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Die Türkei verlagert den Schwerpunkt ihrer Außenpolitik

Von Syrien ins östliche Mittelmeer und nach Libyen

SWP-Aktuell 2020/A 06, 04.02.2020, 4 Seiten

doi:10.18449/2020A06

Forschungsgebiete

Am 27. November 2019 erklärte der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan, die Türkei habe einen Vertrag über militärischen Beistand und Zusammenarbeit mit der Regierung von Fayez al-Sarraj in Libyen geschlossen, der die Entsendung türkischer Truppen in das Bürgerkriegsland ermögliche. Diese Mitteilung stieß in West­europa auf nahezu einhellige Kritik. Die Entrüstung wuchs noch, als bekannt wurde, dass die Türkei von ihr kontrollierte und finanzierte islamistische syrische Kämpfer nach Libyen schleust. Meldungen über einen dominanten Einfluss der Muslimbruderschaft auf die libysche Regierung schienen das Bild einer stark islamistisch motivierten türkischen Politik zu vervollständigen.

Doch das Engagement der Türkei in Libyen ist nicht von Ideologie, sondern von strategischen Überlegungen und von ökonomischen Interessen getrieben. Ankara reagiert damit auf seine Isolation im östlichen Mittelmeer, wo sich der Streit um die Aufteilung der Gasressourcen zuspitzt. Gleichzeitig zieht die Türkei Lehren aus dem Krieg in Syrien, der für sie verloren ist, ihr jedoch eine zwar konflikthafte, aber trag­fähige Arbeitsbeziehung mit Russland eingebracht hat. Unter dem Strich manifestiert sich im Libyen-Engagement eine Verlagerung des Schwerpunkts türkischer Außen­politik vom Nahen Osten in das Mittelmeer, ein Schwenk, der Europa und die Nato vor ganz neue Herausforderungen stellen wird.

Am 15. Januar 2020 meldete der Guardian, die Türkei habe bisher 650 Kämpfer nach Libyen verbracht, die der sogenannten Natio­nalen Syrischen Armee angehören, einem von der Türkei geschaffenen Zusammen­schluss bewaffneter Oppositionsgruppen. Weitere 1350 seien ebenfalls aus Syrien abgezogen worden und würden in der Tür­kei auf den Einsatz in Libyen vorbereitet. Obwohl in Syrien immer noch gekämpft wird und weiterhin türkische Truppen im Land stehen, zieht die Türkei Kämpfer ab. Denn der Krieg in Syrien ist entschieden.

In Syrien ist wenig zu gewinnen

Die in Ankara regierende Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP) hat ihre Hoff­nungen begraben, in Syrien die ihr nahe­stehenden Muslimbrüder an die Macht zu bringen und das Land als Tor für türkische Machtprojektion im Nahen Osten nutzen zu können. In Syrien bleibt Ankara die selbstgesetzte Aufgabe, zu verhindern, dass syrische Kurden jene Selbstverwaltungsstrukturen wiedererrichten, die türkische Truppen bei Invasionen 2018 und 2019 in Nordwest- und Nordost-Syrien zerstört haben. Schon zu Beginn des Astana-Prozes­ses – die von Russland, dem Iran und der Türkei im Dezember 2016 ins Leben geru­fene Serie von Konferenzen zur Beendigung des Krieges in Syrien – hat Ankara offiziell davon Abstand genommen, Baschar al‑Assad zu stürzen. Am 21. Dezember 2016 ver­pflichtete es sich in Moskau, die syrische Regierung und die Opposition dabei zu un­terstützen, zu einer Einigung zu gelangen.

Zwar zeigt sich Erdoğan seinen Wählern nach wie vor als unbeugsam gegenüber Baschar al‑Assad, doch am 13. Januar 2020 bestätigte die Türkei ein Treffen der Geheim­dienstchefs Syriens und Türkei in Moskau. Ankara warb dabei für eine gemeinsame Strategie im Kampf gegen kurdische Auto­nomiebestrebungen. Zuvor hatte die tür­kische Seite bereits mehrmals beteuert, dass die Präsenz ihrer Truppen in Syrien nur eine vorübergehende sein wird.

