Der Angriff der palästinensischen Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 überraschte unter anderem wegen der Brutalität der Kämpfer, die mehr als 1200 Menschen auf teils äußerst barbarische Weise töteten – die weitaus meisten davon Zivilisten, darunter zahlreiche Kinder, Frauen und alte Leute. In den folgenden Wochen fiel zudem auf, dass viele Sympathisanten und Unterstützer der Hamas und der Palästinenser in der arabischen Welt und im Westen das Leid dieser Opfer ignorierten oder gar Verschwörungstheorien über eine israelische (Teil-)Urheberschaft kolportierten. Beides wurde zu Recht als Hinweis auf tiefsitzenden Judenhass und Antisemitismus gewertet, der weit über die Hamas und ihre Unterstützerszene hinaus verbreitet ist. Ihre Wurzeln haben diese Phänomene in der Ideologie der Muslimbruderschaft, die die Hamas entscheidend prägt und in den letzten Jahrzehnten auch über das islamistische Milieu hinaus ausstrahlt. Da diese Bewegung in den Gesellschaften der arabischen Welt und auch unter Muslimen im Westen trotz vieler Rückschläge eine wichtige Kraft darstellt, müssen Deutschland und Europa ihr Verhältnis zu ihr klären.
Die Hamas ist aus dem palästinensischen Ableger der ägyptischen Muslimbruderschaft hervorgegangen. Sie entstand kurz nach Beginn der »Ersten Intifada« im Dezember 1987 und damit gut 20 Jahre nach der israelischen Eroberung des Gazastreifens. Die Besatzung und ihre Folgen für die palästinensische Gesellschaft müssen daher Teile jedes Versuchs sein, die Gewalt der Hamas zu verstehen. Trotzdem finden sich tiefere Ursachen des Judenhasses der Hamas in der Weltanschauung der Muslimbruderschaft, wie sie sich seit den 1920er Jahren ausgeprägt und seitdem in Wechselwirkung mit dem israelisch-palästinensischen Konflikt weiterentwickelt hat.
Die Muslimbruderschaft und die Juden
Die Geschichte der Muslimbruderschaft in Palästina ab den 1940er Jahren (und damit die der Hamas) ähnelt stark jener der Mutterorganisation in Ägypten wenige Jahrzehnte zuvor. Von dieser übernommen hat die Hamas nicht nur die religiös und politisch motivierte Abneigung gegen Juden und Israelis. Auch in ihrem Verhältnis zur politischen Gewalt dient ihr die ägyptische Muslimbruderschaft als Vorbild. Beide Organisationen blieben jahrelang friedlich, bis sie sich pragmatisch entschieden, auf Gewalt zu setzen, um ihre Ziele zu erreichen.
Die Muslimbruderschaft wurde 1928 von dem Volksschullehrer Hassan al-Banna (1906–1949) im ägyptischen Ismailiya gegründet. Sie avancierte rasch zur größten islamistischen Organisation der arabischen Welt mit hunderttausenden Anhängern. Banna und seine Gefolgsleute glaubten, im Islam die Lösung für alle Probleme des einzelnen Muslims, der Gesellschaft und des Staates in Ägypten ausgemacht zu haben. Sie verlangten eine umfassende religiöse und politische Erneuerung unter ihrer Führung. Der Islam, so Banna, sei nicht nur eine Religion, sondern ein »allumfassendes System«, das alle Aspekte menschlichen Lebens gestalten könne und müsse. Dieser Anspruch spiegelt sich im Diktum »Der Islam ist die Lösung« wider, das zum vielleicht wichtigsten Wahlspruch der Muslimbrüder wurde. Deren Ziel (und gleichzeitig aller Islamisten) war die Errichtung eines islamischen Staates auf der Grundlage des islamischen Rechts.
In der Frühzeit verzichtete die Muslimbruderschaft auf Gewalt und beschränkte sich darauf, in Predigten und Unterricht zu ihrer Interpretation des Glaubens aufzurufen – ihre Anhänger nennen dies »da’wa« (Aufruf zum Glauben, Mission). Banna entwarf ein Phasenmodell, dem zufolge zunächst Einzelpersonen und ihre Familien für den wahren Islam der Muslimbruderschaft gewonnen werden sollten. Anschließend würden seine Anhänger ihre Weltanschauung in der gesamten ägyptischen Gesellschaft verbreiten und eine islamische Regierung einen islamischen Staat begründen, der nach einer Vereinigung muslimischer Nationen in einem übernationalen Kalifat aufgehen sollte. Die endlich (wieder-) vereinten Muslime würden den Islam dann weltweit propagieren.
