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Die EU-Kommission als sicherheits- und verteidigungspolitische Akteurin

Möglichkeiten, Grenzen und Folgen der Europäisierung des Politikfelds

SWP-Aktuell 2019/A 34, 07.06.2019, 8 Seiten

doi:10.18449/2019A34

Forschungsgebiete

Die internationale Ordnung befindet sich im Umbruch. Daraus ergibt sich die For­derung, dass die Europäische Union »weltpolitikfähig« werden sollte – dies die Worte des scheidenden Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker. Die Organe der EU sind sich einig, dass dies nur gelingen kann, wenn die Sicherheits- und Verteidigungs­politik der Union gestärkt wird. Wie das jedoch geschehen sollte, welche Strukturen erforderlich sind und wer dies entscheiden soll, darüber herrscht Dissens. Im Som­mer 2019 wird die nächste Europäische Kommission gebildet. Angesichts dessen erscheint es dringlich, die verschiedenen Optionen und deren Folgen für die bestehenden Formen der Zusammenarbeit nationaler und europäischer Verteidigungs­politiken zu diskutieren.

In der ausklingenden Legislaturperiode ist die Europäische Kommission immer stärker in einem Politikfeld in Erscheinung getre­ten, das bislang strikt intergouvernemental ausgerichtet war: der Sicherheits- und Verteidigungspolitik.

Schon in seinen »Politischen Leitlinien für die nächste Europäische Kommission« hatte Kommissionspräsident Juncker in sei­ner Antrittsrede vor dem Europäischen Par­lament am 15. Juli 2014 »ein Mindestmaß an integrierten Verteidigungskapazitäten« gefordert. Im Zuge der Weißbuch-Debatte über die Zukunft der EU legte die Juncker-Kommission im Juni 2017 ein gesondertes »Reflexionspapier über die Zukunft der europäischen Verteidigung« vor. Darin stell­te sie ihre Überlegungen zu den strukturellen Trends zur Diskussion, die sie als maß­geblich für eine europäische Verteidigungs­politik bis zum Jahr 2025 ansah. Bereits in dem Europäischen Verteidigungs-Aktions­plan, den die Kommission im November 2016 vorgelegt hatte, wurde aufgezeigt, wie ein solcher Europäischer Verteidigungsfonds (EVF) zusammen mit anderen Maß­nahmen geeignet sein könnte, die Effizienz und die Synergie bei Verteidigungsausgaben der Mitgliedstaaten zu steigern und so eine innovative Rüstungsindustrie zu fördern. In diesem Plan verpflichtete sich die Kommission dazu, die gemeinsamen Anstrengungen der Mitgliedstaaten zum Aufbau der Verteidigungsfähigkeiten »zu ergänzen, zu verstärken und zu konsolidieren«. Ziel müsse sein, die Europäische Union in die Lage zu versetzen, den Herausforderungen im Sicherheitsbereich zu begegnen. Dar­über hinaus solle in der gesamten Union eine wettbewerbsfähige, innovative und effiziente Verteidigungsindustrie gefördert werden.

Hintergrund der Initiativen

Die Gründe dafür, warum verstärkte euro­päische Kooperationsanstrengungen not­wendig sind, liegen auf der Hand: Das bis­herige politisch-strategische Gleichgewicht der EU wurde durch eine Reihe interner wie externer Faktoren nachhaltig verändert. Zu den inneren Impulsen gehörten das bri­tische Votum für den EU-Austritt ebenso wie der Erfolg populistischer Bewegungen und Parteien, die auch Ausdruck eines gesteigerten Sicherheitsbedürfnisses der Menschen sind. Mit Donald Trump wieder­um wurde erstmals ein US‑Präsident ver­eidigt, der das Solidaritätsversprechen der USA gegenüber ihren Nato-Verbündeten immer wieder als »unfair« bezeichnete. Zugleich wird die globale Sicherheitslage mehr und mehr von hybriden Bedrohungen und länderübergreifend agierenden terro­ristischen Akteuren bestimmt. Schließlich verspricht eine Europäisierung der bislang nationalen Rüstungssektoren ökonomische Effizienzgewinne und somit einen unmit­telbar erkennbaren europäischen Mehrwert in Form effizienterer Rüstungs- und Inves­titionssteuerung und von Synergieeffekten. Dabei ist gemeinsam die Frage zu beantworten, wie neuen Bedrohungen begegnet werden soll, beispielsweise Bedrohungen der Cybersicherheit, des Außengrenz­schutzes oder durch militärische Nachrichtendienste.

