Direkt zum Seiteninhalt springen

Die nächste EU-Osterweiterung wird kompliziert und teuer

Beitrittsverhandlungen, Assoziierung und neue Formate aufeinander abstimmen

SWP-Aktuell 2022/A 48, 26.07.2022, 8 Seiten

doi:10.18449/2022A48

Forschungsgebiete

Russlands Krieg gegen die Ukraine hat bewirkt, dass Kiew von den 27 Staaten der EU rasch und, wie Kritiker meinen, übereilt der Kandidatenstatus zugesprochen wurde. Einstweilen können Beitrittsverhandlungen nur auf einer Nebenbühne vorbereitet werden. Im Zentrum steht das Kriegsgeschehen, dessen Ausgang ungewiss ist. Für die EU heißt das, die Ukraine militärisch wie finanziell zu unterstützen und die interna­tionale Hilfe für den Wiederaufbau mit zu organisieren. Vor diesem Hintergrund ist zu erwarten, dass die EU ihre Beziehungen zur Ukraine nicht allein nach bekanntem Erweiterungsdrehbuch gestalten wird. Sie sollte vielmehr drei Handlungsrahmen auf­einander abstimmen: die künftigen Beitrittsverhandlungen, den laufenden Assozi­ie­rungsprozess und mögliche neue Formate wie eine Europäische Politische Gemeinschaft oder einen Europäischen Politik- und Wirtschaftsraum.

Auf seinem historischen Treffen von Brüs­sel im Juni 2022 hat der Europäische Rat entschieden, den Ländern des »Assoziierten Trios« – Ukraine, Moldau und Georgien – die europäische Perspektive zu eröffnen. Damit löst sich die EU in einem wichtigen Punkt von ihrem Erweiterungskonsens, der seit 2006 galt.

Abschied vom Erweiterungskonsens

Mit dem Brüsseler Beschluss hebt die EU die Konsolidierung auf, also die Begrenzung der Beitrittsversprechen auf die sechs Län­der des Westbalkans und die Türkei. Die EU überschreitet damit zugleich den Erweiterungsraum, den sie in den 1990er Jahren mit ihrem Hilfsprogramm PHARE für die Länder Ostmittel- und Südosteuropas ab­gesteckt hatte. Unter den postsowjetischen Staaten waren nur die drei baltischen Län­der in das Programm einbezogen worden, wie später auch in die doppelte Erweiterung von Nato und EU. Ein Grund dafür war, dass die Annexion Litauens, Lettlands und Estlands durch Moskau 1940/41 von den meisten westlichen Staaten auch wäh­rend des Kalten Krieges offiziell nie aner­kannt worden war. Nun bindet sich die EU gegenüber dem Trio in ähnlicher Weise, wie sie es 2003 mit dem politischen Ver­sprechen von Thessaloniki bei den Ländern des Westbalkans tat. Nimmt man die EU beim Wort, dann geht sie in Richtung von 37 und mehr Mitgliedern, wodurch sich »das Gesicht Europas für immer verändern wird« (Bundeskanzler Scholz).

Die EU will jedoch an der strikten Kon­di­tionalität, der zweiten Komponente des Er­weiterungskonsenses, festhalten. Damit gel­ten für neue Mitglieder weiterhin die poli­tischen und wirtschaftlichen Kriterien von Kopenhagen sowie die Verpflichtung, zum Stichtag des Beitritts das Primär- und Sekun­därrecht der EU vollständig zu übernehmen. Die Aufnahmefähigkeit der EU, das vierte Kriterium, wollen die 27 ebenfalls nicht zur Disposition stellen. Dar­auf geht die Kommission in ihren Stellungnahmen zu den Beitrittsanträgen mit einem lapida­ren Satz ein: Sie werde zu einem spä­teren Zeitpunkt die Auswirkungen der Bei­tritte auf die Politiken der EU bewerten. Vor der ersten großen Osterweiterung hatte die Kommission 1997 auf Aufforderung des Rats das Gesamtdokument »Agenda 2000 – Eine stärkere und erweiterte Union« vor­gelegt. Für eine solche mehrdimensionale Analyse fehlte jetzt die Zeit und wohl auch die politische Führung. So zeigten die Stel­lungnahmen von Regierungsvertretern rund um das Treffen des Europäischen Rats im Juni 2022 die bekannten Differenzen, die sich aus der Grundspannung zwischen Erweiterung und Reform bzw. Aufnahmefähigkeit der EU ergeben. Dieser latente Dissens wird auch die nächsten Schritte im Erweiterungsprozess begleiten.