Die Hoffnung, eine solche Graswurzelstrategie und die friedliche Verbreitung der eigenen Ideologie könnten zum Erfolg führen, prägt die Bruderschaft bis heute. Doch haben die Organisation und ihre Ableger in der arabischen Welt wiederholt auch auf Gewalt gesetzt. In den 1930er und 1940er Jahren verloren viele Muslimbrüder und auch Hassan al-Banna selbst die Zuversicht, ihr Ziel eines islamischen Staates auf friedlichem Wege zu erreichen. Gegen Ende der 1930er Jahre schuf die Organisation deshalb die »Spezial-« oder »Geheimabteilung« (nizam khass oder al-jihaz al-sirri), die als militanter Flügel die Ziele der Organisation mit Gewalt durchsetzen sollte. Viele Islamisten rechtfertigen diesen Schritt mit der Eskalation des Konflikts zwischen Juden und Arabern im benachbarten Mandatsgebiet Palästina ab 1936, doch operierte die Spezialabteilung zunächst vor allem in Ägypten.
Die Muslimbrüder waren erklärte Feinde Großbritanniens, das damals noch großen Einfluss in Ägypten hatte. Ab 1946 verübte die Spezialabteilung die ersten Anschläge im Land und traf neben staatlich-ägyptischen auch britische und jüdische Ziele (zu jener Zeit lebten etwa 80.000 Juden in Ägypten). Die von Hassan al-Banna ausgemachte »jüdische Gefahr« gewann mit der Eskalation des Konflikts in Palästina an Bedeutung für Theorie und Praxis der Muslimbrüder. Hier zeigte sich ein Muster, das in der Geschichte der islamischen Welt häufig zu beobachten ist: Im Prinzip unerwünschte religiöse Minderheiten wie die Schiiten oder Juden wurden oft lange Zeit geduldet. Sobald sie sich aber zu emanzipieren begannen und gar politische Macht in Staaten anstrebten, schürten sunnitische Gruppen die Gewalt. Wie groß der Hass auf die Juden im Ägypten der 1940er Jahre war, offenbarten zahlreiche Attentate und Übergriffe auf Juden dort, darunter mindestens zwei spektakuläre Anschläge in Kairos jüdischem Viertel zwischen Juni und September 1948, bei denen mehrere Dutzend Menschen getötet wurden und die den Muslimbrüdern angelastet wurden. Ab 1947 entsandte die Muslimbruderschaft Einheiten nach Palästina, wo diese am Kampf gegen die Juden teilnahmen. Wie groß die Abneigung gegen diese war, verdeutlichte Banna in einem Interview mit der New York Times, in dem er sagte: »Wenn der jüdische Staat zur Tatsache wird und die arabischen Völker dies verstehen, werden sie die Juden, die in ihrer Mitte leben, ins Meer treiben.« Für die Muslimbrüder wurden diese Aussagen Programm. Das Zusammenspiel der religiös begründeten Aversion gegen die Juden mit der Feindschaft gegenüber ihrem Staat wurde zur Konstante von Theorie und Praxis der Muslimbrüder.
Die Hamas und die Muslimbruderschaft
Die Geschichte der Muslimbruderschaft in Palästina wurde weit stärker als die der Mutterorganisation in Ägypten durch den Konflikt mit Israelis und Juden geprägt. Der Ableger in Palästina entstand noch vor der Gründung des Staates Israel und erstarkte vor allem im Gazastreifen, der bis 1967 unter ägyptischer Kontrolle stand. Wie die Glaubensbrüder in Ägypten setzte die palästinensische Bruderschaft zunächst auf friedliche Mittel. Sie beschränkte sich auf »da’wa« ebenso wie sozialkaritative und erzieherische Aktivitäten, um zuvorderst möglichst viele Anhänger zu gewinnen. Dies galt auch, als Scheich Ahmad Yassin 1973 das »Islamische Zentrum« (al-Mujamma’ al-Islami) – die unmittelbare Vorläuferorganisation der Hamas – gründete und mit Geld aus den reichen Golfstaaten Hospitäler, Schulen, Kindergärten und Jugendzentren errichten ließ, in denen die Ideen der Brüder weitergegeben wurden. Während der 1970er und 1980er Jahre wuchs eine neue Generation von Islamisten heran. Schon Jahre vor Gründung der Hamas bauten sie bewaffnete Strukturen auf, die der Spezialabteilung in Ägypten ähnelten und besonders gegen israelische »Spione« vorgingen, aber auch erste Überfälle verübten.
