Seit Netto-Null-Ziele ein integraler Baustein der Klimapolitik sind, wird verstärkt darüber nachgedacht, zusätzlich zu einer drastischen Reduzierung der Emissionen Kohlendioxid (CO2) aktiv aus der Atmosphäre zu entfernen. Die Herausforderungen, die mit landbasierten Methoden der Kohlendioxid-Entnahme (Carbon Dioxide Removal, CDR) verbunden sind, werden zunehmend offenbar. Angesichts dessen könnte der Ozean eine neue Hoffnung sein für Strategien zur CO2-Entnahme und ‑Speicherung in der Europäischen Union (EU) und weltweit. Allerdings ist der Ozean ein Gebiet mit sich überschneidenden und manchmal widersprüchlichen Rechten und Pflichten. Es besteht ein Spannungsverhältnis zwischen dem souveränen Recht der Staaten, die Meeresressourcen innerhalb ihrer ausschließlichen Wirtschaftszonen zu nutzen, und der internationalen Verpflichtung, den Ozean als globales Gemeinschaftsgut zu schützen. Die EU und ihre Mitgliedstaaten müssen das Verhältnis zwischen diesen beiden Paradigmen in der Meerespolitik klären, wenn sie in Erwägung ziehen, den Ozean gezielt als Kohlenstoffsenke oder ‑speicher zu verwenden. Derzeit wird die Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie überarbeitet und ein Rahmen für die Zertifizierung von CO2-Entnahmemethoden auf EU-Ebene entwickelt. Die Schaffung von Querverbindungen zwischen beiden könnte den Weg bereiten für eine Debatte über Zielkonflikte und Synergien zwischen Schutz und Nutzung von Meeresökosystemen.
Nach dem Start der Ozeandekade der Vereinten Nationen (UN) im Jahr 2021 und der UN-Ozeankonferenz in Lissabon 2022 wird der Zusammenhang zwischen Klima- und Meerespolitik zunehmend anerkannt. Nicht nur wächst das Bewusstsein für die Risiken, die der Klimawandel für die Meeresumwelt mit sich bringt (Versauerung, Korallenbleiche usw.), sondern auch für die Rolle des Ozeans bei der Bewältigung desselben. Seitdem das Netto-Null-Ziel für Treibhausgasemissionen die Kernvorgabe der EU-Klimapolitik ist, wird die Notwendigkeit, CO2 aktiv aus der Atmosphäre zu entfernen und gleichzeitig die Emissionen weiter drastisch zu senken, immer häufiger diskutiert.
Der Ozean spielt eine Schlüsselrolle bei der Regulierung des globalen Klimas, weil er auf natürliche Weise einen großen Teil (25–30 %) der anthropogenen CO2-Emissionen absorbiert, und dieses Entnahmepotenzial könnte womöglich durch menschliches Eingreifen noch vergrößert werden. Da die technischen und soziopolitischen Herausforderungen von landbasierten CDR-Ansätzen zunehmend sichtbar werden, könnte der Ozean neue Hoffnung bieten, wenn in der EU und weltweit Strategien zur Entnahme und Speicherung von Kohlenstoff entwickelt werden. Die Vorschläge, den Ozean verstärkt als Kohlenstoffsenke zu nutzen, reichen von der Ausweitung von Seegraswiesen bis hin zu geochemischen Ansätzen, einschließlich der Erhöhung der Alkalinität des Ozeans (s. Grafik). Letzteres bedeutet, dass Substanzen wie gemahlener Kalkstein oder Olivin, die mit dem Meerwasser reagieren und CO2 binden, in den Ozean eingebracht würden.
Während die politischen Entscheidungsträger der EU Bereitschaft signalisiert haben, sich in der Zukunft mit Methoden der marinen CO2-Entnahme (mCDR) zu befassen, existiert zwischen den Akteuren in der Klimapolitik und denen in der Meeresschutzpolitik eine Kluft. Diese fragmentierte meeres- und klimapolitische Landschaft könnte zur Folge haben, dass die Rolle des Ozeans in der Klimastrategie der EU nicht umfassend mitgedacht wird.