Die dritte Komponente des Erweiterungs­konsenses von 2006 betrifft die Kommunikation gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern der EU sowie der Kandidatenländer. Der Krieg hat dazu geführt, dass sich eine Mehrheit der Unionsbürger für eine schnellere Aufnahme neuer Mitglieder aus­spricht. Die Zustimmungswerte in traditionell erweiterungsskeptischen Ländern wie Österreich (45 Prozent), Frankreich (47 Pro­zent), den Niederlanden (46 Prozent) und Deutschland (53 Prozent) liegen weiterhin unter dem EU-Durchschnitt (58 Prozent), aber etwa in Dänemark neuerdings darüber (62 Prozent). Allerdings könnten kriegsbedingte Wohlstandsverluste in Kombination mit steigender Inflation wieder zu mehr Skepsis in der Unionsbevölkerung führen. In den Trio-Ländern gibt es eine sehr große Unterstützung für die EU-Mitgliedschaft, in der Ukraine hat sie Rekordhöhe.

Die Eurobarometer-Umfragen zur Stimmung in den Westbalkan-Ländern fallen bei den Punkten Vertrauen in die EU und Bild von der EU noch recht positiv aus, ob­wohl sich auch dort schon seit längerem Enttäuschung über den stockenden Bei­trittsprozess breitmacht. In vielen Län­dern äußern besonders Regierungen und poli­tische Eliten, dass das Beitrittsversprechen der EU nicht belastbar und die EU selbst un­glaubwürdig geworden sei. Dies wirft be­reits einen Schatten auf künftige Verhand­lungen mit den Trio-Ländern.

Beitrittsverhandlungen: Routinen und Neuerungen

Waren die 27 Regierungen bei der Entschei­dung vom Juni noch Getriebene, so könnten sie schon beim Europäischen Rat Mitte Dezember zeigen, dass sie das Sagen über Tempo, Fahrplan und Modalitäten des Er­weiterungsprozesses haben. Zu erwarten ist, dass die EU wegen einiger Spezifika und kriegsbedingter Komplikationen Neuerungen in den Ablauf einbauen wird, aber nicht beabsichtigt, die Methodologie grund­legend zu ändern.

Der Europäische Rat anerkennt gemäß seinem Brüsseler Beschluss die europäische Perspektive der Ukraine, Moldaus und Geor­giens und sieht die Zukunft dieser Länder in der EU. Dies entspricht in etwa der eins­tigen Formel von Thessaloniki. Die Ukraine und Moldau erhalten zudem den Status eines Bewerberlandes. Der Rat wird über die weiteren Schritte entscheiden, sobald Kiew die sieben und Chișinău die neun Maßnahmen ergriffen hat, welche die Kom­­mission in ihren Stellungnahmen aufgelistet hat. Sie betreffen vor allem konkrete Forderungen nach Rechtstaatlichkeit, Unab­hängigkeit der Justiz, Korruptionsbekämpfung und Minderheitenschutz. Diese Bedin­gungen fallen überwiegend in das Themencluster »Wesentliches«, das jene Kapitel des EU-Besitzstandes enthält, die in den Bei­tritts­verhandlungen zuerst eröffnet und zuletzt geschlossen werden sollen. Der Europäische Rat hat Georgien in Aussicht gestellt, ihm den Bewerberstatus zu gewäh­ren, sobald das Land zwölf als Prioritäten bezeichnete Auflagen umgesetzt haben wird. Gründe für diese Zurücksetzung sind lah­mende Reformanstrengungen, eine politi­sche Pola­ri­sierung und die schwelende Regie­rungs- bzw. Verfassungskrise in Georgien.

Stellungnahmen

Der Europäische Rat folgt damit den Emp­fehlungen, die die Kommission in ihren Stellungnahmen zu den Beitrittsanträgen formuliert hat. Sie enthalten recht allge­meine oder impressionistisch belegte Ein­schätzungen zur Lage der drei Länder im Lichte der Kopenhagener Beitrittskriterien. Im Fall der Ukraine ist die Vorkriegszeit der Bezugspunkt, während die Einwirkung des Krieges und seine Folgen noch unabsehbar sind.