Rüstungspolitik als Einfallstor

Das »Einfallstor« der Europäischen Kommis­sion in dieses Politikfeld ist die Rüstungs- und Industriepolitik. Bereits 2004 wurde die Europäische Verteidigungsagentur (EVA) gegründet und mit der Aufgabe be­traut, »Maßnahmen zur Stärkung der in­dustriellen und technologischen Basis des Verteidigungssektors« (Art. 45 Abs. 1 lit. e EU-Vertrag) zu fördern und dabei wenn nötig auch die Europäische Kommission einzubeziehen. Wirtschaftlich spricht viel für eine stärkere Zusammenarbeit der EU-Mitgliedstaaten in der Rüstungsindustrie. Der Mangel an Zusammenarbeit bei Vertei­digung und Sicherheit verursacht vermeidbare jährliche Kosten, die auf rund 21 Mil­liarden Euro geschätzt werden. Folglich müssten die EU-Mitgliedstaaten damit auf­hören, wie bisher 80 Prozent ihrer mili­tärischen Ausrüstung und Fähigkeiten national zu beschaffen und über 90 Prozent ihrer Forschungs- und Technologie-Anstren­gungen im eigenen Land zu unternehmen. Für eine Zusammenarbeit sprechen auch sicherheitspolitische Gründe: Die Fragmentierung im Verteidigungssektor hat unnötige Doppelungen zur Folge und beeinträchtigt die Einsatzfähigkeit der Streitkräfte.

Die nationalen Rüstungsmärkte waren und sind jedoch keine normalen offenen Gütermärkte mit einheitlicher Regulierung, beispielsweise im Wettbewerbs-, Beihilfen- und Vergaberecht. Ein rein ökonomisches Herangehen an Marktöffnung, Liberalisie­rung und Europäisierung der Regulierung trifft derzeit noch auf ein markante Grenze: Laut Artikel 346 des Vertrags über die Ar­beitsweise der Europäischen Union (AEUV) sind die »wesentlichen Sicherheitsinteressen« eines Mitgliedstaates zu beachten, unter die auch seine nationalen Souve­ränitätsvorrechte fallen. In diesen Vorrech­ten sind die mitgliedstaatlichen Zuständig­keiten und die Möglichkeiten verankert, Ausnahmeregelungen für den Sonder­bereich der Rüstungsgüter zu treffen. Zu­gleich wird in Artikel 41 EU-Vertrag vor­gegeben, »Maßnahmen mit militärischen oder verteidigungspolitischen Bezügen« nicht aus dem EU-Budget zu finanzieren. Deren Finanzierung bleibt also in der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten.

Die EU-Kommission bemüht sich darum, die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik auf- und auszubauen, indem sie die rüstungsbezogene Industrie-, Be­schaffungs- und Forschungspolitik der Mit­gliedstaaten integriert. Sie setzt insofern an dem höchst sensiblen Schnittpunkt von intergouvernementaler Kooperation und mitgliedstaatlicher Abstimmung einerseits und gemeinschaftlicher Integration und Regulierung einer Industriesparte andererseits an, die im europäischen Binnenmarkt eine besondere Rolle hat; und dies bei einer starken Rolle der supranationalen EU-Organe. Die Kommission strebt mit ihren aktuellen Initiativen offensichtlich an, den Schwerpunkt der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu verschieben: von einem mitgliedstaatlich zu einem supra­national dominierten Politikfeld. Nicht ohne Grund stützt sie ihre Vorschläge zur Errichtung eines Europäischen Ver­teidi­gungsfonds – und damit zur Öffnung der nationalen Rüstungsmärkte – auf die Arti­kel 173 und 182 AEUV als Rechtsgrundlage. Darin sind industriepolitische und for­schungspolitische Förderung als Möglichkeit vorgesehen. Sie versucht auf diese Weise, die Begrenzungen der europäischen Vertei­digungspolitik und die bestehenden mit­gliedstaatlichen Vorbehalte zu umgehen und ihre Legislativvorschläge mit binnenmarktbezogenen Ansatzpunkten zu begründen.