Die Entscheidung für den bewaffneten Kampf gegen Israel fiel, als im Dezember 1987 ein spontaner Volksaufstand ausbrach, der als »Erste Intifada« in die Geschichte einging. Um die Kontrolle über die eigene Jugend nicht zu verlieren, die sich an den Unruhen beteiligte, riefen Yassin und seine Mitstreiter die »Bewegung des Islamischen Widerstands« oder kurz Hamas ins Leben (so das arabische Akronym und Wort für »Eifer« oder »Kampfgeist«). Wie groß der Hass der jungen Organisation auf Israelis und Juden war, ließ sich in ihrer Charta vom August 1988 nachlesen, in der die Hamas sich zur Muslimbruderschaft bekannte und zum Jihad (Heiliger Krieg) gegen Israel aufrief. Ihr Ziel war die Zerstörung des jüdischen Staates, der durch einen islamischen Staat unter Kontrolle der Muslimbrüder ersetzt werden sollte.
Den Einfluss des modernen Antisemitismus demonstrierte eine Passage, in der auf die »Protokolle der Weisen von Zion« Bezug genommen wird. Dabei handelt es sich um eine erstmals 1903 in Russland erschienene Sammlung frei erfundener Protokolle der Treffen jüdischer Honoratioren, in denen diese Weltherrschaftspläne besprechen. Die Hamas nutzte den Verweis, um zu belegen, dass die Juden planten, das gesamte Gebiet zwischen Nil und Euphrat zu erobern: »Heute ist es Palästina, und morgen ein anderes Land oder andere Länder. Der zionistische Plan kennt keine Grenzen. Nach Palästina wollen sie ihr Territorium vom Nil bis an den Euphrat erweitern.«
Wie ihrer Charta zu entnehmen, geht es der Hamas auch darum, möglichst viele Juden zu töten. Unter Berufung auf eine überlieferte Aussage des Propheten Muhammad (hadith) heißt es dort: »Die Hamas zielt darauf ab … das Versprechen Gottes wahr zu machen. Der Prophet sagte: Das Jüngste Gericht wird nicht eher kommen, bis die Muslime gegen die Juden kämpfen und die Muslime diese töten, bis dass der Jude sich hinter Baum und Stein versteckt und jeder Baum und Stein sagen wird: ›Oh Muslim, oh Diener Gottes, da befindet sich ein Jude hinter mir. Komm und töte ihn.‹«
Die radikale Ablehnung jeder Verständigung mit Israel in der Hamas-Charta 1988 war auch deshalb so bemerkenswert, weil die PLO/Fatah des Palästinenserführers Yassir Arafat damals bereits einen Frieden mit Israel anstrebte und 1993 das erste Oslo-Abkommen mit dem ehemaligen Feind schloss. In den nächsten Jahrzehnten trug die Hamas mit Anschlägen auf israelische Ziele dazu bei, den Friedensprozess zum Erliegen zu bringen. Ab 1994 setzte die Organisation auf Selbstmordattentate, die vor allem während der »Zweiten Intifada« 2000–2005 hunderte Opfer forderten.
Zwar konnte die Organisation wegen ihrer Brutalität und ihrer islamistischen Weltanschauung nie eine Mehrheit der Palästinenser hinter sich bringen. Doch sie profitierte davon, dass die 1994 geschaffene Palästinensische Autonomiebehörde aufgrund ihrer Repression, Korruption und Unfähigkeit rasch an Unterstützung verlor. Nachdem Israel 2005 den Gazastreifen geräumt hatte, gelang es der Hamas, die Parlamentswahlen im Januar 2006 für sich zu entscheiden. Im Juni 2007 brach im Gazastreifen ein kurzer Bürgerkrieg zwischen Hamas und Fatah aus, in dem die Islamisten obsiegten. Anschließend begnügten sie sich nicht mit der Kontrolle über das Territorium. Sie gaben ihr in der Charta vorgegebenes Ziel nicht auf, das ganze Land vom Jordan bis ans Mittelmeer einzunehmen.