Fein abgestuft fällt das Kommissions­urteil zur politischen Reife im Hinblick auf die Qualifikation als Kandidat aus: Die Ukraine ist »weit fortgeschritten«, Moldau hat eine »solide Grundlage«, Georgien wie­derum eine »Grundlage«, um institutionelle Stabilität zu erreichen. In der Vergangenheit hat der Rat dem Bewerberstatus und der Eröffnung von Beitrittsverhandlungen bereits zugestimmt, wenn die politischen Kriterien wie bei der Türkei oder Serbien nur »in ausreichendem Maß« oder »hinreichend« erfüllt waren. Dass Beitrittsverhandlungen mittlerweile zehn Jahre und länger dauern, senkt die Risikoschwelle für wech­selnde Regierungen in den Mitgliedstaaten und relativiert ihre Verantwortung. Ande­rerseits hat die Kommission etwa 2019 in ihrer Stellungnahme zum Beitrittsantrag von Bosnien-Herzegowina die politischen Kriterien als nicht ausreichend erfüllt an­gesehen, um Verhandlungen zu eröffnen. Diese Frage stand aber in Bezug auf das Trio noch gar nicht an.

Einer funktionierenden Marktwirtschaft stehen in den drei Ländern die strukturelle Stärke von Oligarchen und deren Netz­werke entgegen. Ebenso fehlt es dafür an einem unabhängigen und effektiven Justiz­system samt Strafverfolgungsbehörden, die etwa gegen eine bis in höchste Kreise ver­breitete Korruption und gegen organisierte Kriminalität vorgehen. Auch wegen solcher Defizite und Unsicherheiten fließen Aus­landsinvestitionen nur spärlich in die drei Länder. Immerhin attestiert die Kommis­sion, dass die makro-ökonomische Erfolgs­bilanz der Ukraine solide und bemerkenswert resilient sei, Moldau ein solides und Georgien ein hohes Maß an makro-ökono­mischer Stabilität aufweise.

Die Frage, wie weit sich die drei Länder dem Besitzstand der EU schon angenähert haben, behandelt die Kommission recht kursorisch. Sie kann sich aber auf die Fahr­pläne zur Implementierung der umfassenden Assoziierungsabkommen (AA/DCFTA) stützen, die bereits substantielle Teile des Acquis abdecken. Die Verhandlungen wer­den jedoch einer eigenen Logik folgen. Da­für werden 33 Verhandlungskapitel gemäß der 2020 eingeführten neuen Methodologie in sechs Themencluster aufgeteilt. Die Kom­mission durchleuchtet für ihre Stellungnahme den Stand der Acquis-Übernahme nicht im Detail, sondern greift Beispiele heraus, nennt Potentiale, Fortschritte und Defizite.

Sie kommt dennoch zu Gesamteinschätzungen, die erwartungsgemäß überall ein gemischtes Bild ergeben und sich zwischen insgesamt zufriedenstellend (Ukraine), zu­friedenstellend (Moldau) und insgesamt positiv (Georgien) bewegen. Es bleibt dem Screening-Prozess vorbehalten, mehr Licht in die Implementierungsergebnisse zu brin­gen. Dieser setzt meist kurz vor der Eröff­nung von Verhandlungen ein und zieht sich über viele Monate. Je nach Länge des Ver­handlungsprozesses wird das Scree­ning spä­ter wieder aufgenommen. Das hängt auch mit dem System des Benchmarkings zusam­men, denn für jedes Eröffnen und vorläufige Schließen von Kapiteln wer­den spezifische Benchmarks vereinbart und geprüft.

Der Rat dürfte frühestens im nächsten Jahr bewerten, inwieweit die drei Länder die geforderten Schritte bzw. Prioritäten erfüllt haben. Darüber hinaus müsste die Kommission dann Stellung dazu nehmen, welche spezifischen Voraussetzungen in den Ländern noch zu erfüllen sind, damit sie die Eröffnung von Verhandlungen emp­fehlen kann. Der Rat wartet vor allem das Votum des Europäischen Rats ab, der eine solche Richtungsentscheidung für sich re­serviert. Somit haben die EU-Organe Spiel­raum, um im Lichte der Kriegsdynamik, der geopolitischen Gesamtkonstellation und der innenpolitischen Lage in den drei Län­dern zu agieren.

