das sich offen zum Ziel gesetzt hat, alles Russische auf der Krim und in Noworossija zu vernichten.« Der Versuch, durch Annexionen neue, noch weiterreichende Tatsachen in den entscheidenden Territorialfragen zu schaffen, blockiert seitdem alle Bemühungen um Frieden. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj untersagte Anfang Oktober 2022 per Dekret weitere Verhandlungen mit Wladimir Putin.
Auf die erste ukrainische Gegenoffensive und die russische Eskalation folgte von November 2022 bis Mai 2023 eine Phase des Stellungskriegs. Russland versuchte, aus der Luft die Energieinfrastruktur in der Ukraine zu zerstören und so den Widerstandswillen der ukrainischen Bevölkerung zu brechen. Die Kriegsparteien kämpften unter hohen Verlusten an Menschen und Material um einzelne Orte entlang der Frontlinie. Zum Symbol dieses Abnutzungskriegs wurde die Schlacht um Bachmut. Die Frontlinie veränderte sich kaum.
Im Juni 2023 begannen die ukrainischen Streitkräfte ihre zweite Gegenoffensive (Phase 3). Sie trafen nun auf wesentlich stärkere Verteidigungslinien, weshalb ihnen keine Gebietsgewinne gelangen, die mit denen des Vorjahrs vergleichbar gewesen wären. Neben Vorstößen auf die besetzten Gebiete im Osten und Süden greift das ukrainische Militär die Nachschublinien der russischen Besatzungstruppen auf der Krim an. Eine der Reaktionen Russlands auf die Offensive war mit hoher Wahrscheinlichkeit die Sprengung des Kachowka-Staudamms am 6. Juni 2023. Moskaus Ausstieg aus dem Getreideabkommen am 18. Juli 2023 sollte ebenfalls in diesem Kontext gesehen werden. Danach bombardierte die russische Luftwaffe gezielt ukrainische Hafenanlagen und Getreidespeicher an der Schwarzmeerküste und im Donaudelta, um ukrainische Getreideexporte weiter zu erschweren. Wie im Vorjahr reagierte Moskau auf die ukrainische Offensive nicht mit konventioneller oder gar nuklearer militärischer Eskalation. Stattdessen – und umso brutaler – zielt die russische Kriegführung darauf ab, neben der Verteidigungsfähigkeit auch die Lebensgrundlagen der ukrainischen Gesellschaft zu zerstören und so den Widerstandswillen der Menschen zu brechen. Die massenhafte Deportation von Männern, Frauen und Kindern, die Zerstörung von lebenswichtiger Infrastruktur, Folterungen, Morde, Vergewaltigungen und Unterdrückung in den besetzten Gebieten lassen ebenfalls auf genozidale Intentionen schließen. Russland will die Teile der Ukraine, die sie nicht militärisch unterwerfen kann, in einen failed state verwandeln. Das Putin-Regime hat also die Mittel seiner Kriegführung den (für die russischen Streitkräfte unerwartet ungünstigen) militärischen Bedingungen in dem Nachbarland angepasst. An seiner Absicht, die Ukraine als unabhängigen Staat zu zerstören, hält es unbeirrt fest. Die Kämpfe werden voraussichtlich im Spätherbst 2023 wieder an Dynamik verlieren. Nach Teilerfolgen der ukrainischen Truppen im September und Oktober 2023 bleibt offen, wo genau die Frontlinie dann verlaufen wird.
In der zweiten und dritten Phase des Krieges blieben direkte Kontakte zwischen den Konfliktparteien auf humanitäre Fragen und insbesondere auf Gefangenenaustausche beschränkt. Diese finden, teilweise vermittelt durch Drittstaaten, weiterhin statt. Die Verständigung hat jedoch enge Grenzen. So laufen ukrainische Forderungen nach der Rückgabe entführter Kinder fast vollständig ins Leere. Gespräche über ein Ende der militärischen Auseinandersetzung und eine Friedenslösung finden derzeit nicht statt. Die grundsätzlichen Positionen des russischen Aggressors und der angegriffenen Ukraine haben sich extrem weit voneinander entfernt. Beide Seiten konzentrieren sich nun darauf, internationale Unterstützung für sich zu mobilisieren.