Yusuf al-Qaradawi, die Muslimbruderschaft und die Hamas
Von Beginn an stärkte und unterstützte die Muslimbruderschaft international die Hamas in ihrem Kampf gegen Israel. Muslimbrüder aus allen Teilen der arabischen und westlichen Welt spendeten Geld. Außerdem erhielt sie propagandistische Unterstützung durch Intellektuelle und Gelehrte aus den Reihen und dem Umfeld der Muslimbruderschaft – das in der Zwischenzeit stark gewachsen war. Die Feindschaft gegenüber Israel und den Juden wurde zum bedeutendsten gemeinsamen Nenner der allermeisten Anhänger.
Die Muslimbruderschaft hatte seit den 1940er Jahren Ableger in fast allen Teilen der arabischen Welt gebildet, die meist unabhängig von der Mutterorganisation agierten. Dennoch teilten sie alle wesentlichen Aspekte ihrer Weltanschauung, folgten denselben religiös-ideologischen Autoritäten, vor allem Hassan al-Banna und Sayyid Qutb (1906–1966), und waren oft eng miteinander vernetzt. In den 1950er und 1960er Jahren flohen zahlreiche Muslimbrüder vor der Repression in Ägypten und Syrien und ließen sich in den arabischen Golfstaaten nieder, wo viele von ihnen an Universitäten und Schulen unterrichteten. Andere gingen in die westliche Welt, wo sie ebenfalls Muslimbruderschaft-Strukturen aufbauten.
Die politischen Strategien der Muslimbrüder unterschieden sich von Land zu Land, so dass Versuche der ägyptischen Brüder in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren scheiterten, eine internationale Organisation der Muslimbruderschaft aufzubauen. Zu groß war der Widerstand gegen den Anspruch der Ägypter auf die Führung der gesamten Bewegung. Umso wichtiger war es, dass die Islamisten mit ihrem Hass auf Juden und Israelis und dem Wunsch, Palästina zu »befreien« und Israel zu zerstören, ein gemeinsames Anliegen hatten, das alle zumindest in der Theorie teilten. Als die Hamas im Laufe der Jahre erstarkte, war der Stolz vieler Muslimbrüder weltweit groß, dass die Ihren in Palästina zur Speerspitze des Kampfes gegen die Juden wurden. Einige dieser Muslimbrüder taten sich als hilfreiche Propagandisten für die Hamas hervor.
Zum bedeutendsten und bekanntesten Fürsprecher der Hamas entwickelte sich der ägyptische Religionsgelehrte und Muslimbruder Yusuf al-Qaradawi (1926–2022). Dieser verließ sein Heimatland 1961, um eine Stelle als Religionsprofessor in dem kleinen Golfemirat Katar anzunehmen, wo er für den Rest seines Lebens blieb. Von Doha aus propagierte er die Weltanschauung der Muslimbrüder und wurde seit den 1990er Jahren zum weltweit einflussreichsten Gelehrten unter arabischsprachigen Muslimen. Seine Werbung für die Hamas brachte ihm wiederholt den Vorwurf ein, islamistische Terroristen zu unterstützen. Wie weitgehend seine Weltanschauung jener der Hamas entsprach, zeigte sich schon kurz nach Veröffentlichung der Hamas-Charta von 1988, als er sich in einem Buch wie die Organisation auf Ideen aus »Protokolle der Weisen von Zion« berief und schrieb, dass Juden aus der Sowjetunion nach Israel gebracht werden sollten, »um den alten Traum eines Großisrael zu verwirklichen, das vom Nil an den Euphrat reicht, und dann in den Hedschas [im Westen des heutigen Saudi-Arabien, d. Verf.].« Der entsprechende Passus in der Charta war also kein rhetorischer »Ausrutscher« der Hamas.