Verhandlungsrahmen

Auf Vorschlag der Kommission wird der Rat für jede Beitrittsverhandlung einen eigenen Verhandlungsrahmen beschließen. Dieser zeigt, dass die Mitgliedstaaten im Pro­zess die Hoheit haben und Beitrittskonferenzen mit den Bewerbern im Kern Regie­rungs­konferenzen sind – auch wenn das Opera­tive bei der Kommission liegt, die dadurch aller­dings selbst in eine Schlüsselstellung drängt. Deutlich wurde bereits, dass die Kommission beträchtlichen Ein­fluss darauf hat, wie schnell die Trio-Länder in die Er­weiterungspolitik der EU eingespurt wer­den. Kommission und Europäisches Parla­ment nehmen seit langem eine dezidiert erweiterungsfreundliche Position ein.

Im Verhandlungsrahmen werden typischerweise zuerst die Prinzipien festgelegt – das sind hauptsächlich die primärrechtlichen Bestimmungen und Beitrittskriterien, der Rekurs auf Schlussfolgerungen des Europäischen Rats mit Forderungen oder Erwartungen an den Bewerber, Regeln für die Suspendierung der Verhandlungen sowie Hinweise auf Prozesse, die parallel zu den Verhandlungen laufen (etwa zwischen der EU und den Zivilgesellschaften des Lan­des). Weitere Vorgaben betreffen die Sub­stanz von Verhandlungen. Hier kann die EU beispielsweise ihre eigenen Interessen hinsichtlich Art und Dauer von Übergangsregelungen festlegen, was traditionell die Personenfreizügigkeit und die abgestufte Integration in die kostenträchtige Gemeinsame Agrar- und Strukturpolitik betrifft. Die EU machte so in der Vergangenheit aus einer überlegenen Verhandlungsmacht heraus klar, dass sie ihre Interessen schüt­zen will und die andere Seite sich auf (lan­ge) Übergangsregelungen einstellen muss. In einem weiteren Teil wird das Verhandlungsverfahren dargelegt, das der neuen Methodologie folgen wird. Es ist kaum zu erwarten, dass die Mitgliedstaaten in die­sem Kontext ihren Willen bekunden, bila­terale Streitigkeiten mit Bewerberländern nicht innerhalb von Beitrittsverhandlungen auszutragen. Wichtig wäre jedoch, dass der Rat die gegenteilige Praxis ausdrücklich als unionsschädliches Verhalten betrachtet.

Der Verhandlungsrahmen ist demnach ein politisches Dokument der Mitgliedstaaten, mit dem sie sich darauf einigen, wor­über und wie sie verhandeln wollen. Dabei können sie auch gleich ein paar politische Pflöcke einschlagen. Möglich wäre etwa, Verbindungen zum parallel laufenden Assoziierungsprozess und zu neuen Forma­ten wie etwa einer Europäischen Politischen Gemeinschaft zu schaffen. Bei­des könnte für eine abgestufte Aufnahme in die EU ge­nutzt werden – sei es im Sinne einer fak­tischen Integration unterhalb der Schwelle zur Mitgliedschaft oder eines völ­lig neuen Sonderstatus der EU-Teilmitglied­schaft.

Assoziierungsprozess und Unterstützung

Die Assoziierungsabkommen mit den Trio-Ländern sind sehr viel stärker auf die Inte­gration in den EU-Binnenmarkt ausgerichtet als die Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen mit den Ländern des Westbalkans, die im Wesentlichen klassi­sche Freihandelsabkommen sind. Mit der Ukraine, Georgien und Moldau hat die EU vertiefte und umfassende Freihandelszonen (AA/DCFTA) vereinbart, die über den Abbau von Zöllen und nichttarifären Hemmnissen hinaus die schrittweise Übernahme der Vier Freiheiten und sektorale Regulierungen bzw. Kooperation einschließen. Letzteres betrifft Energie, makro-ökonomische Zu­sammenarbeit, Umwelt, Verkehr, Industrie- und Unternehmenspolitik, Bergbau, Fische­rei, Finanzdienstleistungen, Wissenschaft und Technologie. Die regelmäßig erstellten Implementierungsberichte der Kommission zeigen neben den Schwierigkeiten im Be­reich gute Verwaltung und Regierung, Jus­tizwesen und Stärkung von Institutionen, dass die Verpflichtungen bislang nur lücken­haft umgesetzt sind. Es ist sehr hoch ge­griffen oder missverständlich, wenn Kom­missionspräsidentin von der Leyen behaup­tet, die Ukraine habe bereits 70 Prozent des Acquis umgesetzt.

Tabelle

Das Assoziierte Trio: Erhaltene EU-Förderung in Darlehen und Zuschüssen (2014–2021)

Einwohner

ENI

MFH

EIB/EBWE

Weiteres

Ukraine

43,5 Mio.

