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Die Individualisierung des islamistischen Terrorismus

Einzeltäter bedrohen Europa, aber der »Islamische Staat« bleibt die größte Gefahr

SWP-Aktuell 2024/A 56, 06.11.2024, 8 Seiten

doi:10.18449/2024A56

Forschungsgebiete

Mehrere jihadistische Anschläge haben in den letzten Monaten gezeigt, dass sich die Gefahr durch islamistische Terroristen in Europa verschärft. Die meisten »erfolg­reichen« Attentate wurden von Einzeltätern verübt, die über keine oder nur schwa­che Verbindungen zu Organisationen wie dem »Islamischen Staat« (IS) verfügten, sich aber von seiner Propaganda hatten inspirieren lassen. Es ist ein Indiz für die Frag­mentierung des jihadistischen Milieus und die Schwäche jihadistischer Organisatio­nen, dass sie auf Einzeltäter setzen müssen, die meist nur begrenzten Schaden an­richten. Um die Wirksamkeit von Anschlägen zu erhöhen, versuchen Gruppierungen wie der IS, potentielle Terroristen einzeln oder in Gruppen bei der Planung, Organi­sation und Durchführung der Aktionen virtuell anzuleiten. Bisher wurden diese Ver­suche meist vereitelt, doch Organisationen wie der IS Khorasan sind in den letzten Jahren erstarkt. Setzt sich dieser Trend fort, dürfte die Bedrohung weiter steigen. Einzeltäteranschläge werden dann wieder nur eine unter mehreren Operations­weisen sein. Die wachsende Gefahr erfordert eine rasche und umfassende Stärkung der deutschen Terrorismusabwehr.

Der islamistische Einzeltäterterrorismus hat sich in Europa in Phasen entwickelt. Solan­ge al-Qaida das jihadistische Milieu be­herrschte (bis 2011/2012), versuchte sie fast ausschließlich, Anschläge durch eigene Mit­glieder zu begehen, die aus Pakistan oder Afghanistan geschickt wurden. Einzeltäter ohne enge Anbindung an eine Organisation waren Ausnahmen.

Eine zweite Phase begann noch während der Hochzeit des IS, die von 2014 bis 2017 dauerte. Auch diese Gruppierung entsandte Terroristen nach Europa, die mehrere An­schläge verübten, doch rief sie parallel Anhänger im Ausland dazu auf, Attentate mit einfachen Mitteln zu verüben. Viele Jihadisten folgten dem Aufruf, und die Zahl der Einzeltäteranschläge nahm zu. Seit 2017 hat es in Europa keine größeren An­griffe des IS mehr gegeben. Stattdessen hat sich in einer dritten Phase seit 2020 der Anteil von Einzeltätern noch deutlich weiter erhöht. Dass es sich bei Einzeltäter­anschlägen um eine wachsende Gefahr handeln könn­te, zeigte sich erstmals im Herbst 2020, als Frankreich, Deutschland und Österreich von einer Welle einschlä­giger Attentate er­schüttert wurden.

Die neuen Einzeltäter

Den Anfang machte am 4. Oktober 2020 der Syrer Abdullah al-H., der in Dresden zwei homosexuelle Männer mit einem Mes­ser angriff, einen von ihnen tötete und den zweiten schwer verletzte. Am 16. Oktober enthauptete der Tschetschene Abdullah Ansorow in einem Pariser Vorort den Leh­rer Samuel Paty, der im Unterricht Karika­turen des Propheten Muhammad gezeigt hatte. In Nizza wurden am 29. Oktober drei Personen beim Kirchgang getötet, als der erst wenige Wochen zuvor in Europa an­gekommene Tunesier Brahim A. sie mit einem Messer angriff. Am 2. November schlug der österreichisch-nordmazedoni­sche Doppelstaatler Kujtim Fejzulai in der Wiener Innenstadt zu. Er erschoss vier Passanten, nachdem er erfolglos versucht hatte, sich Zutritt zu einem Konzert in einer Kirche zu verschaffen.

Nach diesen dramatischen Ereignissen in kurzer zeitlicher Folge ebbte die Gewalt etwas ab. In den folgenden Jahren gab es aber immer wieder Attentate ähnli­cher Art, die mittlerweile als Teile eines Trends er­kennbar sind. Besonders häufig betroffen waren Frankreich und Deutsch­land, doch auch kleinere Länder wie Bel­gien und Österreich und die skandinavi­schen Staaten verzeichneten terroristische Aktivitäten. Es zeigte sich schnell, dass die Anschlagswelle von Herbst 2020 viele Cha­rakteristika der folgenden Jahre vorwegnahm.