Russland: Selbsterklärter »Führer der antikolonialen Bewegung«
Die russische politische Elite lebt schon lange in dem Glauben, der »kollektive Westen« führe einen Krieg gegen Russland. Die Ukraine wird, auch nach anderthalb Jahren erbitterten und erfolgreichen Widerstands, nicht als eigenständige Akteurin betrachtet. In den Augen Moskaus ist und bleibt sie Anhängsel und Marionette Washingtons. Mit dieser Sicht auf das Nachbarland verbindet sich die Erwartung, dass die USA Kyjiw in absehbarer Zeit zu einem Waffenstillstand mit Gebietsabtretungen an Russland zwingen werden. Moskau setzt hier auf den Faktor Zeit und seine Möglichkeiten, politische Krisen in den westlichen Demokratien zu verstärken. Auch das wiederholte Drohen mit einer nuklearen Eskalation ist Teil dieser Strategie. Die russische Kriegsdiplomatie zielt außerdem auf die Isolation und Schwächung des Westens im internationalen System. Sie wendet sich seit 2022 zunehmend an die Staaten des Globalen Südens und knüpft an antikoloniale, anti-interventionistische und antiwestliche Narrative in den Gesellschaften Afrikas, Lateinamerikas und Asiens an.
Das Antikolonialismus-Narrativ tauchte in der russischen Rhetorik im Sommer 2022 auf. Nach dem Abschluss der BSGI erhob Moskau den Vorwurf, die EU-Staaten behielten in »typisch kolonialer« Manier den größten Teil des ukrainischen Getreides für sich, statt ihn mit den besonders von Hunger bedrohten Staaten Afrikas zu teilen. Bei seinem Auftritt vor dem Waldai-Klub im Oktober 2022 behauptete Wladimir Putin, das westliche Globalisierungsmodell sei nichts weiter als die Fortführung des europäischen Kolonialismus. Dabei bedrohe die westliche Wertedekadenz die Grundlagen traditioneller Zivilisationen in Afrika, Asien, Lateinamerika (und eben auch Russland). Putin erklärte: »Wir hatten immer sehr gute Beziehungen mit Afrika [...]. Diese einzigartigen Beziehungen wurden in den Jahren geformt, als die Sowjetunion und Russland die afrikanischen Staaten in ihrem Freiheitskampf unterstützten«.
Außenminister Lawrow unternahm seit Sommer 2022 zahlreiche Reisen, um sich der Sympathien von Regierungen im Globalen Süden zu versichern. Internationale Gipfeltreffen wie das der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (4. Juli 2023), der Russland-Afrika-Gipfel in St. Petersburg (27. bis 28. Juli 2023) oder der Gipfel der BRICS-Staaten (22. bis 24. August 2023) beweisen aus russischer Perspektive, dass der Einfluss des Westens schwindet und Russland sich in der neu entstehenden Multipolarität auf die Unterstützung von Großmächten wie China, Indien, Brasilien und anderen verlassen kann. Im neuen Krieg zwischen Israel und der palästinensischen Terrororganisation Hamas im Oktober 2023 versucht Russland, sich als Vermittler zu positionieren – nicht ohne den Hinweis, der Krieg sei eine Folge der gescheiterten Nahostpolitik der USA.
Allerdings musste Moskau auch Rückschläge hinnehmen. So waren beim Russland-Afrika-Gipfel in St. Petersburg im Juli 2023 zwar 49 afrikanische Staaten vertreten. Es erschienen aber nur 17 Staats- und Regierungschefs, im Gegensatz zu 43 beim ersten Treffen dieser Art 2019. Der Ausstieg Russlands aus dem Schwarzmeer-Getreideabkommen nur wenige Tage vor der Zusammenkunft wirkte sich spürbar negativ auf die Gesprächsatmosphäre aus. Die Gipfelvorbereitungen waren vom diplomatischen Tauziehen um Putins Teilnahme überschattet. Am Ende konnte er selbst nicht nach Johannesburg reisen, weil sich die südafrikanische Regierung an den Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) gebunden sah.