1,7 Mrd. Euro

5,6 Mrd. Euro

9,5 Mrd. Euro

194 Mio. Euro (humanitäre Hilfe)

Moldau

3,3 Mio.

512 Mio. Euro

160 Mio. Euro

150 Mio. Euro (Energiekrise)

425 Mio. Euro / 777 Mio. Euro

60 Mio. Euro (Budget­hilfe)

7 Mio. Euro (EFF)

Georgien

4,9 Mio.

819,2 Mio. Euro

166 Mio. Euro

1,6 Mrd. Euro / 2,3 Mrd. Euro

159,6 Mio. Euro (aus außenpolitischen Instrumenten)

EBWE: Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung; EFF: Europäische Friedensfazilität; EIB: Europäische Investitionsbank; ENI: Europäisches Nachbarschaftsinstrument; MFH: Makrofinanzhilfe. Quelle: eigene Darstellung nach Stellungnahmen der Euro­päischen Kommission zu den Beitrittsanträgen der Ukraine, Moldaus und Georgiens vom 17.6.2022; Einwohnerzahlen nach CIA World Factbook (Schätzungen für 2022).

Eine in ihrer Tragweite noch unabseh­bare Komplikation besteht darin, dass die staatliche Kontrolle in der Ukraine, Geor­gien und Moldau nicht das gesamte Staats­gebiet abdeckt und sich dies bis auf weite­res wohl nicht ändern wird. Zwar hat die EU mit Zypern bereits ein Mitglied mit einem abgetrennten De-facto-Staat in ihren Reihen. Aber angesichts der Insellage, der Mächtekonstellation und der sicherheitspolitischen Gegebenheiten ist dieser Fall deut­lich entspannter, vergleicht man ihn mit den jeweils unterschiedlich geprägten Kon­fliktgebieten in der Ukraine (zumindest Krim und Donbass), in Georgien (Abchasien und Südossetien) sowie Moldau (Transnistrien und Gagausien). Pragmatische Lösun­gen konnten für die Implementierung der AA/DCFTA gefunden wurden, aber eine partielle Umsetzung des EU-Acquis nach dem Beitritt dürfte deutlich komplizierter sein. Vor allem aber bilden diese Konflikte permanente Ansatzpunkte für Russland, um in den künftigen EU-Ländern zu inter­venieren und Druck auszuüben, worauf dann die gesamte Union reagieren muss.

Im Rahmen der Europäischen Nachbarschaftspolitik (ENP) hat die EU über Jahre mit dem Instrument ENI (neuerdings NDICI) die Ukraine, Georgien und Moldau finan­ziell unterstützt (siehe Tabelle). Nach der Krim-Annexion 2014 stockte die EU die Mittel erheblich auf; sie hat zur makro-ökonomischen Abstützung und Reform von Politiksektoren beigetragen und sich zentral darum bemüht, die Institutionen der in ihrer Souveränität bedrohten Ukraine zu stärken. Zur Koordinierung der Hilfe setzte die EU eine spezielle Unterstützungsgruppe (SGUA) ein, die nicht mehr einzelne Projek­te und Programme, sondern sektorbezogene Reformpakete und den Institutionenaufbau förderte. Mit dem Spurwechsel von der ENP zur Erweiterungspolitik können die Be­werberländer eine erheblich höhere Mit­tel­zuweisung erwarten. So können die sechs Westbalkan-Länder bei einer Bevölkerung von etwa 18 Millionen Menschen mit rund 9,2 Milliarden Euro (IPA III) im Zeitraum 2021–2027 rechnen. Die Bevölkerungszahl des Assoziierten Trios summiert sich da­gegen auf fast 52 Millionen Menschen.

Der Krieg hat inzwischen zu einer außer­ordentlich massiven Hilfeleistung für die Ukraine und auch Moldau geführt. Seit Russlands Angriff im Februar unter­stützte die EU die Ukraine mit 12,82 Mil­li­ar­den Euro an Finanzhilfen, darunter 2 Mil­li­arden Euro über die EIB, 1,42 Mil­li­arden Euro an humanitärer Hilfe und 2,5 Milliar­den Euro an Militärhilfe über die EFF. Die Leis­tungen für Moldau setzen sich zusammen aus 52 Millionen Euro Resilienz- und Wie­der­auf­bauhilfe, 53 Millionen Euro Budget­hilfe, 150 Millionen Euro Makrofinanzhilfe, 13 Millionen Euro humanitäre Hilfe, 40 Millio­nen Euro an Militärhilfe über die EFF, 15 Millionen Euro Unterstützung für die Auf­nahme von Geflüchteten, 15 Millionen Euro zur Unterstützung des Grenzschutzes (EUBAM) und ein Darlehen von 150 Millio­nen Euro über die EIB für den Anschluss an das transeuropäische Kernnetz.

