Am 27. November 2019 erklärte der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan, die Türkei habe einen Vertrag über militärischen Beistand und Zusammenarbeit mit der Regierung von Fayez al-Sarraj in Libyen geschlossen, der die Entsendung türkischer Truppen in das Bürgerkriegsland ermögliche. Diese Mitteilung stieß in Westeuropa auf nahezu einhellige Kritik. Die Entrüstung wuchs noch, als bekannt wurde, dass die Türkei von ihr kontrollierte und finanzierte islamistische syrische Kämpfer nach Libyen schleust. Meldungen über einen dominanten Einfluss der Muslimbruderschaft auf die libysche Regierung schienen das Bild einer stark islamistisch motivierten türkischen Politik zu vervollständigen.
Doch das Engagement der Türkei in Libyen ist nicht von Ideologie, sondern von strategischen Überlegungen und von ökonomischen Interessen getrieben. Ankara reagiert damit auf seine Isolation im östlichen Mittelmeer, wo sich der Streit um die Aufteilung der Gasressourcen zuspitzt. Gleichzeitig zieht die Türkei Lehren aus dem Krieg in Syrien, der für sie verloren ist, ihr jedoch eine zwar konflikthafte, aber tragfähige Arbeitsbeziehung mit Russland eingebracht hat. Unter dem Strich manifestiert sich im Libyen-Engagement eine Verlagerung des Schwerpunkts türkischer Außenpolitik vom Nahen Osten in das Mittelmeer, ein Schwenk, der Europa und die Nato vor ganz neue Herausforderungen stellen wird.
Am 15. Januar 2020 meldete der Guardian, die Türkei habe bisher 650 Kämpfer nach Libyen verbracht, die der sogenannten Nationalen Syrischen Armee angehören, einem von der Türkei geschaffenen Zusammenschluss bewaffneter Oppositionsgruppen. Weitere 1350 seien ebenfalls aus Syrien abgezogen worden und würden in der Türkei auf den Einsatz in Libyen vorbereitet. Obwohl in Syrien immer noch gekämpft wird und weiterhin türkische Truppen im Land stehen, zieht die Türkei Kämpfer ab. Denn der Krieg in Syrien ist entschieden.
In Syrien ist wenig zu gewinnen
Die in Ankara regierende Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP) hat ihre Hoffnungen begraben, in Syrien die ihr nahestehenden Muslimbrüder an die Macht zu bringen und das Land als Tor für türkische Machtprojektion im Nahen Osten nutzen zu können. In Syrien bleibt Ankara die selbstgesetzte Aufgabe, zu verhindern, dass syrische Kurden jene Selbstverwaltungsstrukturen wiedererrichten, die türkische Truppen bei Invasionen 2018 und 2019 in Nordwest- und Nordost-Syrien zerstört haben. Schon zu Beginn des Astana-Prozesses – die von Russland, dem Iran und der Türkei im Dezember 2016 ins Leben gerufene Serie von Konferenzen zur Beendigung des Krieges in Syrien – hat Ankara offiziell davon Abstand genommen, Baschar al‑Assad zu stürzen. Am 21. Dezember 2016 verpflichtete es sich in Moskau, die syrische Regierung und die Opposition dabei zu unterstützen, zu einer Einigung zu gelangen.
Zwar zeigt sich Erdoğan seinen Wählern nach wie vor als unbeugsam gegenüber Baschar al‑Assad, doch am 13. Januar 2020 bestätigte die Türkei ein Treffen der Geheimdienstchefs Syriens und Türkei in Moskau. Ankara warb dabei für eine gemeinsame Strategie im Kampf gegen kurdische Autonomiebestrebungen. Zuvor hatte die türkische Seite bereits mehrmals beteuert, dass die Präsenz ihrer Truppen in Syrien nur eine vorübergehende sein wird.