Die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP)

Im November 2016 hatten sich die Außen- und Verteidigungsminister der EU-Mitglied­staaten auf einen »Umsetzungsplan für Sicherheit und Verteidigung« geeinigt, ein­schließlich Zielvorgaben und konkrete Maßnahmen. Danach sollte die EU künftig in der Lage sein, (a) auf externe Konflikte und Krisen zu reagieren, sobald diese auftreten, (b) die Kapazitäten ihrer Partner zu stärken und (c) die Union und ihre Bürgerinnen und Bürger zu schützen. Kon­kreten Maßnahmen sollen die Verteidigungszusammenarbeit weiter vertiefen:

(1) Im Rahmen einer »koordinierten jähr­lichen Überprüfung der Verteidigung« (Co­ordinated Annual Review on Defence – CARD) soll für größere Transparenz bei der Verteidigungsplanung gesorgt werden.

(2) An der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit (PESCO), die der Rat im Dezember 2017 geschaffen hat, nehmen 25 Mitgliedstaaten teil. Sie haben sich dazu bereit erklärt, weitergehende gegenseitige Verpflichtungen einzugehen und Vertei­digungsfähigkeiten gemeinsam zu ent­wickeln. 34 Kooperationsprojekte sind seit­her bestimmt worden, die in unterschied­lichen Konstellationen durchgeführt wer­den. Schließlich sollen die militärische Kri­senreaktion der EU, ihre zivilen Fähigkeiten sowie die Planung und Durchführung von Missionen verbessert werden.

(3) Im Juli 2016 hatten der Präsident des Europäischen Rates, der Kommissions­präsident und der Generalsekretär der Nato eine gemeinsame Erklärung zu verstärkter Zusammenarbeit von EU und Nato unter­zeichnet. Neben der Entwicklung komplementärer militärischer Fähigkeiten und einer starken Verteidigungsindustrie wollen beide Organisationen künftig unter ande­rem bei der Abwehr hybrider Bedrohun­gen und bei der Cybersicherheit kooperieren und vermehrt gemeinsame Übungen ab­halten.

(4) Der am 7. Juni 2017 ins Leben gerufene Europäische Verteidigungsfonds fördert Projekte zur Kooperation in Forschung so­wie in Entwicklung und Beschaffung: Im forschungsbezogenen Teil hat die Kommission 2017 erstmals Fördermittel in Höhe von 25 Millionen Euro angeboten, die in die gemeinsame Forschung zu innovativen Ver­teidigungstechnologien und ‑gütern fließen sollen; die Mittel stammen vollständig und unmittelbar aus dem EU-Haushalt. Bis Ende 2019 stehen den Mitgliedstaaten insgesamt 90 Millionen Euro zur Verfügung; in der nächsten Finanzperiode von 2021 bis 2027 soll dieser Betrag deutlich auf insgesamt 4,1 Milliarden Euro erhöht werden. Für Vorhaben in Entwicklung und Beschaffung bietet die EU-Kommission eine Kofinanzierung an und steuert in den Jahren 2019 und 2020 500 Millionen Euro bei. Für die Zeit nach 2020 ist ein größer angelegtes Programm vorgesehen, das jährlich mit rund 1 Milliarde Euro ausgestattet sein soll (insgesamt mit 8,9 Milliarden Euro). Der Fonds soll aber nur maximal 20 Prozent der Kosten für die teure Entwicklung von Systemprototypen finanzieren dürfen, womit er wie erwogen die Funktion eines Katalysators wahrnehmen würde. Er könnte so dafür sorgen, dass nach 2020 insgesamt 5 Milliarden Euro pro Jahr in diese Ent­wicklung investiert werden. In Frage kom­men dabei ausschließlich gemeinsame Projekte von mindestens drei Unternehmen aus zwei Mitgliedstaaten. Allein die Kom­mission soll entscheiden, welche Projekte finanziert werden. Die Anreize sollen die Mitgliedstaaten veranlassen, bei der Ent­wicklung und Beschaffung von Verteidigungsgütern und ‑technologien enger zu kooperieren. So könnten sie etwa gemeinsam in die Entwicklung von Drohnen­technologie oder Satellitenkommunikation investieren oder Hubschrauber in großer Stückzahl ankaufen und damit ihre Aus­gaben reduzieren. Ein Teil des Budgets ist zweckgebunden und Projekten vorbehalten, an denen kleine und mittlere Unternehmen (KMU) aus mehreren Ländern teilnehmen.