Für die EU ist es eine massive Herausforderung, die großen Summen für den Wie­deraufbau zu mobilisieren, sie mit anderen Gebern zu koordinieren und eine sach­gemäße wie effektive Verwendung zu ge­währleisten. Dies war – allerdings in einer hellen Aufbruchsstimmung – auch nach 1989 der Fall, als die EU es übernahm, die internationale Hilfe für die marktwirtschaft­liche Transformation in Ostmittel­europa abzustimmen. Beginnend mit Polen und Ungarn hatte das PHARE-Programm in der ersten Phase zwischen 1990 und 1998 ein Volumen von knapp 9 Milliarden Euro (Ver­pflichtungen) für 13 Länder einschließlich plurilateraler und horizontaler Pro­gramme.

Für die Ukraine-Wiederaufbauhilfe wer­den sich internationale Finanzinstitutionen und Geberländer auf eine Governance ver­ständigen müssen, bei der die EU gegebenenfalls die Koordination übernimmt. Die Kommission hat bereits eine Wiederaufbau-Plattform geschaffen, um die Investitionsbedarfe, Ressourcen und Maßnahmen über­blicken und abstimmen zu können. Auf der Ukraine Recovery Conference, die Anfang Juli in Lugano stattfand, waren 42 Regie­rungen vertreten sowie EBRD, Kommission, EIB, OECD und Europarat. Das dürfte auch der Kreis sein, in dem die Wiederaufbau­hilfe gemäß den in Lugano verkündeten sieben Prinzipien geplant werden muss. Die Steuerung der internationalen Hilfe soll bei der Ukraine liegen. Die internationalen Partner werden bei der Umsetzung auf Transparenz, Zurechenbarkeit und Rechts­staatlichkeit achten, also Missstände wie Großkorruption, Veruntreuung öffentlicher Gelder und Geldwäsche im Blick haben, die aus der Vorkriegszeit bekannt sind. Ob sich insbesondere die ukrainischen Eliten in die­sen Fragen neu aufstellen, wird entscheidend sein. Auf der Konferenz nannte die Kiewer Regierung eine Größenordnung von 720 Milliarden Euro für den Wiederaufbau; doch steigen die Summen mit jedem Tag, an dem der Krieg weitere Zerstörung bringt. In Lugano haben die Teilnehmer nicht kon­kretisiert, an welche Konditionen sie die Mittelvergabe knüpfen wollen. Die EU müsste dies für ihre Beiträge jedoch tun. Schon jetzt ist unter den Mitgliedstaaten die Art der Vergabe (Zuschüsse oder Kredite) strittig. Zu entscheiden ist auch, ob für Wie­deraufbau und Beitrittsvorbereitung zwei Töpfe mit unterschiedlichen Konditionalitäten eingerichtet werden oder eine Förderung aus einem Guss administrativ und politisch vorzuziehen wäre.

Östliche Partnerschaft obsolet?

Seit 2009 sind die Trio-Länder auch Teil der Östlichen Partnerschaft (ÖP) der EU, die Armenien, Aserbaidschan, Georgien, Mol­dau, die Ukraine und potentiell Belarus umfasst. Die ÖP war auf polnisch-schwedi­sche Initiative unter dem Eindruck des Georgienkriegs von 2008 und der sich zu­spitzenden geopolitischen Konkurrenz zwi­schen Moskau und Brüssel im postsowjetischen Raum lanciert worden. Bilaterale Ab­kommen mit der EU bilden das Rück­grat der ÖP, doch hat sie auch eine multi­laterale Dimension. Die drei Vorreiterländer, also jene mit einem AA/DCFTA, schlos­sen sich im Mai 2021 zum Assoziierten Trio zusam­men und setzten sich so selbst vom Rest ab. Indem sie ihnen den (potentiellen) Kandi­da­tenstatus gewährt, vollzieht die EU diesen Schritt nach, ohne die multi­laterale Klam­mer schon völlig aufge­geben zu haben. Keineswegs obsolet ist jedenfalls die trans­versale und transnationale Logik der ÖP-Plattformen in den Berei­chen (1) gu­te Regie­rungsführung, (2) wirt­schaftliche Entwicklung, (3) Konnektivität, Energie­effizienz, Umwelt und Klimawandel sowie (4) Mobili­tät und zivilgesellschaft­liche Kon­takte. Aber das politische Momen­tum fehlt. Andere multilaterale Formate verdrängen die ÖP nicht zwingend, sie müsste allerdings an die neuen Kontexte von Krieg und Erweiterungspolitik ange­passt werden.