Qaradawi hielt den Jihad gegen Israel wie die Hamas für eine religiöse Pflicht, die frühestens endet, wenn der jüdische Staat zerstört und Palästina befreit ist. Mit der Autorität des Religionsgelehrten berief er sich dabei (wie die Hamas) auf einen Grundsatz des klassischen islamischen Kriegsrechts, dem zufolge Muslime überall dort einen »defensiven Jihad« führen müssten, wo ihr Land von Nichtmuslimen besetzt sei. An erster Stelle in der langen Liste von Ländern, die nach Qaradawis Ansicht Ende der 1980er Jahre befreit werden mussten, fand sich Palästina. In der westlichen Welt wurde Qaradawi vor allem bekannt, weil er ab 2001 in Rechtsgutachten (fatawa) wiederholt erläuterte, dass es für Muslime legitim sei, im Kampf gegen die nichtmuslimischen Besatzer Selbstmordattentate auf israelische Zivilisten und Militärs zu verüben. Wie die Hamas auch nannte er solche Anschläge »Märtyreroperationen« (amaliyat istishhadiya).
Mit diesen und ähnlichen Argumentationen verschaffte Qaradawi der Hamas während der »Zweiten Intifada« dringend benötigte theologische Rückendeckung. Die Hamas und ihr palästinensisches Umfeld verfügen nicht über Religionsgelehrte von Rang, so dass die Unterstützung eines Klerikers mit Ausbildung an der Azhar-Universität in Kairo umso wertvoller war. Qaradawi half ein Legitimationsproblem lösen, denn Selbstmord gilt den allermeisten traditionellen Islamgelehrten als verboten, so dass die folgenreichsten Attentate der Organisation aus Sicht der sunnitischen Orthodoxie zumindest fragwürdig waren. Der tiefere Grund für Qaradawis Argumentation dürfte denn auch in seinem Hass auf die Juden gelegen haben, dem er wiederholt freien Lauf ließ. Nirgendwo wurde dieser so deutlich wie in einer atemberaubenden Aussage zum Holocaust als gerechter Strafe für die Juden: »Im Lauf der Geschichte hat Gott den Juden Menschen auferlegt, die sie für ihre Verderbtheit bestraften. Die letzte Strafe wurde durch Hitler ausgeführt. Durch all die Dinge, die er ihnen angetan hat … schaffte er es, sie an ihren Platz zu stellen. Dies war eine göttliche Strafe für sie. So Gott will, werden die Gläubigen die Juden das nächste Mal bestrafen.«
Katar und al-Jazeera
Dass es Yusuf al-Qaradawi gelang, seine Thesen und die der Muslimbruderschaft und der Hamas in der gesamten arabischen Welt und darüber hinaus zu verbreiten, verdankte er vor allem Katar und al‑Jazeera. Ab der zweiten Hälfte der 1990er Jahre bot der staatlich finanzierte Nachrichtensender dem Ägypter eine ideale Plattform, über die der Gelehrte eine schnell wachsende arabischsprachige Öffentlichkeit weltweit erreichen konnte.
Al-Jazeera wurde 1996 von Emir Hamad Bin Khalifa Al Thani (regierte 1995–2013) gegründet. Innerhalb weniger Jahre revolutionierte der Satellitensender die arabischsprachige Medienlandschaft. Bis dahin hatten staatliche Fernsehstationen mit begrenzter Reichweite dominiert, die kaum seriöse Informationen und keine von der jeweiligen Regierungslinie abweichenden Inhalte lieferten. Al-Jazeera hingegen berichtete kritisch über alle Länder der Region – mit Ausnahme Katars – und bot arabischen Oppositionellen ein Forum, das diese nutzten, um ihre Heimatregierungen zu kritisieren. Oft handelte es sich um Muslimbrüder und andere Islamisten, die in den meisten Ländern der arabischen Welt die wichtigsten Oppositionsbewegungen stellten. Yusuf al-Qaradawi bekam mit »Die Scharia und das Leben« eine eigene allwöchentliche Sendung, die über zwei Jahrzehnte zu den erfolgreichsten des Senders gehörte. Darin verbreitete er die Weltanschauung der Muslimbrüder mitsamt ihrer Abneigung gegen Israel und die Juden in die gesamte arabischsprachige Welt.
