Mit ihrer neuen »Krim-Plattform« möchte die Ukraine internationale Aufmerksamkeit auf die Annexion der Krim und die dortigen Missstände lenken. Susan Stewart befürchtet, dass damit Kräfte gebunden werden, die dringend für Reformen, etwa im Kampf gegen Korruption, gebraucht werden.
Mit der »Krim-Plattform« hat in den letzten Monaten eine ukrainische außenpolitische Initiative Gestalt angenommen, die dazu beitragen soll, die illegale russische Besatzung der Halbinsel auf dem internationalen Radar zu halten. Am Ende steht das Ziel, diese zu beenden und die ukrainische territoriale Integrität wiederherzustellen. Sicherlich ist es wichtig, den völkerrechtswidrigen Charakter der Krim-Annexion im März 2014 immer wieder in Erinnerung zu rufen. Auch die problematische Lage der Bevölkerung der Halbinsel, etwa bei der Wasserversorgung, aber auch mit Blick auf Grundrechte wie die Freiheit der Meinungsäußerung, verdient internationale Aufmerksamkeit – ebenso wie die prekäre Situation von Minderheiten wie den Krimtataren. Die Militarisierung, die weit über die Halbinsel hinausgeht und die zunehmende russische Dominanz im Schwarzen Meer markiert, ist besorgniserregend und verlangt nach entschiedenen Schritten von EU bzw. NATO. Schließlich nimmt durch den russischen Umgang mit der Krim auch die Umwelt Schaden.
Dennoch ist zu befürchten, dass die Krim-Plattform Aufmerksamkeit und Energien bindet, die für andere Prioritäten der ukrainischen Innen- und Außenpolitik dringend gebraucht werden. Dies ist umso misslicher, als die Plattform in einer Phase vorangetrieben wird, in der Schlüsselreformen besonders gefährdet sind. Dies betrifft vor allem den Kampf gegen die Korruption, der zurzeit enorme Rückschläge erfährt.
Erfahrungen mit dem zur Beilegung des Donbas-Konfliktes etablierten Minsker Prozess zeigen ferner, dass Fortschritte unwahrscheinlich sind, wenn sie von Entscheidungen der russischen Führung abhängen. Zwar ist die Krim-Plattform kein Ort der Konfliktregelung, doch auch für sie gilt, dass wesentliche Veränderungen unmöglich sind, solange Russland das Gebiet kontrolliert. Immerhin hat der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba Russland öffentlich eingeladen, an der Plattform teilzunehmen. Damit ist er erwartungsgemäß auf Ablehnung gestoßen. Die Plattform wird daher eher ein »Krim-Freundeskreis« der Ukraine als ein Mechanismus zur Regelung oder gar Beilegung des Konflikts sein. Treffen der Plattform sollen auf Ebene von Staats- und Regierungschefs, Außenministerien, Parlamenten sowie Expertinnen und Experten stattfinden. Ein erstes Gipfeltreffen ist für dieses Jahr geplant, ferner eine Deklaration aller teilnehmenden Staaten, dass sie die Besatzung der Halbinsel durch Russland nicht anerkennen und die Ziele der Plattform unterstützen.
Ein Wermutstropfen ist auch der Umstand, dass die Ukraine mit der Krim-Plattform wieder in die Rolle des Opfers russischer Aggression schlüpft. Dies ist sie durchaus, allerdings gibt es viele Bereiche, in denen sie selbstbestimmt agieren kann. Zwar sind Hindernisse bei der Umsetzung der Reformen nicht unbedingt kleiner als diejenigen, die einer Lösung im Donbas und auf der Krim im Wege stehen. Allerdings liegen sie viel stärker in der Hand der Ukrainerinnen und Ukrainer selbst. Statt noch eine Baustelle aufzumachen, bei der sie nicht vorankommen können, sollten sie die Hindernisse bei den Reformprozessen systematischer angehen. Dafür muss die ukrainische Führung selbst aber stärker in die Verantwortung gehen.
Sowohl unter Wolodymyr Selenskyj als auch unter seinem Vorgänger Petro Poroschenko wurden wichtige Reformschritte unternommen. Aber das Fehlen einer Strategie und eine erratische Personalpolitik seit 2019 haben anderen Akteuren ermöglicht, zunehmend (wieder) die Kontrolle über die politische Agenda zu erlangen. Das sind in der Regel Akteure, die mit den alten Strukturen des ehemaligen Präsidenten Janukowytsch bzw. mit mächtigen Oligarchen verbunden sind und kein Interesse an Reformen haben.
Anders als ihre Befürworter womöglich argumentieren werden, spricht die Tatsache, dass die Krim-Plattform beim Außenministerium angesiedelt ist, nicht dafür, dass sie keine Reformkräfte beansprucht. Im Gegenteil ist die Reformagenda stark mit der Außenpolitik verflochten. Die Beziehungen zur EU basieren vor allem auf einem Assoziierungsabkommen, in dem sich die Ukraine verpflichtet, in einer Vielzahl von Bereichen EU-Regeln und -Praktiken zu übernehmen – dies erfordert Reformen. Erfolgen diese nicht, wird eine engere Kooperation zunehmend schwierig. Das Land ist ferner von internationalen Geldgebern wie dem Internationalen Währungsfonds abhängig, die bestimmte Reformen zur Bedingung für weitere Kredite machen. Davon abgesehen geht die Beschäftigung mit der Krim-Plattform weit über das Außenministerium hinaus. Allein der Umstand, dass Präsident Selenskyj sich die Krim-Plattform zu eigen macht, zeigt, dass sie hochrangige politische Akteure und ihre Teams in Anspruch nimmt und damit notwendige Kräfte für eben jene Reformen bindet.
Deutschland unterstützt die territoriale Integrität der Ukraine konsequent und sollte deswegen auch der Krim-Plattform beitreten. Allerdings wäre es nicht sinnvoll, dort erhebliche diplomatische oder politische Ressourcen zu investieren. Die Botschaft an die ukrainische Seite sollte sein, dass die Reformagenda absolute Priorität hat. Ihre Erfolge oder Misserfolge werden darüber entscheiden, ob die Ukraine als souveräner und demokratischer Staat fortbesteht. Eine reformierte Ukraine wird viel eher in der Lage sein, sich für ihre territoriale Integrität einzusetzen als ein Land, das von korrupten Netzwerken regiert wird. Sie wird dann auch leichter internationale Unterstützung für ihre außenpolitischen Ziele bekommen.
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