Dies betraf erstens die Zielauswahl. Viele Anschläge und Anschlagsplanungen galten Gotteshäusern oder aber Perso­nen, die aus Sicht der Jihadisten den Pro­pheten Muham­mad oder den Islam belei­digt hatten. Letzte­res könnte indirektes Motiv für einen tune­sischen Jihadisten gewesen sein, der am 16. Oktober 2023 in Brüssel zwei schwedi­sche Fußballfans er­schoss, denn in Schwe­den waren im Laufe des Jahres mehrmals Korane öffent­lich verbrannt worden. Oft suchten sich die Islamisten auch Konzerte aus, um mög­lichst viele an einem Ort ver­sammelte Men­schen zu töten. So hatte ein österreichisch-nordmazedonischer Doppel­staatler im August 2024 vor, bei einem der drei ange­kündigten (dann jedoch abgesag­ten) Auf­tritte von Taylor Swift in Wien ein Blutbad unter den Besuchern anzurichten. Auch Homosexuelle wurden mehrfach ins Visier genommen, so etwa bei Planungen, die Wiener Pride-Parade vom 17. Juni 2023 anzugreifen. Die Verdächtigen in diesem Fall waren Jugendliche, die aus Tschetsche­nien und Bosnien stammten.

Zweitens zeigten die Anschläge von 2020 das Profil eines neuen Einzeltätertyps. Im Gegensatz zur Hochphase des Terroris­mus von al-Qaida (2001–2012) und IS (2014–2017) handelte es sich bei den Ter­roristen fast nie um Rückkehrer aus den jihadisti­schen Kriegsgebieten. Das war um­so bemer­kenswerter, als Letztere bei den europäi­schen Sicherheitsbehörden lange als Gefah­renquelle Nummer eins galten. Die neuen Einzeltäter waren zur Hauptzeit des IS meist noch zu jung, um nach Syrien, in den Irak, nach Libyen oder Afghanistan zu rei­sen und sich dort den Jihadisten anzu­schlie­ßen. Stattdessen entschieden sie sich später dazu, den zahlreichen Aufrufen von IS oder auch al-Qaida zu folgen und Atten­tate in ihren Heimat- oder Aufnahmelän­dern zu verüben.

Noch zahlreicher unter den Einzeltätern der letzten Jahre waren aber Personen, die mit den Flüchtlingsbewegungen seit Mitte der letzten Dekade gekommen waren. Bis 2015 gehörten die meisten islamistischen Terroristen in Europa zur zweiten oder dritten Generation von Zuwanderern. Seit­dem ist die erste Generation auf dem Vor­marsch; gerade erst angekommene Flücht­linge aus Syrien, Afghanistan und Nord­afrika mit bereits gefestigten jihadistischen Überzeugungen stellen die überwiegende Mehrheit der Einzeltäter.

Diese Entwicklung ist vor allem für jene europäischen Länder folgenreich, die seit 2014/2015 besonders viele Flüchtlinge auf­genommen haben. Das zeigt sich am Bei­spiel Deutschlands, das bereits 2016 eine Welle von vier kleineren IS-Anschlägen ohne Todesopfer und einem großen auf dem Berliner Breitscheidplatz verzeichnete – drei davon durch kurz zuvor angekom­mene Flüchtlinge. Es handelte sich hier um ein neues Phänomen, weil Deutschland bis 2015 seltener von jihadistischer Gewalt betroffen war als europäische Länder wie Frankreich, Belgien oder Großbritannien. Wichtigster Grund dafür war die bis zur Fluchtwelle 2014–2016 niedrigere Zahl von Muslimen insgesamt und die schwache Präsenz solcher muslimischer Nationalitä­ten und Herkünfte, die sich zur Hochzeit des IS als besonders anfällig für jihadisti­sche Ideologie zeigten – vor allem Marok­kaner und Tunesier. Unter den vormaligen Umständen gab es damit für Jihadisten in Deutschland auch einen kleineren Rekru­tierungspool.

Seit 2020 sind sehr viel mehr Syrer und Afghanen unter den islamistischen Terroris­ten in Europa vertreten, als Folge der An­kunft großer Flüchtlingskontingente aus den beiden Ländern. Seither erlebte Deutsch­land – das mehrheitlich Flücht­linge aus diesen Ländern aufgenommen hat – eine Reihe von Anschlägen durch Einzel­täter.

