In der Nato gibt es Streit über politisch-strategische Fragen, jetzt soll ein Reflexionsprozess das Bündnis zusammenschweißen. Claudia Major warnt davor, den großen Fragen auszuweichen. Stattdessen sollten die Staaten etwas ganz Neues versuchen.
»Wenn Du nicht mehr weiter weißt, dann gründe einen Arbeitskreis« – so in etwa wirkt die Reaktion der Nato auf die Fundamentalkritik des französischen Präsidenten Macron, der dem Bündnis im November den Hirntod bescheinigt hatte. Empört widersprachen damals fast alle Alliierten und gaben glühende Bekenntnisse zur Nato ab. Ebenso drückten sich fast alle aber auch vor einer Antwort auf die Frage des französischen Präsidenten: Ist das überhaupt noch eine echte Allianz? Militärisch funktioniere die Nato zwar, so Macron, aber politisch eben nicht: Die politisch-strategischen Interessen der Alliierten drifteten immer weiter auseinander, ob zu Russland oder Terrorismus, auch seien einige Nato-Mitglieder koordinationsunwillig und unternähmen, wie die USA oder die Türkei, Alleingänge ohne Rücksicht auf andere Alliierte.
Da ein Treffen zum 70. Geburtstag der Allianz kurz bevorstand, fürchteten viele Staaten, dass öffentliche Streitereien die Feier sprengen würden. Außenminister Heiko Mass hatte daraufhin die rettende Idee: eine Expertenkommission, die Vorschläge entwickelt, wie die Nato wieder zum Ort der politischen Debatte wird. Der Vorschlag rettete die Nato-Feier. In der Abschlusserklärung wurde der Generalsekretär beauftragt, Vorschläge für einen »vorwärts gewandten Reflexionsprozess« zur Stärkung der politischen Dimension der Nato zu unterbreiten.
Die Frage ist nun: Was macht die Nato damit? Tatsächlich eröffnet der Auftrag theoretisch alle Möglichkeiten von der technischen Anpassung von Verfahren bis hin zur strategischen Debatte über die Verteidigung Europas. Mandat, Zeitplan und personelle Besetzung sind noch zu definieren, und dabei werden die Staaten eine Rolle spielen. In der aktuellen Diskussion dominieren zwei Optionen.
Erstens wird eine technische Lösung diskutiert. Hier würden sich die Verbündeten auf praktische Fragen konzentrieren, indem sie zum Beispiel neue Formate oder Verfahren für strategische Debatten erwägen. Ziel wäre es, die von Macron angesprochenen und von vielen Alliierten zumindest ansatzweise geteilten Probleme in einen internen Prozess zu übersetzen, zu kanalisieren und damit zu entschärfen. Bei diesem Ansatz ginge es mehr um Problemeinhegung als darum, die politisch-strategischen Streitthemen offen anzugehen. Denn der Nato fehlt es kaum an Formaten, sondern vielmehr an der Bereitschaft einzelner Staaten, sich abzusprechen. Politische Unterschiede gab es immer, heißt es bei einigen Alliierten, Hauptsache, die Nato funktioniert militärisch. Und eben dies sei in Gefahr, wenn öffentlich die gemeinsame politische Basis in Frage gestellt wird. Wer glaubt schon einer Gruppe zerstrittener Alliierter, dass sie militärisch füreinander einsteht? Der wenig ambitionierte technische Ansatz kann dieses Glaubwürdigkeitsrisiko begrenzen. Denjenigen, die die Meinungsverschiedenheiten beilegen möchten, bliebe die Hoffnung, dass sie sich von selbst lösen, zum Beispiel durch die Wahl eines europafreundlicheren US-Präsidenten Ende 2020.
Der Reflexionsprozess könnte, zweitens, einen politischen Fokus wählen: Die Alliierten würden dann ernsthaft über strategische Prioritäten, Probleme und die Zukunft der Nato diskutieren und versuchen, ihre Differenzen zu klären. Frankreich hat bereits Themen vorgeschlagen: strategische Stabilität in Europa; die Definition der Nato-Aufgaben mit Bezug auf Terrorismus, Russland und China; Rechte und Pflichten von Alliierten. Hier ginge es nicht mehr bloß um die Verbesserung von Abläufen, sondern um politische Grundsätze. Das Risiko liegt auf der Hand: Solche Debatten können die Unterschiede zwischen den Alliierten noch schärfer hervortreten lassen, die Fragmentierungstendenzen verstärken und die Nato letztlich lähmen. Vielen Staaten erscheint das geradezu fahrlässig für ein Verteidigungsbündnis, das sie als ihre Lebensversicherung ansehen.
Die meisten Alliierten scheinen die technische Variante zu bevorzugen, Frankreich steht mit seinem Wunsch nach einem ambitionierten Prozess ziemlich alleine da. Die Versuchung, aus Sorge um die Glaubwürdigkeit des Militärbündnisses die politisch-strategische Debatte zu vertagen, ist nachvollziehbar. Doch das Wegducken birgt Gefahren: Wenn die Probleme – sei es die Rolle der USA, der Umgang mit Russland oder nationale Alleingänge – wieder unter den Teppich gekehrt werden, drohen sie in absehbarer Zeit erneut zum Vorschein zu kommen und die Handlungsfähigkeit des Bündnisses zu unterminieren. Mindestens Frankreich wird den Finger immer wieder in die Wunde legen.
Notwendig wäre daher eine dritte Option, nämlich ein gemeinsames Nachdenken von Europäern, USA und Kanada über die Zukunft von Europas Verteidigung: Die Allianz kann diese nicht mehr alleine leisten. Sie ist auf die EU, die Nato-Staaten und private Akteure angewiesen, zum Beispiel wenn es um den Schutz kritischer Infrastrukturen oder die Stärkung gesellschaftlicher Widerstandsfähigkeit, etwa im Umgang mit Fake News oder mit Blick auf die Bewahrung offener Gesellschaften geht. Ebendies gilt für die militärische Mobilität, also die Verlegung von Streitkräften innerhalb Europas. Zudem ändert sich die geostrategische Lage: Mehr USA in und für Asien bedeutet weniger USA in Europa. Auch die transatlantische Werte- und Interessenbasis wird fragiler. Und nicht zuletzt bröckelt Europas Geschlossenheit, wie der Brexit zeigt. Wie will die Nato, wie will Europa damit umgehen? Bisher gibt es kaum Antworten auf diese Herausforderungen. Die Nato mit den USA gelten derzeit als Europas Lebensversicherung, doch wenn sich die Rahmenbedingungen fundamental ändern, muss die gesamte Verteidigung Europas neu gedacht werden. Mit welchen Partnern, in welchen Institutionen und mit welchen militärischen Fähigkeiten will Europa seine Sicherheit in Zukunft gewährleisten? Und welche Rolle wird die Nato dabei spielen?
Ein über die Institutionen hinausgehender Reflexionsprozess mit politischem Mandat wäre Neuland. Um ihn zum Erfolg zu führen, bräuchte es frische, kreative Ideen. Diese könnten von einer ebenso frischen und kreativen externen Expertengruppe kommen, die Ideen aus Europa, den USA und Kanada einbindet und Europas Verteidigung 2030 skizziert.
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