Die Vergemeinschaftung zu einer Europäischen Verteidigungsunion

Die EU-Kommission zielt mit ihren Initia­tiven zum Aufbau einer Europäischen Ver­teidigungsunion darauf, die Sicherheits­politik auf behutsame Weise zu vergemein­schaften. Schon Mitte 2017 hatte sie durch­blicken lassen, wie sie sich die weitere Europäisierung dieses Politikfelds vorstellt. In ihrem »Reflexionspapier über die Zu­kunft der europäischen Verteidigung« hat sie drei Szenarien vorgestellt: eine intergouvernementale Ad-hoc-Fortsetzung der gegenwärtigen Zusammenarbeit, eine um­fassende Reform mit dem Ziel, einen supra­nationalen Politikbereich »Gemeinsame Sicherheit und Verteidigung« zu schaffen, und ein mittleres Szenario, das eine zwi­schen der EU und ihren Mitgliedstaaten »geteilte Verantwortung für Sicherheit und Ver­teidigung« und eine engere Zusammen­arbeit beider Akteure vorsieht.

Dieses letztere, realpolitische Szenario scheint die Kommission mit ihren Vorschlä­gen anzuvisieren. Insbesondere Fortschritte in der gemeinsamen Rüstungspolitik wären demnach erster Ansatzpunkt einer inten­sivierten verteidigungspolitischen Zusammenarbeit und Verflechtung sowie Gegen­stand der weiteren Reformschritte, die die Kommission initiieren wird.

Dem traditionellen Vorgehen der Euro­päischen Kommission entspricht es, sich zunächst auf ökonomische Aspekte einer Europäisierung der Rüstungsindustrien zu fokussieren und die Vorteile für alle Mit­gliedstaaten zu betonen. Die Öffnung und Liberalisierung bislang verschlossener oder unilateral regulierter nationaler Märkte und die Schaffung eines gemeinsamen europäischen Marktes sind klassische Auf­gaben der Europäischen Kommission, und das seit den ersten Integrationsschritten in der Montanunion. Hier verfügt sie über umfassende politische Erfahrungen und das Wissen darüber, welche Regulierung und welches administrative Vorgehen erforderlich sind. Das europäische Wettbewerbs- und Beihilfenrecht wird in diesem Kontext zu einem Instrument, um nationale Mono­pole und geschützte Märkte aufzubrechen und den jeweiligen Politikbereich für eine europäische Regulierung zu öffnen; so war es der Fall in der Energiepolitik oder bei staatlichen Dienstleistungen wie Post und Telekommunikation. Die Möglichkeit, dank ihres Initiativmonopols »agenda setting« zu betreiben, hilft der Kommission dabei, ihre Vorstellungen auf der politischen Tagesordnung zu platzieren. Mit europäischen Fördertöpfen kann sie finanzielle Anreize geben, um auf diese Weise die Zurück­haltung und Skepsis zumindest einiger Mitgliedstaaten zu überwinden. Auch die Fördermittel aus dem Verteidigungsfonds sollen das Interesse der Mitgliedstaaten an einer weiteren Europäisierung der Vertei­digungspolitik verstärken.