Im November 2021 griff der aus Syrien geflüchtete Palästinenser Abdalrahman A. in einem ICE zwischen Passau und Nürn­berg Fahrgäste mit einem Messer an und verletzte drei von ihnen schwer. Anfang April 2023 erstach der Syrer Maan D. in Duisburg einen Passanten, bevor er wenige Tage später ein Fitnessstudio stürmte, in dem er vier Männer schwer verletzte. Ende Mai 2024 versuchte der Afghane Sulaiman A. in Mannheim, den rechtspopulistischen Islamkritiker Michael Stürzenberger zu er­morden, und erstach einen herbeigeeilten Polizisten. Ende August 2024 tötete der Syrer Issa al‑H. in Solingen mit einem Mes­ser drei Menschen auf einem Konzert und verletzte acht weitere. In München schließ­lich tauchte im September 2024 der tür­kisch- und bosnischstämmige Österreicher Emrah Ibrahimovic mit einem Gewehr vor dem israelischen Generalkonsulat auf, wo er um sich schoss und selbst getötet wurde, bevor er Schaden anrichten konnte. Die Täter wiesen zwar alle eine islamistische Motivation auf und wurden mehrheitlich durch den IS beeinflusst, doch gab es bei ihnen keine oder kaum Hinweise auf Kon­takte zu der Organisation.

Die Fragmentierung des jihadis­tischen Milieus

Die hohe Zahl von Einzeltätern ohne enge Verbindungen zu starken Organisationen spiegelt eine jihadistische Szene wider, die seit den späten 2010er Jahren deutlich frag­mentiert und deshalb geschwächt ist. Seit der Niederlage des IS im Irak 2017 und in Syrien 2019 gibt es keine Gruppierung mehr, der es gelungen wäre, große Anschlä­ge in der westlichen Welt zu organisieren. Die IS-Ideologie ist zwar unter Jihadisten weltweit weiterhin attraktiv, doch fehlen die Strukturen, die internationalen Terroris­mus möglich machen. Ein wichtiger Grund für die Zersplitterung ist das große Schisma zwischen IS und al-Qaida, das die jihadisti­sche Bewegung seit den Jahren 2013/2014 prägt. Die beiden Organisationen sehen einander als Todfeinde, bekämpfen sich er­bittert und schwächen sich so gegenseitig.

Der Niedergang von al-Qaida

Al-Qaida war bis 2011/2012 die weltweit dominierende jihadistische Organisation, aber schon damals stark dezimiert. Dass ihre Zentrale in Pakistan trotz amerikani­schen Drucks nach den Anschlägen vom 11. September 2001 überhaupt noch eine Rolle im internationalen Terrorismus spiel­te, lag auch daran, dass sie ab 2003 ein Netz von Regionalorganisationen aufbaute. Dazu gehörten neben dem IS-Vorläufer al-Qaida im Irak (gegründet 2004) auch Ableger in Saudi-Arabien (2003), in Algerien und Mali (2007) und im Jemen (2009). Das jeweilige Ausmaß der Bindung dieser Gruppen an die al-Qaida-Zentrale variierte stark, doch orien­tierten sich alle mit Ausnahme der iraki­schen al-Qaida – die sich rasch unab­hängig machte – an den ideologischen und strate­gischen Vorgaben der Gesamtorganisation. Die al-Qaida-Zentrale war allerdings so schwach, dass sie nur eingeschränkt Kon­trolle über die Ableger ausüben konnte, weshalb rasch eine Fragmentierung des jihadistischen Milieus einsetzte.

Ab 2005/2006 kämpfte die al-Qaida-Zen­trale um ihr Überleben. Sie hatte die Krisen­jahre ab 2001 durch ihr Bündnis mit den afghanischen Taliban überstanden, von denen die Führung al-Qaidas und große Teile der Organisation in den pakistani­schen Stammesgebieten beherbergt wur­den. Dennoch konnten die USA zwischen 2009 und 2012 die wichtigsten al-Qaida-Führungspersönlichkeiten in Pakistan durch Drohnenangriffe und den Einsatz von Spezialkräften töten. Zwar gelang es dem Bin-Laden-Nachfolger Aiman al-Zawa­hiri, sich dem Zugriff der Amerikaner bis 2022 zu entziehen, doch schaffte es die al‑Qaida-Zentrale nach 2005 nicht mehr, grö­ßere Anschläge auf westliche Ziele zu ver­üben. Es kam dem Eingeständnis eigener Schwäche gleich, dass al-Qaida im Juni 2011 ein Propagandavideo veröffentlichte, in dem Zawahiri und andere Granden der Organisation ihre Anhänger weltweit zu Einzeltäterattacken aufriefen.