Der Ozean als Kohlenstoffsenke in der internationalen Klimapolitik
Seit der Weltklimarat (IPCC) deutlich gemacht hat, dass staatliche Netto-Null-Ziele ohne den Einsatz von CDR-Methoden nicht zu erreichen sind, ist eine Debatte darüber entstanden, wie – zusätzlich zu drastischen Emissionsreduktionen – CO2 aktiv aus der Atmosphäre entfernt werden kann. Gleichzeitig rückt die Rolle des Ozeans immer mehr in den Mittelpunkt der Diskussionen auf den Vertragsstaatenkonferenzen (COPs) der UN-Klimarahmenkonvention (UNFCCC). Auf der COP21 im Jahr 2015 in Paris haben 23 Parteien (darunter Frankreich, Spanien, Schweden, Australien, Kanada, Mexiko, Chile und mehrere kleine Inselstaaten) die Erklärung »Because the Ocean« abgegeben, in der argumentiert wird, das Pariser Abkommen sei zu landzentriert. Seitdem hat es zahlreiche Versuche gegeben, die Bedeutung des Ozeans in den Klimaverhandlungen zu stärken:
Eine zweite »Because the Ocean«-Erklärung wurde auf der COP22 in Marrakesch 2016 veröffentlicht und zählt derzeit 41 Unterzeichner. Auf der COP23 in Bonn 2017 gab es einen »Oceans Action Day«, zudem startete die COP-Präsidentschaft eine Initiative, die eine Strategie für den Ozean in die internationalen Klimaschutzbemühungen integrieren soll. Der »Oceans Action Day« auf der COP24 in Kattowitz 2018 konzentrierte sich auf die Diskussion darüber, wie die Erreichung der nationalen Klimabeiträge (Nationally Determined Contributions, NDCs) aus dem Pariser Abkommen den Ozean einbeziehen kann und wie sich verschiedene Strategien auf ihn auswirken können. Die COP25 im Jahr 2019 wurde als »Blue COP« bezeichnet, um ihren Schwerpunkt, die Schnittstelle zwischen Ozean und Klima, zu unterstreichen. Trotz dieser zahlreichen Initiativen wurde die Bedeutung des Ozeans in den formellen UNFCCC-Verhandlungen nicht angemessen berücksichtigt, was darauf hinweist, dass die Verbindung zwischen Ozean und Klima zwar gesehen wird, die Rolle des Ozeans in der internationalen Klimapolitik aber nach wie vor ungeklärt ist.
Aktuelle politikorientierte Analysen zeigen weitere Optionen für meeresbasierte Klimaschutzmaßnahmen in den NDCs auf und betonen »Meereslösungen« für den Klimawandel. Darüber hinaus wurde eine Bewertung von meeresbasierten Klimastrategien in den IPCC-Sonderbericht »Der Ozean und die Kryosphäre in einem sich wandelnden Klima« von 2019 aufgenommen.
Angesichts dieser verstärkten Konzentration auf die Rolle des Ozeans in der internationalen Klimapolitik und der immer offensichtlicher werdenden Schwierigkeiten bei der landbasierten CO2-Entnahme könnte es von Interesse sein, den Ozean als neuen Hoffnungsträger für die CO2-Entnahme zu begreifen. Dies gilt insbesondere für große Emittenten wie die USA und China.
Die USA ziehen die Rolle der marinen CDR als Teil ihrer Klimaschutzstrategie bereits in Betracht: Die »National Academies of Sciences, Engineering and Medicine« (NASEM) publizierten Ende 2021 einen Bericht, in dem eine nationale Forschungsstrategie für eine ozeanbasierte CO2-Entnahme skizziert wird. Seitdem wurden im US-Senat und im Repräsentantenhaus mehrere Gesetzentwürfe zur CO2-Entnahme eingebracht, die die potenzielle gezielte Nutzung des Ozeans als Kohlenstoffsenke thematisieren und die Entwicklung einer »Mission zur CO2-Entnahme im Ozean« fordern.