Die Gründung von al-Jazeera war Teil eines größeren politischen Projekts, in dem die Muslimbruderschaft eine herausgehobene Rolle spielte. Katar folgte bis Mitte der 1990er Jahre der Führung Saudi-Arabiens und wurde, wenn überhaupt, als eine Art saudisches Protektorat wahrgenommen. Dies wollte Emir Hamad ändern, indem er sich von dem großen Nachbarn distanzierte und eine von Riad unabhängige Außenpolitik betrieb. Zu diesem Zweck bemühte sich Emir Hamad um gute Beziehungen zu den Gegnern Saudi-Arabiens in der Region wie Iran, Syrien, der Hisbollah und der Hamas. So begann Katar, eine Mittler- und Vermittlerposition einzunehmen. Al-Jazeera war ein besonders effektives Instrument dieser Politik, zu der auch die öffentlichkeitswirksame Förderung der Muslimbruderschaft und anderer Islamisten gehörte.
Als die Proteste des Arabischen Frühlings einsetzten, etablierte sich Katar als bedeutendster Unterstützer der Muslimbruderschaft und anderer Islamisten, die in Ägypten und Tunesien an die Macht kamen und in Libyen und Syrien zu wesentlichen Akteuren in Bürgerkriegen wurden. Bei al-Jazeera nahmen Muslimbrüder noch stärkeren Einfluss auf die Inhalte des Programms als bis dahin. Auch die Hamas profitierte von der Großzügigkeit Katars. Sie durfte 2012 ein Büro in Doha einrichten, in dem seither der Chef des Hamas-Politbüros residiert. Fortan wurde sie auch mit hohen Geldsummen unterstützt – meist ist die Rede von rund zwei Milliarden US-Dollar seit 2012. Zwar war das Geld offiziell nicht für die Organisation, sondern für die Verwaltung des Gazastreifens bestimmt. Es erlaubte der Hamas aber, ihre Macht dort zu festigen und auszubauen. Wahrscheinlich floss ein erheblicher Teil dieser Mittel auch in die Organisation selbst.
Als die Muslimbrüder die Macht in Ägypten infolge eines Staatsstreichs des Militärs im Juli 2013 verloren, wurde Katar vorsichtiger und beendete laut eigenen Angaben 2015 seine Unterstützung für besonders militante Islamisten. Der neue Emir Tamim, der im Juni 2013 auf seinen Vater folgte, konnte dennoch nicht verhindern, dass der Konflikt mit den Gegnern der katarischen Politik eskalierte. Im Juni 2017 verhängten die Nachbarstaaten unter der Führung Saudi-Arabiens eine Blockade gegen das Emirat, um es zu zwingen, seine Außenpolitik zu revidieren und die Muslimbruderschaft nicht länger zu unterstützen. Bezeichnenderweise verlangten sie auch, al-Jazeera zu schließen. Katar weigerte sich und schaffte es, die wirtschaftlichen Folgen abzufedern. Daraufhin beendeten die Nachbarn ihren Boykott Anfang 2021.
Dies war ein großer Erfolg für Emir Tamim, der anschließend keinen Grund mehr sah, die Unterstützung für die Muslimbrüder zu überdenken. Sein Motiv dürfte vor allem populistisch sein: In der arabischen Welt sind die Islamisten nach wie vor die stärksten oppositionellen Kräfte. Sie könnten weiterhin die Akteure der Zukunft in der arabischen Welt sein, und ihr Unterstützer Katar würde im Fall neuer Umstürze davon profitieren. So erklärt sich, dass al-Jazeera unverändert wie ein Propagandasender für die Muslimbruderschaft und die Hamas operiert. Besonders deutlich wurde dies ab dem Tag des Überfalls der Hamas auf israelische Ortschaften am 7. Oktober 2023, als die Station unter anderem zahlreiche Reden von Hamas-Führern und -Sprechern ungefiltert und oft unkommentiert sendete.
Die globale Bewegung der Muslimbruderschaft
Die Popularisierung der Ideen der Muslimbruderschaft durch Gelehrte wie Qaradawi und Fernsehsender wie al-Jazeera wirkte sich nicht nur in der arabischen Welt aus, wo der intellektuelle und gesellschaftliche Einfluss der Islamisten trotz der Rückschläge des letzten Jahrzehnts immer noch groß ist. Sie hatte auch Folgen in der westlichen Welt, wo die Muslimbruderschaft seit den 1950er Jahren Strukturen aufgebaut hat, die seitdem stark gewachsen sind. Immer in engem Austausch mit den Mutterorganisationen in Ägypten, Syrien, Palästina und andernorts entstand ein Netz von Verbänden, Gruppierungen und Einzelpersonen, welche die Weltanschauung der Brüder und die der Hamas im Westen propagieren.