Ukraine: Internationalisierung der Kriegsdiplomatie
Die Ukraine änderte im Herbst 2022 ihre Strategie auf dem diplomatischen Parkett. Beim G20-Gipfel in Indonesien am 15. November 2022 stellte Präsident Selenskyj seine »Friedensformel« in zehn Punkten vor. Sie ist der zweite ukrainische Vorschlag zur Beendigung des Krieges, unterscheidet sich aber grundlegend vom Istanbuler Kommuniqué vom März 2022. Letzteres ging aus direkten ukrainisch-russischen Gesprächen hervor und war als Vertragsentwurf zwischen den beiden Kriegsparteien angelegt. Die Ukraine stand damals unter großem militärischem Druck und bot weitreichende Konzessionen an.
Die Friedensformel hingegen richtet sich nicht mehr an Russland, sondern an die internationale Gemeinschaft. Sie soll die ukrainische Position erklären, diese an relevante globale Themen (Ernährungskrise, Klimawandel und Umweltzerstörung, Energiekrise) anschlussfähig machen und die internationale Solidarität mit der Ukraine stärken. Der Plan enthält keine Kompromissvorschläge, sondern Bedingungen, die aus ukrainischer Perspektive erfüllt sein müssen, bevor es zur Unterzeichnung eines Friedensvertrags kommen kann. Dazu zählen der vollständige Rückzug der russischen Streitkräfte, die Rückkehr aller Deportierten, die strafrechtliche Verfolgung der begangenen Kriegsverbrechen und Reparationen.
Die Ukraine fordert seit dem Beginn der russischen Vollinvasion internationale Sicherheitsgarantien. Das Istanbuler Kommuniqué schloss Russland noch in die Gruppe der möglichen Garantiestaaten ein. Mit dem Fortschreiten des Krieges schwand jedoch die Bereitschaft Kyjiws, diese Option weiter in Erwägung zu ziehen. Im September 2022 veröffentlichte die ukrainische Präsidialadministration ein Konzept für künftige internationale Sicherheitsgarantien für die Ukraine (Kyiv Security Compact). Das Dokument sieht eine rechtlich bindende Kombination aus bilateralen und multilateralen Verträgen vor, in die die Ukraine, eine Kerngruppe von westlichen Garantiestaaten und eine breitere internationale Unterstützergruppe eingebunden sein sollen. Russland taucht in dem Papier nur noch als Aggressor auf. Im Fokus des Plans steht keine Beistandsregelung wie im Artikel 5 des Nato-Vertrags. Stattdessen geht es um den Ausbau der ukrainischen Fähigkeiten, künftige russische Angriffe abzuschrecken und, wenn nötig, abzuwehren. Zu diesem Zweck sollen die Garantiemächte laut Kyiv Security Compact massiv in das ukrainische Verteidigungsbudget und in die Rüstungsindustrie des Landes investieren, Waffen, Luftabwehrsysteme und Hochtechnologien liefern und sich an der Ausbildung der ukrainischen Streitkräfte beteiligen.
Selenskyjs Zehnpunkteplan bildet seit dem Herbst 2022 die Grundlage für die ukrainische Diplomatie. Die Forderung nach Sicherheitsgarantien ist aus Kyjiws Perspektive eine logische Ergänzung der Friedensformel: Im Angesicht der russischen Vernichtungsintention ist ein Waffenstillstands- oder gar Friedensvertrag auch nach der Befreiung der besetzten Territorien nur denkbar, wenn die Sicherheit der Ukraine durch starke internationale Garantien gewährleistet ist.