China, das auf eine lange Geschichte der Bewirtschaftung mariner Ökosysteme zurückblicken kann, betreibt die derzeit größte Seetangzucht der Welt und hat in den letzten Jahren intensiver erforscht, welches Potenzial in der Speicherung von »blauem Kohlenstoff« (blue carbon) in Küstengebieten liegt. In Pekings jüngstem Fünfjahresplan (FYP14) vom März 2021 heißt es, dass der Ozean stärker als Kohlenstoffsenke genutzt werden sollte. Das chinesische Ministerium für Naturressourcen veröffentlichte daraufhin ein Dokument mit Vorschlägen für »Accounting Methods for the Economic Value of the Ocean Carbon Sink«. Im Jahr 2021 initiierte China sein erstes Projekt zur Vergabe von Emissionszertifikaten für blauen Kohlenstoff; die staatliche Ozeanverwaltung kündigte an, dass sich der Handel mit blauem Kohlenstoff sowohl auf Küstenökosysteme als auch auf neuartige Ansätze wie »mikrobielle Kohlenstoffpumpen« konzentrieren würde. Nicht zuletzt befindet sich der Hauptsitz des 2022 begonnenen Programms »Ocean Negative Carbon Emissions« in China und dessen erstes internationales Forum fand im November 2022 in Xiamen statt.
Darüber hinaus wächst bei Wirtschaftsakteuren das Interesse an mariner CDR. Eine große Zahl von Start-ups entsteht (z. B. Running Tide, Project Vesta), während gleichzeitig größere philanthropische Organisationen wie Ocean Visions daran arbeiten, die Entwicklung verschiedener mCDR-Methoden voranzubringen: darunter die Erhöhung der Alkalinität (vgl. Seite 2) oder der künstliche Auftrieb (wobei nährstoffreiches Tiefenwasser hochgepumpt wird – dies hat eine düngende Wirkung auf Algen und andere Lebensformen im oberen Ozean, was bedeutet, dass mehr CO2 in deren Biomasse gebunden werden kann). Diese neuen Akteure betonen das hohe theoretische Kohlenstoff-Entnahmepotenzial von mCDR-Ansätzen sowie deren Kommerzialisierungsmöglichkeiten; folglich besteht die Gefahr, dass das Potenzial der marinen CDR stark überschätzt wird, um Risikokapital anzuziehen, und dass kommerzielle Interessen den Start von Projekten ohne angemessene Governance-Strukturen vorantreiben.
All diese Entwicklungen sind Zeichen dafür, dass es wichtig ist zu eruieren, wie die bewusste Nutzung des Ozeans als Kohlenstoffsenke mit anderen Zielen der Meerespolitik in Wechselwirkung stehen könnte.
Globale Meerespolitik zwischen Nutzung und Schutz
Der Ozean ist ein Raum mit sich überschneidenden Rechtsgebieten. Aufgrund des Spannungsverhältnisses zwischen Rechten und Pflichten in der internationalen Meerespolitik gibt es unterschiedliche Auslegungen hinsichtlich der Rechtmäßigkeit der verschiedenen Methoden von mariner CO2-Entnahme.
Die meisten internationalen Mechanismen zur Governance des Ozeans wurden nicht mit Blick auf marine CDR entwickelt, sondern konzentrieren sich in erster Linie auf den Schutz der Meere. Der einzige Versuch, mCDR direkt zu regeln, ist die 2013 erfolgte Änderung des Londoner Protokolls (LP.4(8)), die die großflächige Ozeandüngung (Zugabe von nährstoffreichen Substanzen wie Eisen in den Ozean zur Steigerung des Algenwachstums) verbietet und Leitlinien für die Regulierung anderer mCDR-Aktivitäten enthält, bei denen Stoffe in die Meeresumwelt eingebracht werden. Das Hauptziel des Londoner Protokolls ist jedoch, die Meeresumwelt zu schützen, und nicht, die Nutzung des Ozeans als gemeinsame Ressource zur Bekämpfung des Klimawandels zu regulieren. Mit Stand vom Januar 2023 haben 53 Vertragsparteien das Protokoll unterzeichnet, darunter Deutschland und China, nicht aber die USA. Außerdem ist die Änderung, die die marine CDR betrifft, noch nicht in Kraft, da sie noch von den erforderlichen zwei Dritteln der Vertragsparteien ratifiziert werden muss.