Lehren aus dem Syrienkrieg

Die AKP hat aus Ergebnis und Verlauf des Kriegs in Syrien mehrere schmerzhafte Leh­ren ziehen müssen. Erstens hat der ara­bische Umbruch nirgendwo zur Herrschaft von Parteien geführt, die der AKP nahestehen. Im Gegenteil, in Kairo und Damaskus sind erneut bzw. nach wie vor säkularis­tische Regime an der Macht, die Ankara wegen seiner Unterstützung der Muslimbrüder nicht über den Weg trauen. Das gilt auch für Saudi-Arabien und die Vereinigten Ara­bischen Emirate, die die Muslimbrüder zur Terrororganisation erklärt haben. Da­mit ist der Traum ausgeträumt, dass sich die Türkei zur Führungsmacht gleichgesinn­ter arabischer Staaten aufschwingen könnte. Zweitens sind die Kurden Syriens, bedingt durch den Verfall syrischer Staatlichkeit, zu politischen und militärischen Akteuren geworden. Dies hat die tief verwurzelte türkische Angst vor kurdischem Separatis­mus wiederbelebt und Ankara erneut zum Verteidiger des Status quo im Nahen Osten werden lassen. Dadurch wiederum wird der Schulterschluss der AKP mit den alten Eli­ten der Sicherheitsbürokratie möglich, die seit jeher in der Politik gegenüber Griechen­land und Zypern eine harte Linie vertreten. Drittens konnten sich die Kurden Syriens nur dank ihres Bündnisses mit den USA zu einem Machtfaktor entwickeln, so dass Washington in der Rhetorik der Regierung und in den Augen der Bevölkerung zur pri­mären Bedrohung für den Fortbestand des türkischen Staates geworden ist. So fließt Wasser auf die Mühlen sogenannter eura­sischer Zirkel, die generell eine Abkehr der Türkei vom Westen fordern. Viertens ver­dankt es Ankara primär seiner Zusammenarbeit mit Moskau, dass es trotz aller Rück­schläge in Syrien dort immer noch Raum für politische Manöver hat. Denn ohne Billigung des Kremls hätte Ankara weder 2018 in Afrin im Nordwesten Syriens noch 2019 im Nordosten des Landes einmarschieren kön­nen. Mehr noch: Hätte es die türkische An­näherung an Moskau nicht gegeben und die damit einhergehende Sorge der USA und ihrer Nato-Partner, die Türkei zu verlieren, wäre es Ankara im Oktober 2019 wohl nicht gelungen, Washington zu bewegen, seine Zusammenarbeit mit den Kurden stark einzuschränken und den Abzug aus Syrien einzuleiten. Über den Krieg in Syrien hat sich, fünftens, ein mittlerweile gut ein­gespielter Mechanismus türkisch-russischer Kooperation entwickelt, der nun auch in Libyen zu funktionieren scheint.

Ankara hat diese Kooperation 2016 gesucht, obwohl es primär das Eingreifen Russlands war, das den von der Türkei angestrebten Sturz des Assad-Regimes ver­hindert hat. Die Türkei hält die Zusammen­arbeit mit Russ­land aufrecht, obwohl Mos­kau weder die PKK noch ihren syrischen Ableger PYD zur Terrororganisation erklärt hat und obwohl der Kreml Assad drängt, kurdische Anliegen zu berücksichtigen. Und Ankara wird auch weiterhin mit Mos­kau zusammen agieren, obwohl Damaskus Waffenstillstandsvereinbarungen regel­mäßig bricht und erst im Januar russisches Bombardement in Idlib die von der Türkei gefürchtete Massenflucht an die türkische Grenze ausgelöst hat. Trotz alledem hält Ankara an dem Bündnis mit Russland fest. Denn nur dieses Bündnis stärkt seine Stel­lung den USA und Europa gegenüber. Das­selbe gilt – jenseits aller bilateralen Inter­essenkonflikte – im Gegenzug für Moskau.