Ein besonders hervorstechendes Merkmal dieser Bewegung ist die überragende Bedeutung der Ideen Yusuf al-Qaradawis. Dieser ließ schon seit den 1980er Jahren viele seiner Werke ins Englische übersetzen, die dann unter Muslimen im Westen weithin Anklang fanden. Hinzu kam später die von Qaradawi gegründete Webseite IslamOnline, die auch auf Englisch zu einem großen Erfolg wurde. Der Gelehrte interessierte sich besonders für die muslimische Diaspora und machte es sich zur Aufgabe, die Integration von Muslimen in westliche Gesellschaften zu verhindern, indem er ihre islamische Identität durch religiöse Bildung bewahren half. Zu diesem Zweck bauten Qaradawi und seine Gefolgsleute auch Strukturen auf. Zu ihnen gehörte der 1997 eingerichtete European Council for Fatwa and Research, dem der Gelehrte bis zu seinem Tod vorsaß. In ihm waren meist islamistische Religionsgelehrte organisiert, die religiöse Rechtsgutachten veröffentlichten und in europäischen Sprachen verbreiteten. Diese Gutachten sollten Muslimen in Europa als Richtschnur gottgefälligen Denkens und Handelns dienen.
Die Gründung des Rats war nur eine in einem großen Netzwerk von Organisationen, die in den 1980er und 1990er Jahren in vielen europäischen Ländern entstanden und sich an der Weltanschauung der Muslimbrüder orientieren. Es handelt sich etwa um den Dachverband Council of European Muslims (bis 2020 Federation of Islamic Organizations in Europe, FIOE) mit Sitz in Großbritannien, die Musulmans de France (früher Union des Organisations Islamiques de France, UOIF), die Muslim Association of Britain (MAB) und die Deutsche Muslimische Gemeinschaft (bis 2018 Islamische Gemeinschaft in Deutschland, IGD). Während europäische Sicherheitsbehörden diese Organisationen der Muslimbruderschaft zuordnen, streiten diese eine formale Zugehörigkeit in der Regel ab. Häufig räumen sie indes ein, sich an der Weltanschauung der Bewegung zu orientieren.
Der Erfolg der Bewegung in Europa besteht darin, dass sie ihren Ideen weitreichende Aufmerksamkeit verschaffen konnte. Die Beteiligung Qaradawis war besonders wichtig, weil der Gelehrte beanspruchte, nicht nur für die Muslimbruderschaft, sondern für die gesamte »islamische Bewegung« zu sprechen, und ihm nur selten widersprochen wurde. Auch die der Bruderschaft zumindest nahestehenden Organisationen behaupten, den Islam insgesamt zu repräsentieren. So schafften sie es, überproportional großen religionspolitischen Einfluss und Gehör weit über die islamistische Szene hinaus zu gewinnen. Sie prägten muslimische Diskurse und präsentierten islamistische Inhalte als einzig wahren Islam.
Zu diesen Inhalten, die sich unter vielen Muslimen verbreiteten, gehört etwa die hergebrachte Vorstellung Hassan al-Bannas, dass der Islam nicht nur Religion, sondern ein »allumfassendes System« sei, das Antworten auf alle Fragen menschlichen Lebens habe. Diese Ansicht impliziert die Ablehnung der liberalen Demokratie und des Rechtsstaats, die den Islamisten als mit dem Islam unvereinbar gelten. Noch problematischer ist deren Auffassung, der Islam sei nicht nur eine Religion unter mehreren, sondern habe Anspruch auf eine beherrschende Stellung. Selbst wenn die Islamisten akzeptieren, dass sie ihren Herrschaftsanspruch im Westen zurzeit nicht durchsetzen können, macht eine solche Haltung die Integration in nichtmuslimische Gesellschaften unmöglich. Der vielleicht sichtbarste Erfolg der Muslimbrüder ist jedoch, dass ihr Judenhass und Antisemitismus in der westlichen Diaspora weiter um sich gegriffen hat. Schlaglichtartig wurde dies nach dem 7. Oktober 2023 klar, als viele nichtislamistische Muslime die Verbrechen der Hamas ignorierten oder sogar guthießen.