2018 begannen Verhandlungen über eine neue internationale rechtsverbindliche Vereinbarung im Rahmen des UN-Seerechtsübereinkommens, die sich mit der Erhaltung und nachhaltigen Nutzung der biologischen Vielfalt der Meere in Gebieten jenseits der nationalen Gerichtsbarkeit (Marine Biodiversity of Areas Beyond National Jurisdiction, BBNJ) befasst. Im März 2023 haben sich die Regierungen nach zähen Verhandlungen auf einen vorläufigen Text für dieses Abkommen geeinigt, aber es wird wohl noch lange dauern, bis es angenommen und ratifiziert wird. Dieses Instrument hat das Potenzial, die Verbindungen zwischen Klima- und Meerespolitik zu stärken. Sein Schwerpunkt liegt auf der Abwägung der Risiken verschiedener Meeresaktivitäten:
Es zielt darauf ab, den Unterzeichnerstaaten detailliertere Verfahren, Grenzwerte und Leitlinien für Umweltverträglichkeitsprüfungen in der Meeresumwelt an die Hand zu geben, umfasst Bestimmungen, wie kumulative Auswirkungen mehrerer Aktivitäten berücksichtigt werden können, und schlägt detaillierte Überwachungs- und Berichtspflichten vor. Überdies sieht der Entwurf des Abkommens Regeln vor, die den Kapazitätsaufbau und den Technologietransfer fördern sollen, und empfiehlt, einen Clearing-House-Mechanismus einzurichten, der die gemeinsame Nutzung von Meeresdaten erleichtern, die Zusammenarbeit fördern, Anträge auf Kapazitätsaufbau einfacher machen und die Transparenz der Forschung verbessern könnte.
Obwohl marine CDR nicht im Fokus der BBNJ-Verhandlungen stand, war die Sorge über menschliche Eingriffe auf hoher See ein wichtiger Impuls für den neuen Vertrag. Aus diesem Grund könnte er ein weiteres Instrument zur Regelung von mCDR-Aktivitäten jenseits der nationalen Hoheitsgebiete werden.
Hier zeigt sich, dass die Idee, den Ozean gezielt als Kohlenstoffsenke zu nutzen, in einem grundlegenden Spannungsverhältnis zwischen den beiden Hauptparadigmen der Meerespolitik steht: Das eine betont das souveräne Recht der Staaten, die Meeresressourcen innerhalb ihrer ausschließlichen Wirtschaftszonen zu nutzen, das andere die internationale Verpflichtung, den Ozean als globales Gemeingut zu schützen. Obwohl einige bestehende und neu entstehende internationale Mechanismen zur Governance des Ozeans für die marine CDR von Bedeutung sind, klafft derzeit eine erhebliche internationale Governance-Lücke in Bezug auf die Frage, welche Rolle das CO2-Entnahmepotenzial des Ozeans im Klimaschutz spielen kann.
Eine neuartige Rolle des Ozeans in der EU-Klimapolitik?
Die Rolle des Ozeans in der Klimapolitik der EU ist weitgehend undefiniert. Weder in der Langfriststrategie der Europäischen Kommission für eine klimaneutrale EU aus dem Jahr 2018 noch in der von der Kommission 2019 veröffentlichten Mitteilung zum Europäischen Green Deal wird das CO2-Entnahmepotenzial des Ozeans erwähnt. Dies geschieht jedoch in der Mitteilung der Kommission über »Carbon Farming« aus dem Jahr 2021: Hier verweist die Kommission auf die Möglichkeiten, die das blue carbon farming bietet, unter anderem indem Seegraswiesen wiederhergestellt und ausgeweitet werden. Geochemische Ansätze zur Steigerung des marinen CO2-Entnahmepotenzials, zum Beispiel durch die Erhöhung der Alkalinität des Ozeans, werden allerdings nicht genannt.