Auch Kyjiw legt bei seinem Werben für die beiden Initiativen einen Schwerpunkt auf den Globalen Süden und hier insbesondere auf die Länder Afrikas. Außenminister Kuleba besuchte den Kontinent bereits dreimal seit dem Beginn der russischen Vollinvasion. Die Ukraine plant die Eröffnung neuer Botschaften in afrikanischen Hauptstädten. Im Herbst 2022 rief sie das humanitäre Programm »Grain from Ukraine« ins Leben, in dessen Rahmen ukrainisches Getreide an Länder geliefert wird, deren Bevölkerung in besonders starkem Maße von Unterernährung bedroht ist. Laut ukrainischem Außenministerium haben bis Juni 2023 170.000 Tonnen ukrainischen Getreides Somalia, Äthiopien, Kenia und Jemen erreicht. Auch dieses Programm versucht Russland durch die Aufkündigung der BSGI zu sabotieren. Putin kündigte beim Russland-Afrika-Gipfel im Juli 2023 an, sein Land werde seinerseits kostenfrei Getreide an afrikanische Staaten liefern.
Kyjiw wird in seinen diplomatischen Bemühungen von Deutschland und anderen westlichen Partnern unterstützt. Am 23. Juni 2023 kamen in Kopenhagen die Sicherheitsberaterinnen und ‑berater der Führungsspitzen Brasiliens, Dänemarks, Deutschlands, der EU, Frankreichs, Großbritanniens, Indiens, Italiens, Japans, Kanadas, Saudi-Arabiens, Südafrikas, der Türkei und der Vereinigten Staaten zusammen, um Selenskyjs Friedensformel zu diskutieren. Die dänische Regierung hatte sich bereiterklärt, gemeinsam mit der Ukraine (vertreten durch Selenskyjs Sicherheitsberater Andrij Jermak) als Gastgeberin zu fungieren. Ziel Kyjiws war es, den von Selenskyj im Zusammenhang mit der Friedensformel angekündigten internationalen Friedensgipfel auf den Weg zu bringen und möglichst viele Staaten in dieses Format einzubinden. Zum nächsten Treffen dieser Art lud die saudi-arabische Führung gemeinsam mit der Ukraine am 5. und 6. August 2023 nach Dschidda ein. Diesmal waren über vierzig Staaten vertreten, darunter erstmals auch China. Die Teilnehmenden einigten sich darauf, die Beratungen in Arbeitsgruppen zu den einzelnen Punkten der ukrainischen »Friedensformel« fortzuführen. Die dritte internationale Zusammenkunft zur Friedensformel soll am 28. und 29. Oktober in Malta stattfinden. Die ukrainische Führung treibt die Friedensformel auch mit den diplomatischen Vertretungen in Kyjiw voran. Laut dem Büro des ukrainischen Präsidenten nahmen zuletzt über siebzig Botschafterinnen und Botschafter an diesem Prozess teil.
Im Vorfeld des Nato-Gipfels in Vilnius am 11. und 12. Juli 2023 warb Kyjiw in den Hauptstädten des Bündnisses intensiv für seine Beitrittsambitionen und für Sicherheitsgarantien. Die Gipfelerklärung enthielt erneut die grundsätzliche Zusage, die Ukraine aufzunehmen; konkrete Aussagen über den Zeitpunkt eines Beitritts oder über längerfristige Sicherheitsgarantien fanden sich allerdings nicht darin. Die G7-Staaten kündigten in Vilnius an, mit Kyjiw bilaterale und multilaterale »security commitments« formal fixieren zu wollen. Washington und Kyjiw nahmen Anfang September 2023 als Erste Gespräche dazu auf.
Internationale Vermittlungsinitiativen
Die lange Dauer und die globalen Auswirkungen des Krieges haben unterschiedliche Akteure mit Friedensinitiativen auf den Plan gerufen. Bislang blieben alle erfolglos.