Die Kommission als Hüterin der Verträge will allerdings eigenständig über die Aus­wahl der zu fördernden Projekte und Maß­nahmen entscheiden, und zwar auf der Grundlage der EU-Haushaltsordnung. Dabei ist sie bestrebt, die Mitgliedstaaten, eine Gruppe unabhängiger Sachverständiger, die Europäische Verteidigungsagentur und den Europäischen Auswärtigen Dienst ein­zubinden. Die Vergabe europäischer För­dermittel ist in der Regel an zwei Kriterien gebunden: die Annäherung an gemeinsame europäische Ziele sowie die Einhaltung der europäischen Vergaberichtlinien, Ab­rechnungsregeln und Belegpflichten. Die Zahlung europäischer Fördergelder an öffentliche oder auch an private Empfänger in den Mitgliedstaaten dient also im Kon­text der Sicherheitspolitik dazu, nationale Rechtsetzung in diesem Politikfeld und dessen Regulierung anzugleichen und mög­lichst zu harmonisieren.

Harmonisierung der Richtlinien für die in der EU produzierten Rüstungsgüter

Die Diskussion über eine Europäisierung und Liberalisierung der mitgliedstaatlichen Rüstungsmärkte schließt zwei Themenkomplexe ein: die Koordinierung und An­gleichung der mitgliedstaatlichen Regulierung nichtdiskriminierender Beschaffungs­vorhaben sowie gemeinschaftliche Regeln und Normierungen für die Produktion und den Verkauf von Rüstungsgütern. Auf einem europäischen Binnenmarkt für Rüs­tungsgüter sollte nach gemeinschaftlichen Regeln produziert und verkauft werden und sollte die Möglichkeit gegeben sein, Vorprodukte zu erwerben; die Hersteller bzw. Konkurrenten in diesem Binnenmarkt müssen gleich behandelt werden.

Eine Europäisierung müsste demzufolge mit einer Öffnung der nationalen Rüstungs­märkte einhergehen, einer umfassenden Liberalisierung des innergemeinschaft­lichen Handels. Einzuschließen wären eine Beihilfen-, eine Wettbewerbs- bzw. Fusions­kontrollpolitik, die sich an rein ökonomi­schen Kriterien orientieren. Mit Blick auf die Exporte in Drittstaaten müsste man auch die Richtlinien für jene Rüstungsgüter harmonisieren, die in der EU produziert werden.

Nicht ohne Grund haben die Mitgliedstaaten bislang streng darauf geachtet, dass die Spielräume für ihre nationale Entscheidungsfindung im Sinne von Artikel 346 AEUV gewahrt bleiben. Die EU-Kommission bemüht sich denn auch, die für den Handel mit Rüstungsgütern geltenden nationalen Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten anzugleichen, ohne deren Spielräume einzuschränken und deren nationalen Einschätzungen vorzugreifen.

Die Öffnung der nationalen Rüstungsmärkte würde zwangsläufig die Möglich­keiten der Staaten verringern, Einfluss auf ihre nationale Rüstungsindustrie zu neh­men und sie zu kontrollieren. Nur noch gemeinsame europäische Vorgaben würden diesen Markt regulieren. Nationale Reser­vate, Sonderregelungen oder politische Vorgaben wären in einem europäisierten Rüstungsgütermarkt gar nicht mehr oder kaum noch möglich. Im sensiblen Bereich der Rüstungsindustrie sind Entscheidungen stets auch politisch und strategisch. Das gilt beispielsweise für Entscheidungen darüber, konkurrierende Unternehmen zusammenzuschließen, staatliche Zuschüsse oder den Verkauf von Waffen an Drittstaaten zu gewähren oder zu verbieten bzw. Waffenexporte zu sanktionieren. Insofern müssen politische, strategische und institutionelle Folgen mitbedacht werden. Die entsprechende Zuständigkeit ließe sich nur im Zuge einer weitreichenden Europäisierung komplett auf die EU übertragen.