Gleichzeitig setzte die al-Qaida-Führung ihre Versuche fort, sich neu aufzustellen. Ab 2013 bemühte sie sich, ein neues Haupt­quartier in Syrien zu etablieren. Dies war möglich geworden, weil die ursprünglich zum IS gehörende Nusra-Front (Jabhat an-Nusra) im Kampf gegen das Assad-Regime erstarkte und sich zu al-Qaida bekannte. In zwei Wellen – 2013 und 2015 – reisten Anführer, Ausbilder und Kämpfer von al‑Qaida nach Syrien, wo sie sich der Nusra anschlossen und begannen, Anschläge auf den transatlantischen Flugverkehr zu pla­nen. Doch auch in Syrien töteten die USA viele der Führungspersonen. Hinzu kam, dass sich die Nusra-Front 2017 von al-Qaida lossagte, in Hai’at-Tahrir ash-Sham (Befrei­ungskomitee Syriens, HTS) umbenannte und sich fortan auf den Kampf in Syrien beschränkte. Daraufhin gründete al-Qaida mit Hurras ad-Din (Wächter der Religion) einen neuen Ableger in Syrien, der aber von den USA und von HTS erfolgreich be­kämpft wurde. Mit wenigen Tausend Kämp­fern in der Provinz Idlib und Umgebung ist die Gruppe bis heute ein Randakteur ge­blieben. Bisher hat Hurras ad-Din auch keine Attentäter in Europa mobilisieren können.

Der einstmals starke al-Qaida-Ableger im Jemen hatte in den letzten Jahren ebenfalls mit Problemen zu kämpfen. Zu seiner Hoch­zeit 2009/2010 versuchte er sogar, Anschlä­ge auf den transatlantischen Luft­verkehr zu verüben. Sein Magazin »Inspire« hatte gro­ßen Einfluss auf junge Jihadisten weltweit, und der amerikanisch-jemeniti­sche Predi­ger Anwar al-Aulaqi (getötet 2011) wurde zu einer der wichtigsten religiös-ideologi­schen Führungsfiguren der jihadistischen Bewegung – mit vielen Anhängern in der westlichen Welt. Doch verlor die jemeniti­sche al-Qaida während des Bürgerkriegs im Land an Stärke. Die Organisation wurde von den Huthis und von emiratischen Trup­pen bekämpft; ihre Führungspersonen wur­den wiederholt von den USA getötet. Die verbliebenen 2.000 bis 3.000 Kämpfer spie­len heute nur noch eine untergeordnete Rolle und schaffen es nicht mehr, interna­tionale Attentate zu planen.

Schlagkräftiger ist al-Qaida in Afrika, wo der Einfluss der Zentrale auf die Ableger aber schwach zu sein scheint. Dies gilt etwa für die somalische al-Shabab, die 2012 in das al-Qaida-Netzwerk aufgenommen wur­de. Besonders stark ist aber die Gruppe zur Unterstützung des Islam und der Muslime (Jama’at Nusrat al-Islam wa-l-Muslimin, JNIM), die zurzeit als erfolgreichster al-Qaida-Ab­leger gilt. Sie entstand 2017 als Zusammen­schluss der algerisch-malischen al-Qaida im Islamischen Maghreb (AQIM) und kleinerer Gruppierungen in der Sahara und im Sahel. JNIM verfügt über 5.000 bis 6.000 Kämpfer, operiert vor allem in Mali, Niger und Burki­na Faso und hat sich in diesen Ländern als stärkste jihadistische Gruppierung etabliert. Bisher gibt es aber keine Hinweise darauf, dass sie internationale Anschläge plant. Sie scheint in Europa kaum Anhän­ger zu haben.

Die Fragmentierung des IS

Auch der IS war von der Fragmentierung der jihadistischen Szene betroffen, weil er ab 2016 an verschiedenen Fronten unter großem Druck seiner Gegner stand und viele Niederlagen einstecken musste. Trotz­dem hat er mehr Kohäsion bewahrt als al-Qaida. Es gibt einige Hinweise darauf, dass Strukturen und Elemente zentraler Kontrol­le fortbestehen, ungeachtet der Schwäche der IS-Führung in Syrien und im Irak und der Bekämpfung der zahlreichen Ableger.

Wichtigster Grund für die prekäre Stel­lung des IS seit 2017 waren die Nieder­lagen in Irak und Syrien, wo er alle Territo­rien verlor, in denen er 2014 das Kalifat ausge­rufen hatte. Außerdem starben Zehn­tau­sende Kämpfer. Wie schwer es dem IS fällt, Strukturen aufrechtzuerhalten, zeigt sich am Verlust von Führungspersönlich­keiten. Der IS-Kalif Abu Bakr al-Baghdadi wurde im Oktober 2019 von den USA in sei­nem Ver­steck in Nordwest-Syrien aufge­spürt und sprengte sich in die Luft, um der Gefangen­nahme zu entgehen. Seitdem hat der IS drei weitere Anführer verlo­ren. Für den IS-Kali­fen – aktuell ein Abu Hafs al-Hashimi al-Qurashi, über den keine gesi­cherten Infor­mationen vorliegen – dürfte es immer schwieriger werden, die weitver­zweig­te Organisation tatsächlich anzuführen.