Im darauffolgenden Jahr ist eine gemeinsame Mitteilung der Kommission und des Hohen Vertreters der EU über die internationale Meerespolitik der Union erschienen, die auf die marine CO2-Entnahme Bezug nimmt. Diese Mitteilung von 2022 konstatiert ein wachsendes Interesse an mCDR-Aktivitäten und bekräftigt, dass das Londoner Übereinkommen zusammen mit seinem Protokoll zwar die CO2-Abscheidung und ‑Speicherung in geologischen Formationen unter dem Meer erlaubt und regelt, die Ozeandüngung aber mit Ausnahme von Forschungstätigkeiten verbietet. In der Kommunikation wurde ferner unterstrichen, die EU müsse sicherstellen – bevor sie neue mCDR-Konzepte vorantreibt –, dass es eine angemessene wissenschaftliche Grundlage gibt, auf deren Basis solche Aktivitäten gerechtfertigt werden können, und dass Risiken und Auswirkungen ausreichend bedacht wurden. Die Mitteilung weist indes auch darauf hin, dass mCDR-Methoden wie die Ausdehnung von Seegraswiesen und Algenfeldern dazu beitragen können, den Klimawandel abzuschwächen, weil dadurch mehr Kohlenstoff aufgenommen und gespeichert würde.
Derzeit werden Kohlenstoffflüsse in Meeres- und Küstengebieten in der europäischen Berichterstattung über Emissionen aus Landnutzung, Landnutzungsänderung und Forstwirtschaft (LULUCF) nicht berücksichtigt; solche Daten einzubeziehen wäre eine technische und politische Herausforderung. In der für 2022 beschlossenen Überarbeitung der LULUCF-Verordnung im Rahmen des »Fit for 55«-Pakets haben die politischen Entscheidungsträger der EU jedoch betont, die Anrechnung der CO2-Entnahme in Meeresökosystemen könnte in Zukunft in Betracht gezogen werden.
Der Fokus auf biologische Ansätze zur Erhöhung der Kohlenstoffaufnahme im Meer ist ebenfalls in anderen EU-Initiativen zu erkennen. So haben die Europäische Kommission, die Europäische Exekutivagentur für Klima, Infrastruktur und Umwelt (CINEA) und ein Konsortium von Nachhaltigkeitsberatern und Algenorganisationen (algae organisations) im Sommer 2022 eine europäische Algen-Stakeholder-Plattform, EU4Algae, gegründet. In einer Mitteilung vom November 2022 hebt die Kommission die Rolle hervor, die der Anbau von Makroalgen im Klimaschutz spielen kann, und formuliert Maßnahmen, um den Algenanbau in der EU zu fördern und auszuweiten. Innerhalb der interfraktionellen Arbeitsgruppe »Klimawandel, biologische Vielfalt und nachhaltige Entwicklung« des Europäischen Parlaments gibt es eine »Ocean Governance Working Group«. Deren klimapolitische Arbeit fokussiert sich auf den Schutz der Meere vor den Auswirkungen des Klimawandels. Seit Kurzem beschäftigt sie sich aber ebenso mit der Idee, den Ozean bewusst als Kohlenstoffsenke zu nutzen.
Auch die Möglichkeit, CO2 in geologischen Formationen unter dem Meeresboden zu speichern, wird in Europa vermehrt erwogen. So gibt es in mehreren Staaten Bestrebungen, die einschlägige Änderung des Londoner Protokolls (Artikel 6) zu ratifizieren und den grenzüberschreitenden Transport von CO2 möglich zu machen, um es unter dem Meeresboden zu speichern. Außerdem bereitet die Kommission eine Mitteilung vor, die sich unter anderem mit Kohlenstoffabscheidung und -speicherung (Carbon Capture and Storage, CCS) befasst und den Status quo sowie strategische Prioritäten skizziert.