Verteilung von Macht und Zuständigkeiten

Für die Europäisierung der Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist die alles entscheidende Frage, wie die Macht und die Zustän­digkeiten zwischen den EU-Organen und den mitgliedstaatlichen Institutionen ver­teilt werden sollen. Drei Modelle sind denkbar:

  • Regulierung, Kontrolle und Sanktionierung von Verstößen bei der Europäischen Kommis­sion zentralisieren

In der Kommission könnte eine neue Gene­raldirektion (GD) als eigenständiger Akteur in der europäischen sicherheits- und ver­teidigungspolitischen Zusammenarbeit geschaffen werden, eine Art Ministerium für europäische Verteidigung und Rüstung. Dieses Vorhaben, das vom Europäischen Parlament unterstützt wird, würde zu­nächst bedeuten, dass die erforderlichen institutionellen und administrativen Struk­turen innerhalb der Kommission geschaffen werden. Die neue Generaldirektion würde nicht nur über die rechtlichen Zuständigkeiten, sondern auch über die administra­tiven Ressourcen verfügen, die nötig sind, um den neuen EVF, die Vergabe und Ver­wendung der EU-Fördergelder und die Öff­nung der Rüstungsmärkte zu steuern, zu überwachen und mit anderen Akteuren und Politikbereichen zu koordinieren. So würde die Europäische Kommission zu einer eigenständigen Institution mit der Aufgabe, die europäische Verteidigungs- und Rüstungspolitik zu steuern, zu regu­lieren und zu kontrollieren. Die Lenkung europäischer Rüstungsprojekte ist mit den PESCO-Projekten bereits angelaufen; dar­über hinaus könnte die Kommission wei­tere strategische Weichenstellungen vor­nehmen. An der Abwicklung der PESCO-Projekte will sie beteiligt und konsultiert werden, bevor sie über deren Förderfähig­keit mitentscheidet.

Auf der Grundlage klarer Vorgaben gilt es zu entscheiden, für welche Rüstungs­projekte die begrenzten Finanzressourcen eingesetzt werden und welche Forschungs- und Entwicklungsleistungen Priorität haben sollen. Geht es darum, die Ausstattung für Krisen- und Auslandseinsätze zu verbessern, also um die ersten Schritte in Rich­tung einer europäischen Eingreiftruppe, oder geht es um Projekte, die auf eine euro­päische Landesverteidigung gegen eine direkte oder mittelbare äußere Bedrohung einzelner Mitgliedstaaten abzielen, wie zum Beispiel eine europäische Raketenabwehr? Der Aufbau einer Generaldirektion würde mittelfristig auch dazu führen, dass die politische Eigenständigkeit der Kommission in der europäischen Sicherheits-, Verteidi­gungs- und Rüstungspolitik gestärkt wird.

Vorarbeiten für die Schaffung einer eigenständigen Generaldirektion »Verteidigung« hat die Kommission, die nach den Wahlen zum Europäischen Parlament aus­scheiden wird, bereits geleistet. In verschiedenen Generaldirektionen wurden Abtei­lungen neu eingerichtet, die sich mit Fra­gen befassen, die einen expliziten sicher­heits- und verteidigungspolitischen Bezug haben: etwa in der Generaldirektion Bin­nenmarkt eine Abteilung zur Weltraum­politik und ‑sicherheit oder in der General­direktion Kommunikationsnetze zur Cyber­sicherheit. Entsprechend kreisen die Über­legungen in Brüssel um die Frage, wie eine mögliche neue Generaldirektion zugeschnitten werden soll. Die Herausforderungen der inneren Sicherheit, die zusehends an Bedeutung gewinnen, könnten in einer solchen neuen GD mit den klassischen Themen der äußeren Sicherheit verknüpft werden. Das würde zugleich auch die Akzeptanz für eine Institutionalisierung der Sicherheits- und Verteidigungspolitik auf EU-Ebene erhöhen. Vorstellbar wäre etwa, die Zuständigkeiten für »Sicher­heits­industrie« und »Terrorismus« aus der GD Migration und Inneres herauszulösen und in die künftige GD »Verteidigung« zu über­führen. Auch die Referate, die sich mit Fra­gen der Cybersecurity befassen, könnten dort angesiedelt werden. Schließlich be­stünde die Möglichkeit, das Spektrum der Zuständigkeiten der neuen GD um Themen der Weltraum-Industrie zu erweitern. Ent­scheidend für den Zuschnitt einer künftigen GD »Verteidigung« wird sein, wie breit ihre politischen Kompetenzen angelegt werden: Eine neue Generaldirektion sollte nicht aufgebaut werden, um lediglich ein oder zwei Programme zu verwalten, etwa den EVF und Galileo.