Im Irak und in Syrien hält der militäri­sche Druck auf den IS an. Die Organisation stellte in beiden Ländern ab 2017/2019 dar­auf um, den bewaffneten Kampf aus dem Untergrund zu führen. Heute sollen noch etwa 1.500 bis 3.000 Kämpfer in den zwei Ländern operieren, wobei der IS in Syrien stärker ist als im Irak. In Syrien profitiert die Organisation von der anhaltenden Instabilität des Landes, das faktisch in ver­schiedene Regionen aufgeteilt ist, die von konkurrierenden Kräften kontrolliert wer­den. Seit 2019 zielt der IS darauf ab, die rund 9.000 in syrisch-kurdischen Gefäng­nissen inhaftierten IS-Kämpfer (darunter 2.000 Ausländer) zu befreien und seine Schlagkraft auf diese Weise zu erhöhen. Bisher scheiterten die meisten dieser Versu­che an der Überlegenheit der syrischen Kur­den, die von den USA unterstützt werden.

Mit der Allgemeinen Verwaltung der Provinzen (al-Idara al-Amma li-l-Wilayat) hat der IS aber eine Stelle bewahrt, die Füh­rungsaufgaben übernimmt. Dabei handelt es sich um einen Teil der IS-Verwaltung, der gegründet wurde, um die zentrale Kon­trolle der ab November 2014 geschaffenen IS-Ableger außerhalb des Irak und Syriens zu gewährleisten. Nach dem Verlust der letzten Territorien in Syrien im März 2019 und dem Tod des ersten IS-Kalifen al-Bagh­dadi wenig später scheint die Allgemeine Verwaltung der Provinzen zu einer beson­ders wichtigen Stelle in der IS-Kommando­struktur geworden zu sein. Unter anderem dürfte sie dafür verantwortlich sein, die Organisation weltweit zu finanzieren.

Um seine Zentralstellenfunktion besser ausfüllen zu können, gründete der IS spä­testens 2019 Regionalbüros, die der Allge­meinen Verwaltung der Provinzen unter­stehen. Die wichtigsten sind Maktab al-Ard al-Mubaraka für den Irak und Syrien, Maktab as-Sadiq für Südasien, Afghanistan und Iran, Maktab al-Faruq für den Kaukasus, Russland, die Türkei und Europa, Maktab al-Furqan für Westafrika und die Sahelzone sowie Maktab al-Karrar für Somalia und andere Teile Afri­kas. Zwar ist im Detail unklar, wie effektiv die Allgemeine Verwaltung der Provinzen und die Regionalbüros arbeiten können. Be­sonders die häufigen Verluste an Führungs­personal dürften diese Stellen geschwächt haben. Doch gibt es Hinweise darauf, dass es dem IS weiterhin gelungen ist, wichtige Funktionen wie die Finanzierung der ein­zelnen Ableger und die Öffentlichkeits­arbeit zentral zu steuern. Für großen Ein­fluss auf die IS-Provinzen spricht, dass diese sich meist an die ideologischen und strate­gischen Vorgaben des IS halten, wie sie in zentralen Publikationen wie den Audio­botschaften des jeweiligen Kalifen und sei­nes Sprechers vorgegeben werden. Hierzu gehört beispielsweise die unversöhnliche Feindschaft gegenüber den Schiiten, die von allen IS-Ablegern geteilt wird.

Besonders wichtig für die Führung der Organisation waren in den letzten Jahren der IS-Ableger in Somalia (namens Wilayat as-Sumal) und das al-Karrar-Büro, das sich ebenfalls in Somalia befinden soll. Das ist vor allem deshalb erstaunlich, weil der IS in diesem Land offenbar nur über einige Hun­dert Kämpfer – die Schätzungen schwan­ken zwischen 100 und 500 – verfügt und der Ableger dort zahlenmäßig also eher schwach ist. Trotzdem ist es ihm gelungen, zur vielleicht wichtigsten Drehscheibe bei der Finanzierung der IS-Ableger insgesamt zu werden, wobei er sogar Geld an den IS nach Afghanistan schickt. Dementspre­chend haben die USA ihre Bekämpfungs­maßnahmen im nordsomalischen Puntland – wo sich die meisten IS-Kämpfer des Lan­des aufhalten – 2023 und 2024 verstärkt. Es ist daher unklar, ob der IS Somalia seine Zentralstellenfunktion im Netzwerk der Organisation weiter wahrnehmen kann.

