Roland Götz
Gastkommentar in: Handelsblatt, 07.12.2006, S.8
Die Russen kommen! So könnte man die entsetzten Kommentare auf einen Nenner bringen, die zu den Expansionsplänen russischer Unternehmen auf europäischen Märkten abgegeben werden. Dahinter steht teilweise die Angst vor einer neuen Sorte von "Heuschrecken", die noch gefährlicher als die bekannten sein könnten, weil sie aus einem Land stammen, dem undurchsichtige Verbindungen von Staat und Wirtschaft nachgesagt werden. Die nach Moskau weisenden Spuren des Todes des russischen Ex-Agenten Litwinenko wie auch die wieder ansteigende Zahl von Auftragsmorden in russischen Banken- und Geschäftskreisen tragen zur Verunsicherung bei. Über all dem schwebt der Schatten des größten Wirtschaftsskandals im neuen Russland - der unter dubiosen Umständen erfolgten Zerschlagung des Jukos-Konzerns und der rechtlich fragwürdigen Verurteilung seines Chefs Chodorkowski zu acht Jahren Lagerhaft in Sibirien.
Putin hat das angebliche Chaos der Jelzin-Zeit nicht durch eine freiheitliche Ordnung ersetzt, sondern durch eine für autoritäre Regime typische Stabilität, unter deren Oberfläche organisierte Kriminalität, Geheimdienste und Bürokratie ihr Unwesen treiben. Gleichzeitig ist aber, begünstigt durch den hohen Ölpreis und das von ihm induzierte Wirtschaftswachstum, eine Unternehmerschaft erstarkt, die den Anschluss an den Westen sucht. Dass nicht nur Kapital aus dem Westen nach Russland fließt, sondern auch der umgekehrte Weg eingeschlagen wird, ist allerdings nicht neu. Russische Millionäre und Milliardäre legten bereits in den neunziger Jahren ihr Geld in Schweizer Villen, an der New Yorker Börse oder in Steuerparadiesen auf den Kanalinseln an, ohne dass sich jemand daran störte. Die Rede vom "Fluchtkapital" verkennt jedoch den Charakter des russischen Kapitalexports, der in volkswirtschaftlicher Betrachtung nur die Kehrseite des hohen positiven Leistungsbilanzsaldos ist. Die mit Erdöl und Erdgas, aber auch mit anderen Rohstoffen verdienten Dollars fließen in die anschwellenden Devisenreserven der russischen Zentralbank, werden vom Staat zur Tilgung von Auslandsschulden verwendet oder von den Unternehmen und Privatleuten in ausländischen Wertpapieren angelegt. Direkte Auslandsinvestitionen (FDI) sind eine weitere, langfristig die rentabelste Form der Verwendung des Devisenzuflusses.
Aus einzelwirtschaftlicher Sicht mausern sich die durch den Preisboom auf den Rohstoffmärkten reich gewordenen russischen Konzerne zu "Globalen Mitspielern" auf dem Weltmarkt. Die russische Wirtschaft richtet sich zunehmend nach den Regeln der Globalisierung, die für alle offenen Volkswirtschaften gelten: Das Kapital wandert dorthin, wo langfristig hohe Renditen zu erwarten sind. Ausländische Direktinvestitionen russischer Unternehmen sind außerdem einer der Wege, um die notwendige Diversifizierung der russischen Wirtschaft voran zu bringen. Sonst droht dieser wegen der starken Währungsaufwertung Gefahr, der "holländischen Krankheit" (Dutch disease) zu erliegen, die sich durch sinkende Exportchancen außerhalb des Rohstoffbereichs und Importdruck auf die heimische verarbeitende Industrie schon bemerkbar macht. Zwar versucht man, Industriepolitik mit dem Ziel der Stärkung der verarbeitenden Industrie zu betreiben, indem etwa die Automobilbranche oder große Rüstungsfirmen in Holdings organisiert werden, doch bislang ohne greifbare Ergebnisse. Russische Unternehmer sehen stattdessen in der Verflechtung mit ausländischen Technologiekonzernen eine Möglichkeit, auf dem internationalen Markt Fuß zu fassen und damit der drohenden Deindustrialisierung Paroli zu bieten.
In den neunziger Jahren haben die westlichen Länder Russland den Kapitalismus empfohlen und damit eine Art "ursprüngliche Akkumulation des Kapitals" (Karl Marx) in Gang gebracht - mit dem politischen Hintergedanken, auf diesem Wege die Wiederkehr des Kommunismus verhindern zu können. Nun könnte man in Russland von der Weiterentwicklung seiner kapitalistischen Entwicklung zum "Finanzkapital" (Rudolf Hilferding) sprechen. Es wäre ein eklatanter Fall von "doppelten Standards", wenn der Westen zwar die Öffnung Russlands für das westliche Kapital begrüßte, seinen eigenen Bereich aber gegenüber russischen Investitionen abschotten wollte. Das Argument, dass es sich dabei ja um staatlich beeinflusste Entscheidungen handele, verkennt den Charakter der russischen Wirtschaftsentwicklung erheblich: Russlands Unternehmer versichern sich zwar, belehrt durch das Schicksal Chodorkowskis, der Unterstützung durch die Politik, denken aber vor allem an ihre eigene Zukunft.
Historisch betrachtet knüpft die russische Wirtschaft wieder an die Phase an, die 1913 bzw. 1917 zum Erliegen gekommen war. Denn schon damals hatte bereits eine rege Verflechtung russischer mit europäischen, darunter nicht zuletzt mit deutschen Unternehmen bestanden. In diesem Sinne kann man von einer "Normalisierung" der Beziehungen zu Europa sprechen. Es wäre daher anachronistisch, der russischen "Investitionsoffensive" Hürden errichten zu wollen. Allerdings sollte die deutsche bzw. westliche Politik auf Reziprozität bestehen und verlangen, dass Investitionshemmnisse in Russland, wie etwa Verbote für das Engagement in "strategischen Sektoren", abgebaut werden. Russland gehört zu Europa und so sollte man es auch behandeln.