Türkei: In der ersten Phase des Krieges etablierte sich der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan als einflussreichster Mediator. Erdoğan war 2022 der einzige Staatschef, der einen stabilen Zugang zu den politischen Führungen beider Konfliktparteien, vor allem aber zu Wladimir Putin hatte, um einen Gesprächsprozess zu lancieren. Diese Position begründete seine Rolle bei den Verhandlungen über einen Waffenstillstand zwischen Februar und Mai 2022 und, mit Unterstützung der VN, über die BSGI im Juni/Juli 2022. Gleichwohl zeigt das Scheitern sowohl der Friedensverhandlungen als auch des Getreideabkommens, wie begrenzt Erdoğans Möglichkeiten waren. Die proklamierten Annexionen im September 2022 verengten den Spielraum des türkischen Staatschefs weiter. Trotzdem konnte er Wladimir Putin Ende Oktober 2022 noch davon abbringen, das Getreideabkommen aufzukündigen.
Im Sommer 2023 war der türkische Präsident dazu nicht mehr in der Lage. Für die Türkei hatte sich die Situation seit Jahresbeginn dramatisch verändert. Das katastrophale Erdbeben im Februar 2023 stellt das Land vor immense humanitäre und wirtschaftliche Herausforderungen. Erdoğan sucht deshalb seit den Präsidentschaftswahlen im Mai 2023 wieder verstärkt Anschluss an den Westen. In der Hoffnung auf westliche Finanzhilfen und Investitionen nahm er im Juli 2023 sein Veto gegen den Nato-Beitritt Schwedens zurück. Er ließ Offiziere des ukrainischen Asow-Regiments, die sich nach einem russisch-ukrainischen Gefangenenaustausch in der Türkei aufgehalten hatten, in die Heimat ausreisen und sprach sich gar für einen Nato-Beitritt der Ukraine aus. Diese Schritte stießen in Moskau auf Verärgerung. Ein Treffen der beiden Präsidenten in Sotschi am 4. September 2023 brachte keine Reaktivierung des Getreideabkommens. Möglicherweise insistierte der türkische Präsident in dieser Frage auch deshalb nicht, weil Aserbaidschans Militäreinsatz zur Rückeroberung Berg-Karabachs bevorstand. Ankara und Baku setzten hier auf russische Zurückhaltung – vor allem auch im Hinblick auf die Vertreibung der armenischen Bevölkerung aus der Exklave.
China legte am 24. Februar ein »Positionspapier« vor, dessen 12 Punkte jedoch vage blieben. Der Text enthält zwar ein Bekenntnis zum Prinzip der territorialen Integrität und zur Ablehnung der Drohung mit dem Einsatz von Nuklearwaffen. Das chinesische Dokument ist aber der russischen Position sehr viel näher als der ukrainischen.
Ende April 2023 ernannte die chinesische Regierung den Diplomaten Li Hui zum Sonderbeauftragten für die Beilegung des Krieges. Li besuchte seitdem Moskau, Kyjiw und verschiedene europäische Hauptstädte. Seine Anwesenheit bei dem internationalen Treffen in Dschidda im August 2023 wurde von der Ukraine und ihren Unterstützern als Erfolg gewertet. Doch China tariert seine Politik weiter sehr sorgfältig aus. Die diplomatischen und sicherheitspolitischen Beziehungen zwischen Peking und Moskau sind seit Februar 2022 äußerst eng. Die Teilnahme von Li Hui am Dschidda-Treffen war umrahmt von anderen hochrangigen Regierungskontakten, um in Moskau keinesfalls den Eindruck eines Kurswechsels aufkommen zu lassen.
Afrikanische Friedensinitiative: Mitte Juni 2023 reiste eine Delegation aus Regierungschefs und anderweitigen Repräsentanten von sieben afrikanischen Staaten (Ägypten, Komoren, Republik Kongo, Sambia, Senegal, Südafrika und Uganda), angeführt vom südafrikanischen Präsidenten Cyril Ramaphosa, nach Kyjiw und Moskau. Ramaphosa stellte in Kyjiw einen Zehnpunkteplan vor, dem jedoch beide Kriegsparteien mit Zurückhaltung begegneten. Der afrikanischen Initiative folgten zunächst keine weiteren Schritte. Südafrika und andere afrikanische Staaten beteiligen sich am Prozess zur ukrainischen Friedensformel.