Aus einer von der Kommission vorgelegten Analyse des Rechtsrahmens des Londoner Protokolls geht hervor, dass man auch auf die bestehende CCS-Richtlinie der EU zurückgreifen könnte: Damit würde der grenzüberschreitende Transport von CO2 (zwischen den EU-Mitgliedstaaten und den Ländern des Europäischen Wirtschaftsraums, einschließlich Norwegens) für die Speicherung unter dem Meeresboden vorläufig möglich, ohne dass die einschlägige Änderung von Artikel 6 des Londoner Protokolls in Kraft treten muss.
Ende 2022 veröffentlichte die Kommission einen Vorschlag zur Schaffung eines Zertifizierungsrahmens für die CO2-Entnahme (Carbon Removal Certification Framework, CRC-F). Obwohl dieser Vorschlag die verschiedenen CDR-Methoden nicht ausdrücklich ein- oder ausschließt, konzentriert sich die Debatte um den CRC-F bislang auf landbasierte Ansätze zur CO2-Entnahme. Die Tatsache, dass der Wortlaut des Vorschlags offengehalten wurde, deutet allerdings darauf hin, dass während der Verhandlungen zwischen Europäischem Rat und Parlament meeresbasierte Ansätze mehr Beachtung finden könnten. Dass die Kommission in ihrer Mitteilung zu »Carbon Farming« auf das Potenzial der Speicherung von blauem Kohlenstoff verweist, könnte ein weiteres Indiz für solch eine Erweiterung des Fokus sein.
Die grundlegenden Paradigmen der internationalen Meerespolitik, die für die Abwägung von Risiken und Nutzen der marinen CDR relevant sind, wurden auch in die EU-Meerespolitik aufgenommen – zum Beispiel in die Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie (MSRL) von 2008. Diese verfolgt einen ökosystemorientierten Ansatz für das Management menschlicher Aktivitäten und integriert damit die Konzepte des Meeresumweltschutzes und der nachhaltigen Nutzung.
Wie auf internationaler Ebene gibt es jedoch auch in der EU-Klimastrategie eine Governance-Lücke hinsichtlich der Rolle des Ozeans. Das heißt, die EU und ihre Mitgliedstaaten müssen das Verhältnis zwischen dem Schutz- und dem Nutzungsparadigma in der Meerespolitik klären, wenn sie überlegen, den Ozean gezielt als Kohlenstoffsenke zu nutzen. Die laufende Überarbeitung der MSRL, die 2023 abgeschlossen werden soll, wird zeitlich mit den Verhandlungen über den vorgeschlagenen CRC-F der EU zusammenfallen. Diese beiden Prozesse bieten eine Gelegenheit, die Trennung von Meeres- und Klimapolitik zu überwinden und gemeinsame ebenso wie divergierende Interessen der Mitgliedstaaten und des Europäischen Parlaments zum Vorschein zu bringen.
Entwicklungen in Deutschland
Die amtierende Bundesregierung hebt in ihrem Koalitionsvertrag von 2021 die Notwendigkeit einer CO2-Entnahme hervor. In diesem Dokument kündigt sie an, eine Langfriststrategie zum Ausgleich der Restemissionen zu entwickeln, die nicht nur natürliche Senken, sondern auch »technische Negativemissionen« berücksichtigt. Die Herausforderungen, die mit der geologischen Kohlenstoffspeicherung in Deutschland verbunden sind (siehe zum Beispiel das Kohlendioxid-Speicherungsgesetz), haben das Interesse an der Speicherung von CO2 unter dem Meeresboden außerhalb der ausschließlichen Wirtschaftszone Deutschlands geweckt. Dies umso mehr, nachdem Norwegen und Dänemark kürzlich angeboten haben, CO2 zu importieren und in den Nordseegebieten zu speichern, über die sie Hoheitsrechte haben.