Neue Formate, Zwischen­stadien

Frankreich hat mit dem Vorschlag einer Europäischen Politischen Gemeinschaft (EPG) ein neues Spielfeld eröffnet. Der Euro­päische Rat hat sich dem nicht verwei­gern können und der tschechischen Präsi­dent­schaft eine vage Skizze an die Hand gege­ben, wie ein erstes Treffen des Formats aus­gerichtet sein könnte.

Die EPG soll demnach eine Plattform für politische Koordinierung unter allen Län­dern des Kontinents sein, zu denen die EU enge Beziehungen unterhält, was Russland und Belarus derzeit ausschließt. Es geht um politischen Dialog und Zusammenarbeit bei den Themen Sicherheit, Stabilität und Wohlstand – in einer inklusiven »Gruppe Europa«, die sich über gemeinsame Heraus­forderungen und Grundlinien für ihr jewei­liges Handeln austauschen will. Der ur­sprüngliche Vorschlag von Präsident Macron war zwar unbestimmt, ließ aber doch kon­kretere Verbindungen zu den Beitritts­prozessen vermuten. Er konnte so gedeutet wer­den, dass die EU damit ein Zwischenstadium auf dem Weg zur Mit­gliedschaft schaffen will. Die 27 haben im Europäischen Rat ausführlich über eine EPG disku­tiert, sich dabei aber vor allem auf deren Grenzen verständigt. Sie soll kein Ersatz für die Erweiterung der EU sein, und sie darf deren Autonomie in der Beschlussfassung in keiner Weise einschränken. Letzteres erinnert an die Grenzziehung des Europäischen Gerichtshofs in den Planungen für den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) und dessen Organe. Die jetzige Erweiterung des Spielfelds bietet dem »Team Erweiterung« wie dem »Team Vertiefung« unter den Mitgliedstaaten und Organen viele Möglichkeiten, ihre jeweilige Agenda voran­zutreiben. Auch hier drängen sich Vorläu­fer auf – so die von Präsident Mitterrand 1991 vorgeschlagene Europäische Konföde­ration, die noch unter den Vorzeichen der Charta von Paris für ein neues Europa und einer geplanten Einbindung der UdSSR bzw. Russlands stand. Ähnlich wie heute Macron meinte Mitterrand, die nächste Er­weiterung benötige noch Jahr­zehnte.

1998 schuf die EU eine Europa-Konfe­renz, zu der sie alle Länder einlud, die der Union beitreten wollten. Die demonstrative politische Inklusivität dieses Formats sollte die leistungsorientierte Selektivität des Bei­trittsprozesses abmildern. Die Euro­pa-Kon­ferenz blieb jedoch eine Episode, weil sie – ebenso wie der »strukturierte Dialog« über Sektorpolitiken – den Teil­nehmerstaaten wenig zusätzlichen Nutzen versprach. Diese konzentrierten sich ganz auf die Verhandlungsprozesse und kamen dort auch relativ schnell voran. Es ist anzu­nehmen, dass das Trio in ähnlicher Weise alles auf diese Karte setzen wird. Die Kom­missionspräsidentin und einige Regierungschefs haben sich rhe­torisch schon stark auf eine geopolitische und moralische Argu­mentation festgelegt, die auf eine schnelle Not-Erweiterung hin­auslaufen könnte. Das hätte freilich eine Internalisierung aller Risiken und skizzierten Problemkomplexe in die EU zur Folge.

Das Szenario für das Trio könnte jedoch anders aussehen, als dies bei den Ostmitteleuropäern in den 1990er Jahren der Fall war. Einen Unterschied macht das Interesse der drei Staaten wie der EU, sich außen- und sicherheitspolitisch eng abzustimmen und gegenüber dem Widersacher Russland geschlossen aufzutreten. Ein neuer Faktor ist ebenso, dass diese Länder, allen voran die Ukraine, Sicherheitsgarantien benötigen, welche die EU allein nicht geben kann und die Nato nicht geben will. Von daher sollte die EU überlegen, ob sie für die EPG ein außen- und sicherheitspolitisches Profil im Vorhof von Nato und EU entwickeln will. Unter diesem Gesichtspunkt wäre es durchaus sinnvoll, das Vereinigte Königreich und auch die Türkei einzubeziehen.