Brasilien: Weitere Vorstöße gingen in den vergangenen Monaten von Brasiliens Präsident Lula da Silva und von der indonesischen Regierung aus. Sie blieben ohne konkrete Folgeaktivitäten. Lula kündigte beim Treffen der BRICS in Johannesburg an, er werde 2024 zum BRICS-Gipfel nach Russland reisen und hoffe, Putin danach in Brasilien begrüßen zu können. Der Internationale Strafgerichtshof, dessen Statut Brasilien unterzeichnet hat, wäre in diesem Fall hochgradig kompromittiert.
Vatikan: Papst Franziskus ernannte im Mai 2023 den italienischen Kardinal Matteo Zuppi zum Sondergesandten für den Krieg in der Ukraine. Die angespannten Beziehungen zur Russisch-Orthodoxen Kirche lassen jedoch daran zweifeln, dass der Vatikan auf Moskau irgendwelchen Einfluss ausüben kann. Ob Zuppi sich mit Putins »Kinderrechtsbeauftragter« Maria Lwowa-Belowa die richtige Partnerin für Gespräche über humanitäre Probleme ausgesucht hat, ist ebenfalls fraglich. Denn auch gegen Lwowa-Belowa läuft wegen der massenhaften Deportation von ukrainischen Kindern ein Haftbefehl des IStGH. Russlandfreundliche Äußerungen des Papstes haben dem Ansehen des Vatikans in der Ukraine zuletzt schwer geschadet.
Saudi-Arabien: Saudi-Arabien ist der vorerst letzte Spieler, der das Feld der internationalen Vermittler betreten hat. Riad moderierte 2022 bereits einen Gefangenenaustausch zwischen Russland und der Ukraine. Die Ausrichtung des Dschidda-Treffens zur ukrainischen Friedensformel fügt sich in die außenpolitischen Ambitionen der saudischen Führung ein. Riad strebt nach einer Rolle als geopolitischer Mediator in der Region und darüber hinaus. Wie andere internationale Anlässe instrumentalisiert es den russischen Krieg gegen die Ukraine, um seinen Ruf als menschenrechtsverletzendes Gewaltregime hinter sich zu lassen. Der Krieg gefährdet außerdem die Stabilität auf den Ölmärkten und damit wichtige saudische Wirtschaftsinteressen. Bei der Vorbereitung des Treffens in Dschidda konnte sich Saudi-Arabien auf seine guten Kontakte zu beiden Konfliktparteien, zu China sowie zu anderen wichtigen Stakeholdern im Globalen Süden stützen.
Fazit
Russland führt seinen auf Vernichtung der Ukraine zielenden Krieg weiter. Das Putin-Regime zeigt keine Bereitschaft zu Kompromissen, obwohl es weit davon entfernt ist, seine Ziele zu erreichen. Moskau spielt auf Zeit: Die politische Führung glaubt weiterhin, die Ukraine militärisch erschöpfen und die internationale Unterstützung für Kyjiw zersetzen zu können.
Ziel dieser Strategie scheint es zu sein, den Krieg ungefähr entlang der jetzigen Frontlinie einzufrieren. Die Ukraine, so das wahrscheinliche russische Kalkül, würde in diesem Fall politisch und militärisch entscheidend geschwächt. Russland hingegen könnte die Pause nutzen, um sich neu aufzustellen und seine Destabilisierungspolitik gegenüber dem Nachbarland weiterzuführen – perspektivisch gegebenenfalls auch in Form eines neuen Kriegs.