  • Die Europäische Verteidigungsagentur mit neuen, zusätzlichen Regulierungs- und Kontrollaufgaben betrauen

Die EVA soll schon heute Rat und Mitglied­staaten unterstützen und die Verteidigungs­fähigkeit der EU verbessern. Sie erstellt gegenwärtig vornehmlich Studien über die Machbarkeit von Rüstungskooperationen und schafft somit allenfalls mittelbar die Voraussetzungen für einen europäischen Rüstungsbinnenmarkt. Die Agentur ver­waltet noch keine großen Rüstungsprojekte und könnte in dieser Hinsicht deutlich aufgewertet werden. Dadurch würde die Rolle der Europäischen Kommission bei der Leitung und Kontrolle der Agentur eben­falls aufgewertet, während die Einflussmöglichkeiten und Kontrollrechte der Mitgliedstaaten in den Verwaltungsgremien der Agentur beschnitten würden. Die Agentur müsste aus dem EU-Budget finanziert werden, womit sich auch ihre finanzielle Autonomie gegenüber den Mitgliedstaaten unterstreichen ließe. Die EVA müsste mit anderen Worten zu einer Agentur unter Leitung der Kommission umgestaltet wer­den. Die Mitgliedstaaten würden dennoch zumindest auf administrativer Ebene in die Arbeit der Agentur eingebunden bleiben, zum einen über die nationalen Experten, die aus den Mitgliedstaaten an die Agentur entsandt werden, und zum anderen über die Aufsichtsgremien der Agentur, in denen sie weiterhin vertreten wären.

  • Schaffung einer »Doppelhut-Institution«

Diese Option würde die Einrichtung einer neuen europäischen Verteidigungsinstitu­tion vorsehen, die entweder in den beste­henden Europäischen Auswärtigen Dienst (EAD) integriert oder als eigenständige Behörde dem/der neuen Hohen Vertreter/in der EU für die Außen-, Sicherheits- und künftig Verteidigungspolitik unterstellt wäre. Die amtierende Hohe Vertreterin Federica Mogherini scheint diese hybride Konstruktion zu bevorzugen. Auch eine solche EU-Verteidigungsbehörde würde von Beamten der Europäischen Kommis­sion und aus den Mitgliedstaaten bestückt. Damit hätten die nationalen Außen- und Verteidigungsministerien ein gewisses Maß an Einblick und wären politisch ein­gebunden.

Diese Einbindung könnte einerseits zwar die Kohärenz der EU- und der mitglied­staatlichen Verteidigungspolitiken festigen, andererseits aber auch zu ähnlichen Pro­blemen führen, wie sie die Arbeit des EAD beeinträchtigen – nationale Interessen würden als Bremse wirken, und bei strit­tigen Fragen gäbe es entweder nationale Alleingänge oder man würde sich auf eine Politik des kleinsten gemeinsamen Nenners verständigen. Eine eigenständige und hand­lungsfähige europäische Verteidigungs­union wäre in dieser Hybridkonstruktion weder selbstverständlich noch würde sie sich zwangsläufig ergeben.

Die vorgestellten drei Modelle, die eine Liberalisierung der nationalen Rüstungsmärkte und eine Europäisierung der Ver­teidigungspolitiken institutionell absichern könnten, würden sich sehr unterschiedlich auswirken auf die Verteilung der Macht und der Zuständigkeiten zwischen der Europäischen Kommission und den Mit­gliedstaaten. Im Zentrum würde immer die politische Stärke und Selbstständigkeit der neuen Kommission in diesem neuen Politikbereich stehen, oder – von einer anderen Perspektive aus betrachtet – die Reichweite der Möglichkeiten, die den Mitgliedstaaten für Kontrolle und Einflussnahme verbleiben.