Im Jahr 2021 startete das Bundesministerium für Bildung und Forschung in Zusammenarbeit mit der Deutschen Allianz Meeresforschung eine Forschungsmission zu marinen Kohlenstoffspeichern (CDRmare), die untersuchen soll, ob und inwieweit die Meeresumwelt eine Rolle bei der Entnahme und Speicherung von CO2 spielen kann, um das langfristige Temperaturziel des Pariser Abkommens zu erreichen. Im Rahmen der Mission werden sowohl biologische als auch geochemische Ansätze für marine CDR untersucht und das Potenzial der Speicherung von CO2 unter dem Meeresboden evaluiert. Letzteres ist kein CDR-Ansatz, es sei denn, das gespeicherte CO2 ist nicht fossilen Ursprungs, sondern wurde in einem Bioenergiekraftwerk abgeschieden oder direkt aus der Umgebungsluft entnommen.
Vor allem Akteure in den norddeutschen Bundesländern positionieren sich als Vorreiter bei der Entwicklung von Infrastrukturen zur Kohlenstoffspeicherung unter dem Meeresboden. So plant Wintershall Dea in Wilhelmshaven, eine Infrastruktur aufzubauen, die den Transport von CO2 zu Speicherstätten im norwegischen Teil der Nordsee ermöglicht. In ähnlicher Weise haben sich der norwegische Öl- und Gasförderer Equinor und der deutsche Gasimporteur VNG in Rostock zusammengeschlossen; sie untersuchen, wie sich Technologien einsetzen lassen, um CO2 abzuscheiden, zu nutzen oder zu transportieren und in industriellem Maßstab offshore zu speichern.
Gleichzeitig setzt sich die deutsche Regierung zunehmend mit der Idee der Kohlenstoffspeicherung unter dem Meeresboden auseinander. Einer gemeinsamen Erklärung des norwegischen Ministerpräsidenten und des deutschen Bundesministers für Wirtschaft und Klimaschutz aus dem Jahr 2022, der zufolge die beiden Länder eine »führende Rolle beim Kohlenstoffmanagement« anstreben, folgte im Januar 2023 eine deutsch-norwegische Erklärung über die Absicht, verschiedene Optionen für CO2-Infrastrukturen und ‑Wertschöpfungsketten zu diskutieren, inklusive einer CO2-Pipeline von Deutschland nach Norwegen. Derartige Erklärungen lassen darauf schließen, dass das Interesse auf Bundesebene an einer Zusammenarbeit mit anderen Ländern bei der Kohlenstoffspeicherung in der Nordsee wächst.
Darüber hinaus hat die Bundesregierung im Dezember 2022 den Evaluierungsbericht zum Kohlendioxid-Speicherungsgesetz veröffentlicht. Er empfiehlt, eine umfassende Strategie für das Kohlenstoffmanagement zu entwickeln, einschließlich der CO2-Speicherung unter dem Meeresboden, sowie die rechtlichen und regulatorischen Rahmenbedingungen anzupassen, um eine solche Speicherung zu ermöglichen. Dies würde die deutsche Ratifizierung der Änderung von Artikel 6 des Londoner Protokolls bedeuten (vgl. Seite 6).
Parallel zu den Entwicklungen in der Klimapolitik gibt es Anzeichen dafür, dass die Governance der Meere in der deutschen Umweltpolitik an Bedeutung gewinnt. Der Koalitionsvertrag von 2021 ist das erste Dokument dieser Art, das ein eigenes Kapitel zum Meeresschutz enthält. Darin wird auch auf die Notwendigkeit hingewiesen, Möglichkeiten zur nachhaltigen Nutzung der Meere zu schaffen und die natürliche CO2-Speicherkapazität des Ozeans zu verbessern. Und vor Kurzem hat die Bundesregierung die Ernennung des ersten nationalen Meeresschutzbeauftragten bekannt gegeben, als Teil des Vorstoßes des Umweltministeriums für einen besseren Schutz von Nord- und Ostsee.
Auch das G7-Meeresabkommen, das 2022 unter deutscher Präsidentschaft geschlossen wurde, legt einen starken Fokus auf den Meeresschutz. Es betont zudem, dass die katastrophalen Auswirkungen des Klimawandels auf den Ozean begrenzt werden müssen, und spricht von naturbasierten Meereslösungen, die den Menschen, der biologischen Vielfalt und dem Klima zugutekommen.