Wie sehr die Fragmentierung des Milieus auch den IS betrifft, zeigt sich an einem seiner Ableger, der sich nicht vollständig an die strategischen Vorgaben der Organisa­tion zu halten scheint. Es handelt sich um den IS in der Großsahara (ISGS, auch Wila­yat as-Sahil oder Sahel-Provinz), der in Mali, Niger und Burkina Faso operiert. Zwischen 2017 und 2019 arbeitete der ISGS wieder­holt mit JNIM zusammen, so dass in Sicher­heitskreisen und Forschung schnell von der »Sahelian exception« die Rede war, einer Ausnahme von dem ansonsten tödli­chen Konflikt zwischen IS und al-Qaida. Nach­dem sich beide Organisationen einige Jahre dann aber auch in der Sahel­zone be­kämpft haben, setzen sie heute auf Ent­span­nung. In Mali, Niger und Burkina Faso scheinen sie Einflusszonen abgesteckt zu haben, die von beiden Seiten respektiert werden.

Der IS Khorasan in Europa

Die Deeskalation zwischen dem IS und al-Qaida in der Sahelzone ist ein Hinweis, dass das jihadistische Milieu nicht dauerhaft fragmentiert bleiben muss. Doch auch dort, wo die alte Feindschaft fortbesteht, können schlagkräftige Gruppierungen entstehen, die zur Gefahr werden. Seit 2022 hat sich mit dem Islamischen Staat Khorasan ein IS-Ableger als besonders starke jihadistische Gruppierung etabliert. Er hat sein Opera­tionsgebiet von Afghanistan über Pakistan, Iran und die Türkei nach Russland ausge­weitet und wiederholt versucht, Anschläge in der westlichen Welt zu verüben. Zwar ist es dem IS Khorasan bisher offenbar nicht gelungen, ausgebildete Kämpfer nach Euro­pa zu schicken; doch leiten Anschlagspla­ner von Afghanistan aus Einzeltäter und kleine Gruppen in Europa dazu an, Atten­tate zu begehen.

Der IS Khorasan profitierte 2021 vom Rückzug der US-Truppen aus Afghanistan, die bis dahin die Organisation parallel zu den Taliban bekämpft hatten (zur Situation bis Anfang des folgenden Jahres vgl. SWP-Aktuell 8/2022). Zwar konnten die Taliban seitdem viele Erfolge im Kampf gegen den IS Khorasan verzeichnen, so dass die Zahl der von ihm begangenen Anschläge in Afghanistan bis 2023 stark ab­nahm. Den­noch verübte die Organisation weiterhin einzelne aufsehenerregende Attentate im Land, darunter mehrere gegen schiitische Ziele im Herbst und Winter 2023/2024. Zu­gleich wich der IS-Ableger unter wachsen­dem Druck nach Pakistan aus, wo er – im Schatten der un­gleich stärkeren Pakistani­schen Taliban (TTP), die den afghanischen Taliban und al‑Qaida nahestehen – ab 2022 zahlreiche verheerende Anschläge beging. Seine Kämp­ferzahl wird heute auf 2.000 bis 6.000 ge­schätzt, wobei die zweite Zahl viel zu hoch gegriffen sein dürfte.

Die Ausweitung des bewaffneten Kamp­fes auf Pakistan fiel dem IS Khorasan vor allem deshalb leicht, weil ihm neben Afgha­nen viele Pakistaner angehören. Die Füh­rungsspitze der Organisation bestand in den ersten Jahren mehrheitlich aus Pasch­tunen aus den pakistanischen Stammes­gebieten Bajaur, Orakzai und Khyber, in denen der IS auch heute noch stark ist. Die Ausdehnung der Operationen nach Iran wiederum – dort verübte der IS Khorasan zuletzt im Januar 2024 ein Attentat auf einen Trauerzug in Kerman anlässlich des vierten Todestags von Quds-Korps-Komman­dant Qassem Soleimani – wurde möglich, weil sich einige iranische Sunniten dem IS Khorasan angeschlossen hatten. Überdies machte sich bemerkbar, dass in den Reihen des IS viele Tadschiken vertreten sind, die eine dem Persischen verwandte Sprache sprechen. Unter den ethnisch-tadschiki­schen Afghanen, die es in Iran in großer Zahl gibt, können sie sich problemlos be­wegen. Wie stark Tadschiken im IS Khora­san vertreten sind, zeigte sich bei dem An­schlag auf ein Konzertgebäude nahe Mos­kau am 22. März 2024, bei dem mehr als 140 Menschen getötet wurden. Alle Attentä­ter waren Tadschiken. Sie sollen vor der Tat in die Türkei gereist sein, was auf die be­sondere Bedeutung des Landes für den IS Khorasan (und den IS insgesamt) hinweist. Istanbul dient der Organisation als ein wichtiger Knotenpunkt für die Anreise aus­ländischer Kämpfer nach Afghanistan, für die Finanzierung und vielleicht ebenso für Anschlagsplanungen.