Es war Moskaus kontrolliert-konflikt­hafte Kooperation mit Ankara, die dem Astana-Prozess – durch Einbeziehung der Türkei als Vertreterin der syrischen Oppo­sition – Legitimität verschaffte und Russ­land zu bestimmenden Macht im Friedens­prozess werden ließ. Und es ist Moskaus kontrolliert-konflikthafte Zusammenarbeit mit Ankara in Libyen – konkretisiert in der gemeinsam vorgetragenen Forderung nach einem Waffenstillstand –, die Ankara und Moskau zu legitimen Playern im Frie­densprozess gemacht hat, während sie zu­vor Akteure waren, die ein von den Verein­ten Nationen verhängtes Waffenembargo umgehen. Beide Staaten gewinnen bei dem Spiel auf Kosten westlicher Akteure. Primär gegen westliche Akteure – diesmal EU-Mit­gliedstaaten – richtet sich auch die Politik Ankaras im östlichen Mittelmeer.

Ankaras Isolation im östlichen Mittelmeer

Am 11. November 2019 beschloss der Euro­päische Rat eine Palette möglicher Sanktio­nen gegen natürliche und juristische tür­kische Personen, die sich an »illegalen Probebohrungen« beteiligen, unternommen von türkischen Forschungsschiffen in der international anerkannten Exklusiven Wirt­schaftszone (EWZ) der Republik Zypern. Dass Brüssel diese Sanktionen nun tatsäch­lich implementieren kann, hat die tür­kische Regierung bislang ebenso wenig beeindruckt wie die bereits im Juli 2019 erlassenen Strafmaßnahmen der EU. Im Rahmen dieser Maßnahmen wurden Vor­beitrittshilfen zusätzlich gekürzt, die Ver­handlungen über ein Luftfahrtabkommen suspendiert, feste bilaterale Foren ausgesetzt und die Kreditvergabe durch die Euro­päische Entwicklungsbank eingeschränkt.

Bei ihren Aktionen im östlichen Mittelmeer verlässt sich die Türkei auf ihre Marine, die in den letzten Jahren hochgerüstet wurde. Ihre Schiffe eskortieren nicht nur die türkischen Bohrschiffe in zyprischen Gewässern, sondern gehen auch gegen For­schungsschiffe anderer Nationen vor. So drängte ein türkischer Marineverband im Februar 2018 eine Forschungsplattform der italienischen Energiefirma ENI aus Gewäs­sern der EWZ Zyperns, in der ersten Dezem­berwoche 2019 geschah dasselbe mit dem israelischen Forschungsschiff Bat Galim, das in Absprache mit der zypriotischen Regie­rung in der EWZ Zyperns unterwegs war.

Der Türkei bleibt nur das militärische Muskelspiel. Ansonsten ist sie im östlichen Mittelmeer weitgehend isoliert. Griechenland, die Republik Zypern, Israel und Ägyp­ten haben ihre jeweiligen EWZs in gegen­seitigem Einvernehmen und auf Grundlage des Internationalen Seerechts voneinander abgegrenzt. Die Türkei dagegen liegt mit all diesen Staaten über Kreuz und nur in einem von ihnen, in Griechenland, gibt es einen türkischen Botschafter. Weil es dem Seerechtsabkommen (UNCLOS) nicht bei­getreten ist, will Ankara all die Verträge nicht gelten lassen, die diese Staaten mit­einander auf dessen Grundlage geschlossen haben. Deshalb ist es mehr als verständlich, dass Griechenland, die Republik Zypern, Israel und Ägypten eine diplomatische Front gegen die Türkei errichtet haben. Sie bau­ten in den letzten Jahren ihre militärische Zusammenarbeit aus und gründeten im Januar 2019 in Kairo zusammen mit Jor­danien, der Palästinensischen Autonomie­behörde und Italien das Eastern Mediterranean Gas Forum (EMGF), das Forschung, Förderung und Vermarktung der Gasvorkommen koordinieren soll. Die EU droht den Türken mit Sanktionen. Die USA wie­derum begrüßen die Zusammenarbeit Israels und Griechenlands und verstärken ihre militärische Präsenz in der Region.

Das Engagement der Türkei in Libyen und Folgen für Europa

Vor diesem Hintergrund schloss die Türkei am 27. November 2019 mit der libyschen Regierung ein Abkommen zur gegenseitigen Abgrenzung ihrer Festlandsockel im Mittel­meer und einen Vertrag über militärische Zusammenarbeit. Die Türkei hatte sich be­reits im November 2010noch zu Zeiten Muammar al‑Gaddafis – darum bemüht, mit Libyen eine Vereinbarung über die Begren­zung der Festlandsockel zu erzielen. Die prekäre Lage der libyschen Regierung nut­zend, versuchte Ankara dies spätestens seit 2018 erneut. Doch Tripolis ließ sich erst im November 2019 und nur unter der Bedin­gung darauf ein, gleichzeitig ein militäri­sches Beistandsabkommen abzuschließen.