All diese Entwicklungen zeigen: Die Meerespolitik wird zu einem politisch wichtigen Thema für die deutsche Regierung und es gibt eine wachsende Koalition von Akteuren, die auf eine Priorisierung des Meeresschutzes drängt. Gleichzeitig warnen Umweltverbände davor, dass die Bundesregierung eine Rückabwicklung von Schutzmaßnahmen riskiert, indem sie in der Meeresraumplanung Nutzungsformen gegenüber dem Meeresschutz priorisiert. Sie kritisieren ebenfalls, dass die Regierung über eine CO2-Speicherung unter dem Meeresboden innerhalb der ausschließlichen Wirtschaftszone Deutschlands nachdenkt. Darüber hinaus befürchten Umweltorganisationen, im Namen des Klimaschutzes würden Risiken für die biologische Vielfalt der Meere in Kauf genommen, und unterstreichen die Notwendigkeit, die Trennung zwischen Klima- und Meeresschutzpolitik zu überwinden.
Verknüpfen, um die Fragmentierung zu überwinden
Die obige Diskussion macht deutlich, dass die deutsche Regierung der Meerespolitik zwar mehr Aufmerksamkeit schenkt, es aber noch an einer kohärenten Verknüpfung mit der Klimapolitik mangelt. Außerdem zeichnen sich Spannungen zwischen dem Meeresschutz und der gezielten Nutzung des Ozeans als Kohlenstoffsenke und ‑speicher ab. Sie spiegeln den grundlegenden Konflikt zwischen zwei Paradigmen der Meerespolitik (Schutz vs. Nutzung) wider – sowohl in der EU als auch im globalen Kontext. Diese Spannungen sind bereits jetzt sichtbar, etwa dort, wo der Schutz der Meere mit der Nutzung (Fischerei, Tourismus, Schifffahrt, Offshore-Windkraft, militärische Operationen) in Konflikt gerät. Es steht zu erwarten, dass eine explizite Verknüpfung von Meeres- und Klimapolitik diese Konfliktlinien noch verschärft. Daher ist eine eingehende politische Diskussion darüber erforderlich, wie entsprechende Zielkonflikte ausgeglichen und potenzielle Synergien ermittelt werden können, um diese beiden Ziele der Meerespolitik weitestmöglich miteinander in Einklang zu bringen.
Wünschenswert wäre eine Klärung auf EU-Ebene, wie das Schutz- und das Nutzungsparadigma in der Meerespolitik auszubalancieren sind, wenn es darum geht, den Ozean verstärkt als Kohlenstoffsenke zu nutzen. Sie böte eine Orientierungshilfe für die Entwicklung einer kohärenten deutschen Regierungsposition zur Rolle des Ozeans in der Klimapolitik.
Eine erste Gelegenheit, Meeres- und Klimapolitik auf EU-Ebene einander anzunähern, wird sich in Kürze ergeben: Zurzeit überarbeitet die Europäische Kommission die Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie. Ihr Ansatz für das Management menschlicher Aktivitäten, die sich auf die Meeresumwelt auswirken, ist ökosystemorientiert, kombiniert also die Konzepte »Umweltschutz« und »nachhaltige Nutzung«. Zudem wird die von der Kommission vorgeschlagene Verordnung zur Zertifizierung von CO2-Entnahmemethoden zwischen dem Europäischen Parlament und den Mitgliedstaaten verhandelt. Eine Verknüpfung dieser beiden Prozesse könnte dazu beitragen, den Austausch zwischen den oft separat betrachteten Politikfeldern zu fördern, und gleichzeitig den Weg ebnen für eine Debatte über potenzielle Zielkonflikte und Synergien beim Schutz und der Nutzung der Meeresökosysteme.
Dr. Miranda Böttcher ist Wissenschaftlerin im Projekt ASMASYS. Felix Schenuit ist Wissenschaftler im Projekt CDRSynTra. Dr. Oliver Geden ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe EU / Europa und Leiter des SWP-Anteils dieser vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Verbundprojekte.
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DOI: 10.18449/2023A20
(Deutsche Version von SWP Comment 12/2023)