Auch in Europa haben der IS Khorasan und der IS (die genaue Zuordnung wird oft nicht deutlich) zahlreiche Anschläge ge­plant und organisiert. Sie profitieren hier von einer großen Anhängerschaft unter jungen Islamisten, doch wirkt sich die nationale Zusammensetzung des IS Khora­san bis nach Deutschland, Frankreich, Benelux, Skandi­navien und Österreich aus. Überproportio­nal viele Terroristen und Terrorverdächtige der letzten Jahre stam­men ebenfalls aus Zentralasien und dem Kaukasus, zuletzt vor allem aus Tadschikis­tan und Tschetsche­nien. Viele von ihnen sind – so wie die meisten jihadistischen Einzeltäter – mit den Flüchtlingswellen von 2014 bis 2016 und ab 2022 nach Europa gekommen. Da Deutschland besonders viele Flüchtlinge aus diesen Regionen aufgenom­men hat, ist es auch von Anschlagsplanun­gen häufig betroffen. Besonderes Aufsehen erregte zu­letzt eine Gruppe von zwei Tad­schiken, einem Tschetschenen und einer Türkin, die Attentate auf den Kölner Dom und den Stephansdom in Wien geplant haben soll. Es gab auch Warnungen der deutschen und französischen Behörden vor Attacken des IS Khorasan während der Fuß­ball-EM und der Olympischen Spiele im Sommer 2024 – Großereignisse, bei denen die befürchteten Gewalttaten aber ausblieben.

Trotz aller Hinweise auf Gefahren wirkt die Bedrohung diffus, weil sich in Europa das Fehlen einer starken Organisation be­merkbar macht, der es gelingen könnte, über Kontinente hinweg Anschläge zu pla­nen, zu organisieren und durchzuführen. Schon seit den Angriffen in Paris und Brüs­sel 2015/2016 ist es dem IS nicht mehr ge­lungen, vorab ausgebildete Attentäter aus dem Nahen Osten in die westliche Welt zu entsenden, damit sie größere »organisierte« Anschläge verüben. Stattdessen setzte der IS ab 2015 auch auf »angeleitete« Attentate. Dabei nehmen Propagandisten und Planer der Organisation, die sich in Syrien, Afgha­nistan oder anderswo aufhalten, über Mes­sengerdienste wie vor allem Telegram Kon­takt zu potentiellen Terroristen auf und be­raten sie bei Planung und Organisation eines Anschlags. Dergestalt angebahnte Attacken haben aus IS-Sicht meist den Vorteil, dass sie mehr Opfer fordern und damit effekti­ver sind als reine Einzeltäteranschläge. Der IS verübte schon 2016 zahlreiche »angelei­tete« Attentate, darunter am 19. Dezember den Lkw-Angriff auf den Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz.

Der IS Khorasan übernahm diese Taktik ab 2019, als der IS infolge seiner Niederlage in Syrien stark geschwächt schien. Unter europäischen Jihadisten hatte die afghani­sche Gruppierung schon damals Anhänger gewonnen, von denen einige 2017 versuch­ten, an den Hindukusch zu reisen und sich dort der Organisation anzuschließen – fast immer erfolglos. Wie einflussreich der IS Khorasan auch in Deutschland ist, zeigte sich erstmals 2019/2020, als eine Gruppe von sieben Tadschiken in Nordrhein-West­falen verhaftet wurde und ihre Mitglieder später wegen verschiedener terroristischer Delikte teils längere Haftstrafen erhielten. Die Gruppe hatte unter anderem Verbin­dung zu einem tadschikischen IS-Khorasan-Funktionär in Afghanistan, der sie ideolo­gisch schulte.