Die Bildung der neuen Kommis­sion als Richtungsentscheidung

Im Sommer 2019 wird die nächste Euro­päische Kommission gebildet. Dabei wird sich die Möglichkeit eröffnen, neben der personellen Zusammensetzung auch die internen Strukturen der Kommission zu reformieren. In diesem Kontext stellt sich auch die Frage, welche der drei vorgestellten Optionen am sinnvollsten und erfolg­versprechendsten ist, wenn es gilt, die europäische sicherheits-, verteidigungs- und rüstungspolitische Zusammenarbeit weiter­zuentwickeln. Die weitreichendsten Schrit­te zur Europäisierung und Vergemeinschaftung dieses Politikbereichs wären sicherlich möglich, wenn eine neue GD »Verteidigung« geschaffen und der Europäischen Kommission auf politischer und adminis­trativer Ebene eine umfassende Lenkungs- und Entscheidungsautonomie zugestanden würde. Der Ausbau und die Stärkung der bestehenden Verteidigungsagentur würden hingegen wohl bedeuten, vorerst auf ein politisches Zusammenwachsen der mit­gliedstaatlichen Verteidigungspolitiken zu verzichten.

Die Überlegungen der scheidenden Juncker-Kommission passen nicht zu den deutschen Vorstellungen einer Euro­päischen Verteidigungsunion. Aus deut­scher Sicht soll die Zusammenarbeit in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik inter­gouvernemental bleiben und von den Mit­gliedstaaten gesteuert werden. Die mit der PESCO ausgelöste Dynamik mitglied­staat­licher Kooperation lässt diesen Ansatz gegenwärtig zielführend erscheinen. Die Politik darf gleichwohl frühere Erfahrungen nicht vergessen: Zwischen den Mitglied­staaten in der Vergangenheit vereinbarte Ko­operationen sind bisher immer wieder zum Erliegen gekommen. Weitgehend un­genutzt blieb etwa der im März 2003 ein­gesetzte Capability Development Mechanism. Die Mitgliedstaaten fanden sich nur selten bereit, Lücken in ihrer nationalen Verteidigungsfähigkeit offenzulegen. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund sollte die Bundesregierung auf die Bildung einer neuen EU-Kommission drängen, die sich wie ihre Vorgängerin als ambitionierte Akteurin versteht. Berlin sollte auch von der nächsten Kommission Pläne zur Euro­päisierung der Sicherheits- und Verteidigungspolitik fordern und den Weg in diese Richtung gemeinsam mit der Kommission beschreiten.

Die amtierende Kommission bevorzugt einen realpolitischen Mittelweg, verbunden mit einer stärkeren Entscheidungs- und Handlungsautonomie der Kommission. Dies würde einerseits die Mitgliedstaaten nicht überfordern, sondern einbeziehen, ande­rerseits würden alle Optionen für eine weit­reichende Europäisierung zu einem späte­ren Zeitpunkt offengehalten.

Es sollte klar sein, dass die Europäisie­rung mittel- bis langfristig dazu führen wird, dass Kompetenzen übertragen wer­den und die Mitgliedstaaten auf rüstungs­politische Sonderreservate der EU verzich­ten müssen. Wenn die administrative Lei­tung und Kontrolle des neuen EVF über­tragen wird und die Zuständigkeiten der Kommission auf eine rein ökonomische und wettbewerbsrechtliche Regulierung eines europäischen Rüstungsbinnenmark­tes begrenzt werden, wird in der Folge die Kommission auch politisch und strategisch gestärkt. Je autonomer sie über die Gewäh­rung von Fördergeldern und Projektmitteln für Rüstungsprojekte verfügen darf, desto schneller wird dieser Prozess verlaufen. Umgekehrt wird er umso langsamer ver­laufen, je mehr und je umfassendere Kon­troll- und Einflussmöglichkeiten sich die Mitgliedstaaten sichern können. Außer Frage steht aber, dass sich die EU und die Kommission verteidigungs- und rüstungs­politische Ziele setzen, dass sie strategische Interessen verfolgen und den hierfür erforderlichen administrativen Unterbau schaffen werden. Über die notwendigen Instrumente – Fördergelder und Regulie­rungsmacht – verfügt die Europäische Kommission bereits. Und sie hat auch das Know-how, wie sie sich neue Politikfelder er­schließen und bestehende Zuständig­keiten sukzessive ausbauen kann.

Dr. Ronja Kempin ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe EU / Europa.
Dr. Peter Becker ist Wissenschaftler der Forschungsgruppe EU / Europa.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2019

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