Obwohl der libysch-türkische Vertrag zur Abgrenzung der Festlandsockel nur eine relative kurze Grenzlinie südöstlich von Kreta definiert, birgt er gewaltige diplomatische Sprengkraft. Denn erstmals ist es der Türkei gelungen, mit einem anderen Anrai­nerstaat einvernehmlich eine Grenze im östlichen Mittelmeer festzulegen, was zwei­fel­los die Legitimität der türkischen Posi­tion erhöht und das Potential hat, die Positionen Zyperns, Griechenlands und Israels zu schwächen. Mehr noch: Der Ver­trag orientiert sich an der bislang nur von der Türkei vertretenen These, dass Inseln keinen eigenen Festlandsockel hätten und deshalb auch keine eigenen EWZs etablieren könnten. Damit wird nicht nur die EWZ der Republik Zypern in Frage gestellt, son­dern auch der von allen anderen Anrainerstaaten anerkannte Status der griechischen Inseln, insbesondere Kretas. Nach türkischer Lesart ist Ankara nun berechtigt, in der griechischen EWZ östlich von Kreta ak­tiv zu werden. Schon heißt es in der Türkei, die von Griechenland, der Republik Zypern und Israel projektierte EastMed-Pipeline, die südöstlich von Kreta verlaufen soll, werde sich nur mit Ankaras Einverständnis verwirklichen lassen. Ankara wird alles daransetzen, die restlichen Anrainerstaaten des östlichen Mittelmeers auf diese Lesart einzustimmen. Dabei wird es darauf ver­weisen, dass neben Libyen und der Türkei auch Israel, Ägypten, der Libanon und Syrien größere EWZs ausweisen könnten, sollten sie sich der türkischen Position an­schließen und Inseln die Fähigkeit abspre­chen, EWZs zu konstituieren. Der Abschluss der beiden Verträge und die Entsendung türkischer Soldaten und syrischer Kämpfer nach Libyen haben sowohl dort als auch im östlichen Mittelmeer die Spannungen erhöht. In Libyen intensivierten sich die Kämpfe. Im östlichen Mittelmeer hatten Frankreich und Ägypten bereits vorher gemeinsame Manöver abgehalten. Nach der Vertragsunterzeichnung kam es zu gemein­samen Seemanövern Frankreichs, Italiens und Zyperns, Russlands und Syriens sowie zu einer maritimen Waffenschau Ägyptens.

Die Türkei ist entschlossen, ihre Posi­tio­nen durchzusetzen, daran ist nicht zu zwei­feln. Ankara rüstet seine Marine auf. Allein in den nächsten drei Jahren wird es zwan­zig weitere Schiffe in Betrieb nehmen. An­ders als im Falle Syriens findet die AKP für die Politik, die sie im Mittelmeer verfolgt, in der Militär- und Sicherheitsbürokratie große Unterstützung. Die Europäische Union und die Nato müssen sich darauf einstellen, dass die russisch-türkische Ko­operation vertieft und verstetigt und außer­dem ins östliche Mittelmeer ausgeweitet wird. Die Stoßrichtung der künftigen tür­kischen Außenpolitik dürfte primär auf zwei EU-Mitglieder abzielen: Griechenland und die Republik Zypern. Mehr als je zuvor ist die EU gefordert, eine kohärente Türkei­politik zu entwickeln. Brüssel muss Ankara die Schmerzgrenzen der Europäer deutlich aufzeigen. Es sollte der Türkei aber auch An­gebote für eine Zusammenarbeit machen, etwa die Modernisierung der Zollunion mit der EU und/oder eine Vermittlung im Streit um das Gas im Mittelmeer. Sollte Ankara die Angebote ablehnen, erhöht das für die Türkei die Kosten konfrontativer Politik.

Dr. Günter Seufert ist Leiter des Centrums für angewandte Türkeistudien (CATS).

Das Centrum für angewandte Türkeistudien (CATS) wird gefördert durch die Stiftung Mercator und das Auswärtige Amt.

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