Lehren aus dem Syrienkrieg
Die AKP hat aus Ergebnis und Verlauf des Kriegs in Syrien mehrere schmerzhafte Lehren ziehen müssen. Erstens hat der arabische Umbruch nirgendwo zur Herrschaft von Parteien geführt, die der AKP nahestehen. Im Gegenteil, in Kairo und Damaskus sind erneut bzw. nach wie vor säkularistische Regime an der Macht, die Ankara wegen seiner Unterstützung der Muslimbrüder nicht über den Weg trauen. Das gilt auch für Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate, die die Muslimbrüder zur Terrororganisation erklärt haben. Damit ist der Traum ausgeträumt, dass sich die Türkei zur Führungsmacht gleichgesinnter arabischer Staaten aufschwingen könnte. Zweitens sind die Kurden Syriens, bedingt durch den Verfall syrischer Staatlichkeit, zu politischen und militärischen Akteuren geworden. Dies hat die tief verwurzelte türkische Angst vor kurdischem Separatismus wiederbelebt und Ankara erneut zum Verteidiger des Status quo im Nahen Osten werden lassen. Dadurch wiederum wird der Schulterschluss der AKP mit den alten Eliten der Sicherheitsbürokratie möglich, die seit jeher in der Politik gegenüber Griechenland und Zypern eine harte Linie vertreten. Drittens konnten sich die Kurden Syriens nur dank ihres Bündnisses mit den USA zu einem Machtfaktor entwickeln, so dass Washington in der Rhetorik der Regierung und in den Augen der Bevölkerung zur primären Bedrohung für den Fortbestand des türkischen Staates geworden ist. So fließt Wasser auf die Mühlen sogenannter eurasischer Zirkel, die generell eine Abkehr der Türkei vom Westen fordern. Viertens verdankt es Ankara primär seiner Zusammenarbeit mit Moskau, dass es trotz aller Rückschläge in Syrien dort immer noch Raum für politische Manöver hat. Denn ohne Billigung des Kremls hätte Ankara weder 2018 in Afrin im Nordwesten Syriens noch 2019 im Nordosten des Landes einmarschieren können. Mehr noch: Hätte es die türkische Annäherung an Moskau nicht gegeben und die damit einhergehende Sorge der USA und ihrer Nato-Partner, die Türkei zu verlieren, wäre es Ankara im Oktober 2019 wohl nicht gelungen, Washington zu bewegen, seine Zusammenarbeit mit den Kurden stark einzuschränken und den Abzug aus Syrien einzuleiten. Über den Krieg in Syrien hat sich, fünftens, ein mittlerweile gut eingespielter Mechanismus türkisch-russischer Kooperation entwickelt, der nun auch in Libyen zu funktionieren scheint.
Ankara hat diese Kooperation 2016 gesucht, obwohl es primär das Eingreifen Russlands war, das den von der Türkei angestrebten Sturz des Assad-Regimes verhindert hat. Die Türkei hält die Zusammenarbeit mit Russland aufrecht, obwohl Moskau weder die PKK noch ihren syrischen Ableger PYD zur Terrororganisation erklärt hat und obwohl der Kreml Assad drängt, kurdische Anliegen zu berücksichtigen. Und Ankara wird auch weiterhin mit Moskau zusammen agieren, obwohl Damaskus Waffenstillstandsvereinbarungen regelmäßig bricht und erst im Januar russisches Bombardement in Idlib die von der Türkei gefürchtete Massenflucht an die türkische Grenze ausgelöst hat. Trotz alledem hält Ankara an dem Bündnis mit Russland fest. Denn nur dieses Bündnis stärkt seine Stellung den USA und Europa gegenüber. Dasselbe gilt – jenseits aller bilateralen Interessenkonflikte – im Gegenzug für Moskau.
Es war Moskaus kontrolliert-konflikthafte Kooperation mit Ankara, die dem Astana-Prozess – durch Einbeziehung der Türkei als Vertreterin der syrischen Opposition – Legitimität verschaffte und Russland zu bestimmenden Macht im Friedensprozess werden ließ. Und es ist Moskaus kontrolliert-konflikthafte Zusammenarbeit mit Ankara in Libyen – konkretisiert in der gemeinsam vorgetragenen Forderung nach einem Waffenstillstand –, die Ankara und Moskau zu legitimen Playern im Friedensprozess gemacht hat, während sie zuvor Akteure waren, die ein von den Vereinten Nationen verhängtes Waffenembargo umgehen. Beide Staaten gewinnen bei dem Spiel auf Kosten westlicher Akteure. Primär gegen westliche Akteure – diesmal EU-Mitgliedstaaten – richtet sich auch die Politik Ankaras im östlichen Mittelmeer.