Eine neue Politik gegenüber Hamas und Muslimbruderschaft
Der Blick auf die Ideologie der Hamas offenbart eine tiefere Dimension des Problems, die mit den Massakern des 7. Oktober sichtbar wurde. Judenhass und Antisemitismus der Organisation sind tief in der Geschichte der Hamas, der Muslimbruderschaft in Palästina und der Mutterorganisation in Ägypten verwurzelt. Sie werden auch bei einem territorialen Kompromiss zwischen Israelis und Palästinensern nicht verschwinden. Die Abneigung gegenüber den Juden war schon vor der Gründung des Staates Israel für die Weltanschauung der Muslimbrüder in Ägypten wichtig, und mit der Entstehung der globalen Bewegung – und auch in Auseinandersetzung mit der Politik Israels – hat sie an Bedeutung zugenommen. Wer nach einer Strategie für die Bekämpfung der Hamas sucht, muss daher auch eine für den Umgang mit der Ideologie der Muslimbruderschaft finden.
Besonders dringlich ist zunächst aber, dass Deutschland und Europa die Hamas entschlossener bekämpfen. Früher war die Ansicht weit verbreitet, dass es längerfristig möglich sein könnte, mit der Hamas zu dauerhaften Waffenstillständen und weiteren Absprachen zu kommen. Viele nahmen eine neue, im Ton entschärfte Version der Hamas-Charta von 2017 zum Anlass, an eine Mäßigung der Organisation zu glauben. Einige hofften sogar darauf, dass die Organisation eines Tages die Existenz des Staates Israel akzeptieren könnte. Das Ausmaß der Gewalt am 7. Oktober zeigt aber, dass der Hass der Hamas auf Israelis und Juden genauso groß ist, wie dies die einschlägigen Passagen der Charta von 1988 nahelegen. Ziel der Organisation ist die physische Vernichtung von Juden in Israel. Konsequenz muss die möglichst vollständige Zerschlagung der Hamas und ihrer Strukturen auch in Deutschland und Europa sein.
Mit Katar hat die Hamas einen finanzstarken und einflussreichen Unterstützer. Zwar behauptet die katarische Führung oft, sie hege keine Sympathien für die Organisation. Vielmehr wolle sie im Bedarfsfall als Vermittler zwischen der Hamas und ihren Gegnern fungieren. Katarische Politiker und Beamte betonen, dass das Hamas-Büro in Doha 2012 auch auf Wunsch der USA zu diesem Zweck eröffnet wurde. Das dürfte aber nicht die gesamte Motivlage in Doha widerspiegeln. Dagegen spricht unter anderem die Hamas-Propaganda von al-Jazeera. Emir Tamim versucht offenbar auf populistische Weise, die Zustimmung der arabischen öffentlichen Meinung zu gewinnen. Nach dem Ende des Gaza-Kriegs sollten Deutschland und Europa das Gespräch mit Katar suchen und auf die Regierung dort einwirken, dass sie al-Jazeera der Kontrolle der journalistischen Hamas-Unterstützer entzieht und dem Sender eine Rückkehr zu seinen pluraleren Wurzeln vor 2011 erlaubt. Möglicherweise wird auch die US-Regierung sich einem solchen Vorhaben anschließen, was den Druck auf Katar steigern könnte.
Ferner müssen Deutschland und Europa ihr Verhältnis zur Muslimbruderschaft überdenken. In der deutschen und europäischen Außenpolitik der Jahre nach 2011 gab es einen Trend, die Bruderschaft als akzeptable Alternative zu den autoritären Regimen der arabischen Welt anzusehen. Doch eine Bewegung, in der die Sympathie für den Hamas-Terrorismus besonders weit verbreitet ist, darf nicht als Alternative gefördert werden. In der Innenpolitik gibt es keine einfachen Antworten, weil die Muslimbruderschaft als globale Bewegung und ideologische Kraft schwer zu fassen ist. Ein möglicher erster Schritt wäre aber, die Erkenntnisse der Sicherheitsbehörden häufiger in die Politik einfließen zu lassen. Bisher ist es noch allzu oft so, dass Organisationen, die den Verfassungsschutzämtern als Teile der Muslimbruderschaft gelten, trotzdem Partner der Politik sein können. Stattdessen sollten Bund und Länder die Verbindungen zu islamistischen Verbänden und Organisationen kappen. Eine solche Isolierung könnte dazu beitragen, dass diese an Bedeutung verlieren.
Dr. Guido Steinberg ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Afrika und Mittlerer Osten.
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