Eine enger an den Assoziierungsprozess gekoppelte Möglichkeit wäre, dass die EU mit dem Trio gemeinsam einen Europäischen Politik- und Wirtschaftsraum (EPWR) nach Vorbild des EWR bildet. Der EPWR wäre eine provisorische oder dauerhafte Einrichtung und gäbe dem Trio einen privi­legierten Status. Dieser bliebe zwar unter­halb einer Mitgliedschaft. Doch durch eine abgestufte Übernahme des Binnenmarkt-Acquis, die Einbeziehung von binnenmarkt-flankierenden Politiken, die Trans­fers aus dem EU-Haushalt und die Öffnung von EU-Programmen hätte er ein umfassen­deres und explizit politischeres Integra­tions­profil als der EWR. Die Vorteile wären, dass Zeit gewonnen würde, um den Beitritt bzw. die Aufnahme auf beiden Seiten vor­zubereiten, dass mehr Möglichkeiten für interessengeleitete flexible Regelungen bestünden, als es die nichtverhandelbaren Anforderungen einer Mitgliedschaft erlau­ben, und dass sich Frustrationen somit kleinhalten ließen. Die EPG will Schutz und Resilienz bieten. Dafür benötigt sie aber einen operativen Unterbau, den wiederum der EPWR bieten könnte. Ein EPWR oder ein anderes Zwischenstadium wäre ein Sicherheitsnetz für alle Fälle. Denn die Auf­nahme in die EU ist erst abge­schlossen, wenn alle Mitgliedstaaten den Beitrittsvertrag ratifiziert haben. Der Beitritt fällt weder unter die GASP noch die Passe­relle-Klausel. Der Beitrittsartikel 49 EUV statuiert die Einstimmigkeit, weil die Auf­nahme neuer Mitglieder die Konstitution der EU insgesamt betrifft.

Ausblick: Reformhebel und Absorptionskraft der EU

Die EU muss sich mit zwei Schlüsselfragen auseinandersetzen, wenn sie eine gegenüber den Unionsbürgern verantwortungsvolle Erweiterungspolitik betreiben will: Welche Reformhebel hat sie gegenüber den Bewerberländern, und wie steht es um die eigene Aufnahmefähigkeit? Was den Ein­fluss auf Reformen angeht, fällt die Bilanz der letzten Jahre für die Westbalkan-Staa­ten trotz deren Mitgliedschaftsperspektive negativ aus. Und die EU hat zwar in der Polykrise ebenso zusammengehalten wie nach dem russischen Angriff auf die Ukra­ine. Doch die Grundüberzeugungen zur Integration, die wirtschaftliche Leistungskraft sowie politische Präferenzen und Spielräume driften in den 27 Mitgliedstaaten auseinander, was die gemeinsamen Regelwerke – siehe Stabilitäts- und Wachs­tumspakt, NextGenerationEU – schon heute erheblich strapaziert.

Wenn die EU sich in kontinentalem Maßstab ausdehnt und viele kleine Staaten aufnimmt, die eine schwache demokratische Verfassung und unsichere Grenzen haben, so riskiert sie als ein staatenabhängiges System zumindest ihre Funktions­fähigkeit. Diese beruht auf der legitimen Rechtsetzung durch EU-Organe, der Rechts­treue demokratischer Mitgliedstaaten im Mehrebenensystem und gemeinsamen poli­tischen Zielen. In ihrer janusköpfigen supra- und intergouvernementalen Regie­rungsweise ist die EU ein einzigartiges poli­tisches Projekt. Die nächste Erweiterung kann zu ihrer Sollbruchstelle werden. Spä­testens dann muss sie sich konstitutionell neu ordnen. Eine EU konzentrischer Kreise oder überlappender Räume unterschied­licher Integrationstiefen dürfte dann noch komplexer und experimenteller aus­fallen.

Dr. Barbara Lippert ist die Forschungsdirektorin der SWP und Mitglied der Institutsleitung.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2022

SWP

Stiftung Wissenschaft und Politik

ISSN (Print) 1611-6364

ISSN (Online) 2747-5018