Ankaras Isolation im östlichen Mittelmeer
Am 11. November 2019 beschloss der Europäische Rat eine Palette möglicher Sanktionen gegen natürliche und juristische türkische Personen, die sich an »illegalen Probebohrungen« beteiligen, unternommen von türkischen Forschungsschiffen in der international anerkannten Exklusiven Wirtschaftszone (EWZ) der Republik Zypern. Dass Brüssel diese Sanktionen nun tatsächlich implementieren kann, hat die türkische Regierung bislang ebenso wenig beeindruckt wie die bereits im Juli 2019 erlassenen Strafmaßnahmen der EU. Im Rahmen dieser Maßnahmen wurden Vorbeitrittshilfen zusätzlich gekürzt, die Verhandlungen über ein Luftfahrtabkommen suspendiert, feste bilaterale Foren ausgesetzt und die Kreditvergabe durch die Europäische Entwicklungsbank eingeschränkt.
Bei ihren Aktionen im östlichen Mittelmeer verlässt sich die Türkei auf ihre Marine, die in den letzten Jahren hochgerüstet wurde. Ihre Schiffe eskortieren nicht nur die türkischen Bohrschiffe in zyprischen Gewässern, sondern gehen auch gegen Forschungsschiffe anderer Nationen vor. So drängte ein türkischer Marineverband im Februar 2018 eine Forschungsplattform der italienischen Energiefirma ENI aus Gewässern der EWZ Zyperns, in der ersten Dezemberwoche 2019 geschah dasselbe mit dem israelischen Forschungsschiff Bat Galim, das in Absprache mit der zypriotischen Regierung in der EWZ Zyperns unterwegs war.
Der Türkei bleibt nur das militärische Muskelspiel. Ansonsten ist sie im östlichen Mittelmeer weitgehend isoliert. Griechenland, die Republik Zypern, Israel und Ägypten haben ihre jeweiligen EWZs in gegenseitigem Einvernehmen und auf Grundlage des Internationalen Seerechts voneinander abgegrenzt. Die Türkei dagegen liegt mit all diesen Staaten über Kreuz und nur in einem von ihnen, in Griechenland, gibt es einen türkischen Botschafter. Weil es dem Seerechtsabkommen (UNCLOS) nicht beigetreten ist, will Ankara all die Verträge nicht gelten lassen, die diese Staaten miteinander auf dessen Grundlage geschlossen haben. Deshalb ist es mehr als verständlich, dass Griechenland, die Republik Zypern, Israel und Ägypten eine diplomatische Front gegen die Türkei errichtet haben. Sie bauten in den letzten Jahren ihre militärische Zusammenarbeit aus und gründeten im Januar 2019 in Kairo zusammen mit Jordanien, der Palästinensischen Autonomiebehörde und Italien das Eastern Mediterranean Gas Forum (EMGF), das Forschung, Förderung und Vermarktung der Gasvorkommen koordinieren soll. Die EU droht den Türken mit Sanktionen. Die USA wiederum begrüßen die Zusammenarbeit Israels und Griechenlands und verstärken ihre militärische Präsenz in der Region.
Das Engagement der Türkei in Libyen und Folgen für Europa
Vor diesem Hintergrund schloss die Türkei am 27. November 2019 mit der libyschen Regierung ein Abkommen zur gegenseitigen Abgrenzung ihrer Festlandsockel im Mittelmeer und einen Vertrag über militärische Zusammenarbeit. Die Türkei hatte sich bereits im November 2010 – noch zu Zeiten Muammar al‑Gaddafis – darum bemüht, mit Libyen eine Vereinbarung über die Begrenzung der Festlandsockel zu erzielen. Die prekäre Lage der libyschen Regierung nutzend, versuchte Ankara dies spätestens seit 2018 erneut. Doch Tripolis ließ sich erst im November 2019 und nur unter der Bedingung darauf ein, gleichzeitig ein militärisches Beistandsabkommen abzuschließen.