Es folgten weitere Fälle, in denen die Gruppen oft kleiner und die Täter sehr jung, häufig noch minderjährig waren. Paradig­ma­tisch für die Vorgehensweise des IS Kho­ra­san war der Fall zweier Anhänger aus Bre­merhaven und Iserlohn. Sie wurden im Sep­tember 2022 verhaftet, als sich die Anzei­chen ver­dichte­ten, dass sich der Iserlohner Jihadist zu Angriffen auf Polizisten ent­schlossen hatte. Die Kommunikation fand über Tele­gram statt, wo die Jihadisten ver­schiedene Chat­gruppen unterhielten. Bei dem Planer handelte es sich um einen Tadschiken beim IS Khora­san in Afghani­stan, bei den Jihadisten in Deutschland um einen Tsche­tschenen und einen Deutsch-Kosovaren, die 17 und 18 Jahre alt waren. Möglich wurde die Festnahme der Terroris­ten, weil die USA deren Kommuni­kation abgefangen und die deutschen Be­hörden gewarnt hatten.

Schwierige Bekämpfung

Die wachsende Zahl von Anschlägen durch Einzeltäter stellt die Sicherheits­be­hörden in Deutschland und Europa schon jetzt vor große Probleme. Wenn darüber hinaus auch Organisationen wie der IS oder JNIM in Westafrika erstarken, wird die terroris­tische Bedro­hung noch stärker zunehmen.

Einzeltäterattentate sind in liberalen Demokratien schwierig zu verhindern, und die Häufung der letzten Jahre zeigt, wie schwer sich Polizei und Dienste damit hier­zulande tun. Dabei ist auffällig, dass es sich bei den Tätern in den meisten Fällen um Flüchtlinge handelt, die mehrheitlich aus Syrien und häufig aus Nordafrika und Afghanistan stammen. Auch wenn es sich bei den Jihadisten nur um eine kleine Min­derheit han­delt, zeigen sich hier die sicher­heitspoliti­schen Folgen weitgehend unkon­trollierter Migration aus Kriegsgebieten und Ländern mit hoher terroristischer Mobilisie­rung. Nur wenn Deutschland und Europa die in den letzten Jahren fast ungehinderte Ein­reise von Terroristen stoppen, besteht die Möglichkeit, dass sich die Situation wie­der verbessert. Aber auch ohne weiteren Zuzug wird es Jahre dauern, bis Polizei und Diens­te die bereits angekommenen Bevöl­ke­rungsgruppen so gut kennen, dass sie terro­ristische Einzeltäter früher identifi­zie­ren können. Es ist deshalb dringend not­wendig, die deutschen Sicherheitsbehörden und vor allem die Nachrichtendienste bei der Früh­erkennung zu stärken.

Es wäre außerdem wünschenswert, dass Deutschland und Europa durch Auslands­einsätze jihadistische Organisationen in Nahost, Süd- und Zentralasien sowie Afrika militärisch bekämpfen, um deren Erstarken und Angriffe auf Europa schon im Vorfeld zu verhindern. Dies ist in den letzten Jah­ren fast unmöglich geworden, weil infolge der Abzüge aus Afghanistan, Mali und Niger kaum mehr westliche Truppen in den Gebieten stationiert sind, in denen mit IS Khorasan und JNIM besonders gefährliche Gruppierungen operieren. Hinzu kommt, dass 2024 auch die USA längst nicht mehr so präsent sind wie früher. Es zeigt sich jetzt schon, dass Jihadisten diese Gelegen­heit nutzen, um weiter vorzudringen. Des­halb dürfte es in Zukunft immer wieder notwendig werden, gegen Terroristen weit jenseits des europäischen Kontinents militä­risch und geheimdienstlich vorzugehen. Deutschland und Europa sollten also ihre militärischen Fähigkeiten beim Lufttrans­port und dem Einsatz von Spezialkräften bewahren und weiter ausbauen.

Wo sich Anschläge in Europa vereiteln ließen, wurde darüber hinaus deutlich, wie wichtig die US-Behörden bei der Terroris­musbekämpfung auf dem Kontinent sind. In allen bekannten Fällen der letzten Jahre kam die erste Information von FBI, NSA oder CIA. Das ist nicht nur ein Hinweis auf die einzigartige Qualität der amerikani­schen Stellen, sondern auch auf die fehlen­den Fähigkeiten der Europäer. Deutschland macht im Vergleich zu Frankreich und Großbritannien durch besonders schwache Dienste auf sich aufmerksam. Wie wehrlos die Europäer ohne amerikanische Hilfe sind, zeigte sich zwischen 2014 und 2017, als die US-Behörden selbst Probleme mit der technischen Informationsgewinnung hat­ten und eine verheerende Anschlagswelle des IS die Folge war. Es ist deshalb dringend geboten, die deutschen Nachrichtendienste vor allem in der Überwachung von Tele­kommunikation zu stärken.

Dr. Guido Steinberg ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Afrika und Mittlerer Osten.

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