Die Ukraine hat nach dem endgültigen Ende jeder Aussicht auf bilaterale Waffenstillstandsgespräche im Frühherbst 2022 eine neue diplomatische Strategie entwickelt. Der politischen Führung um Präsident Selenskyj ist es gelungen, über die Friedensformel mit einer wachsenden Anzahl von Staaten in Kontakt zu treten und dadurch Einfluss auf die internationale Debatte zu gewinnen. Dem stehen die russischen Bemühungen auf dem internationalen Parkett gegenüber. Es ist offen, wer diesen »Kampf der Narrative« am Ende gewinnt. Das Ziel der Ukraine und ihrer westlichen Unterstützer, Russland international möglichst weitgehend zu isolieren, ist wichtig. Den Krieg entscheiden werden jedoch andere Faktoren.
Denn ob Waffenstillstandsverhandlungen wahrscheinlich oder möglich werden, bleibt ausschließlich vom Verlauf des Krieges abhängig. Die Ukraine muss in die Lage versetzt werden, einen für sich günstigen militärischen Ausgangshorizont für Verhandlungen herzustellen – mit anderen Worten, der russischen Seite so erhebliche Niederlagen auf dem Kriegsschauplatz zuzufügen, dass sich das Kosten-Nutzen-Kalkül des Putin-Regimes (oder von signifikanten Teilen der russischen Elite) ändert. Erst dann werden auch internationale Vermittlungsbemühungen greifen können. Wenn Deutschland und andere internationale Partner diesen Verlauf sicherstellen wollen, müssen sie ihre militärische Unterstützung entschlossen fortsetzen und ausbauen.
Zu einem günstigen Ausgangshorizont für künftige Verhandlungen gehört außerdem die Gewährleistung der ukrainischen Sicherheit über den aktuellen heißen Krieg hinaus. Westliche Regierungen, einschließlich der Biden-Administration in den USA, aber auch der deutschen Bundesregierung, tun sich schwer mit Kyjiws Vorstellungen von Sicherheitsgarantien und einem konkreten Zeithorizont für den Beitritt der Ukraine zur Nato. Beides sollte – auch in den öffentlichen Debatten – viel stärker mit einer künftigen Verhandlungslösung in Verbindung gebracht werden. Das Putin-Regime hat seit 2014 alle internationalen Verträge und Vereinbarungen mit der Ukraine gebrochen und führt seit zwanzig Monaten einen Krieg mit genozidaler Intention gegen das Nachbarland. Vertrauen in Vereinbarungen mit Moskau ist für die Menschen in der Ukraine ausgeschlossen. Ohne verlässliche Garantien für die ukrainische Sicherheit, die auch das russische Kalkül beeinflussen, wird es keine Verhandlungen und keine Einigung geben können.
Deutschland und andere Partner sollten die Ukraine weiter bei ihren Bemühungen unterstützen, Russland international zu isolieren. Sie müssen mit Beharrlichkeit der russischen Politik und antiwestlichen, vermeintlich antikolonialen Narrativen im Globalen Süden entgegentreten. Das Thema Lebensmittelknappheit ist hier von besonderer Bedeutung. Die Ukraine sollte darin unterstützt werden, die Getreideexporte über das Schwarze Meer auch nach dem Ende der BSGI fortzuführen. Das gilt auch für das »Grain from Ukraine«-Programm, zu dem die westlichen Staaten einen eigenen Beitrag leisten könnten. Formate wie der diplomatische Prozess zur ukrainischen Friedensformel können außerdem genutzt werden, um mit möglichst vielen internationalen Akteuren über die Ursachen des Krieges und Wege zu seiner Beendigung sowie über Sinn und Zweck der westlichen Sanktionen ins Gespräch zu kommen.
Die Ukraine nähert sich dem zweiten Kriegswinter. Das erneute Aufflammen des Konflikts im Nahen Osten lenkt derzeit politische Aufmerksamkeit ab und könnte im Falle einer weiteren Eskalation zu einer Verknappung militärischer Ressourcen auf Seiten des Westens führen. Die Grundkonstanten des russischen Krieges gegen die Ukraine haben sich indes nicht geändert: Für aussichtsreiche Verhandlungen muss die Ukraine militärisch wesentlich gestärkt und Russland wesentlich geschwächt werden.
Dr. Sabine Fischer ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien.
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