Obwohl der libysch-türkische Vertrag zur Abgrenzung der Festlandsockel nur eine relative kurze Grenzlinie südöstlich von Kreta definiert, birgt er gewaltige diplomatische Sprengkraft. Denn erstmals ist es der Türkei gelungen, mit einem anderen Anrainerstaat einvernehmlich eine Grenze im östlichen Mittelmeer festzulegen, was zweifellos die Legitimität der türkischen Position erhöht und das Potential hat, die Positionen Zyperns, Griechenlands und Israels zu schwächen. Mehr noch: Der Vertrag orientiert sich an der bislang nur von der Türkei vertretenen These, dass Inseln keinen eigenen Festlandsockel hätten und deshalb auch keine eigenen EWZs etablieren könnten. Damit wird nicht nur die EWZ der Republik Zypern in Frage gestellt, sondern auch der von allen anderen Anrainerstaaten anerkannte Status der griechischen Inseln, insbesondere Kretas. Nach türkischer Lesart ist Ankara nun berechtigt, in der griechischen EWZ östlich von Kreta aktiv zu werden. Schon heißt es in der Türkei, die von Griechenland, der Republik Zypern und Israel projektierte EastMed-Pipeline, die südöstlich von Kreta verlaufen soll, werde sich nur mit Ankaras Einverständnis verwirklichen lassen. Ankara wird alles daransetzen, die restlichen Anrainerstaaten des östlichen Mittelmeers auf diese Lesart einzustimmen. Dabei wird es darauf verweisen, dass neben Libyen und der Türkei auch Israel, Ägypten, der Libanon und Syrien größere EWZs ausweisen könnten, sollten sie sich der türkischen Position anschließen und Inseln die Fähigkeit absprechen, EWZs zu konstituieren. Der Abschluss der beiden Verträge und die Entsendung türkischer Soldaten und syrischer Kämpfer nach Libyen haben sowohl dort als auch im östlichen Mittelmeer die Spannungen erhöht. In Libyen intensivierten sich die Kämpfe. Im östlichen Mittelmeer hatten Frankreich und Ägypten bereits vorher gemeinsame Manöver abgehalten. Nach der Vertragsunterzeichnung kam es zu gemeinsamen Seemanövern Frankreichs, Italiens und Zyperns, Russlands und Syriens sowie zu einer maritimen Waffenschau Ägyptens.
Die Türkei ist entschlossen, ihre Positionen durchzusetzen, daran ist nicht zu zweifeln. Ankara rüstet seine Marine auf. Allein in den nächsten drei Jahren wird es zwanzig weitere Schiffe in Betrieb nehmen. Anders als im Falle Syriens findet die AKP für die Politik, die sie im Mittelmeer verfolgt, in der Militär- und Sicherheitsbürokratie große Unterstützung. Die Europäische Union und die Nato müssen sich darauf einstellen, dass die russisch-türkische Kooperation vertieft und verstetigt und außerdem ins östliche Mittelmeer ausgeweitet wird. Die Stoßrichtung der künftigen türkischen Außenpolitik dürfte primär auf zwei EU-Mitglieder abzielen: Griechenland und die Republik Zypern. Mehr als je zuvor ist die EU gefordert, eine kohärente Türkeipolitik zu entwickeln. Brüssel muss Ankara die Schmerzgrenzen der Europäer deutlich aufzeigen. Es sollte der Türkei aber auch Angebote für eine Zusammenarbeit machen, etwa die Modernisierung der Zollunion mit der EU und/oder eine Vermittlung im Streit um das Gas im Mittelmeer. Sollte Ankara die Angebote ablehnen, erhöht das für die Türkei die Kosten konfrontativer Politik.
Dr. Günter Seufert ist Leiter des Centrums für angewandte Türkeistudien (CATS).
Das Centrum für angewandte Türkeistudien (CATS) wird gefördert durch die Stiftung Mercator und das Auswärtige Amt.
© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2020
Alle Rechte vorbehalten
Das Aktuell gibt die Auffassung des Autors wieder.
SWP-Aktuells werden intern einem Begutachtungsverfahren, einem Faktencheck und einem Lektorat unterzogen. Weitere Informationen zur Qualitätssicherung der SWP finden Sie auf der SWP-Website unter https://www. swp-berlin.org/ueber-uns/ qualitaetssicherung/
SWP
Stiftung Wissenschaft und Politik
Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit
Ludwigkirchplatz 3–4
10719 Berlin
Telefon +49 30 880 07-0
Fax +49 30 880 07-100
www.swp-berlin.org
swp@swp-berlin.org
ISSN 1611-6364
doi: 10.18449/2020A06