In einem geopolitischen Umfeld, das von einem dynamischen Technologiewettlauf geprägt ist, sollte der Europäische Rat die Kommission mandatieren, eine digitale Binnenmarktaußenpolitik mit klarer transatlantischer Ausrichtung zu vertreten, empfiehlt Annegret Bendiek.
Die in den digitalen Bereichen der Wirtschaft anfallenden riesigen Datenmengen werden derzeit fast ausschließlich von amerikanischen sowie zunehmend chinesischen, global agierenden Unternehmen verwaltet. Um ihre Eigenständigkeit behaupten zu können, wird die Europäische Union zukünftig noch deutlicher als bisher einen dritten Weg jenseits einer neoliberalen Marktlogik nordamerikanischer Globalunternehmen und eines chinesischen digitalen Autoritarismus finden müssen. Um diesem Ziel näherzukommen, sollte der Europäische Rat unter der deutschen Ratspräsidentschaft die EU-Kommission beauftragen, ihre Digitalagenda an klaren Prinzipien auszurichten und transatlantisch zu koordinieren. Denn der digitale Binnenmarkt ist zutiefst im transatlantischen Wirtschaftsraum verwurzelt, und nur gemeinsam mit den USA und Kanada erlangt die EU die nötige Marktmacht, um ihre Prinzipien global mit Nachdruck vertreten zu können. Auch sollte der Rat den Hohen Vertreter für Außen- und Sicherheitspolitik Josep Borrell, mandatieren, eine auf dieser Digitalagenda basierende Binnenmarktaußenpolitik zu vertreten.
Die Kompetenzen für Europas digitale Selbstbehauptung liegen derzeit fragmentiert bei den Mitgliedstaaten, ferner bei der EU-Kommission in der Verantwortung der Kommissare für den Binnenmarkt, Thierry Breton, für Wettbewerb- und Industriepolitik, Margarete Vestager, für Handel, Phil Hogan sowie beim Hohen Vertreter. Nun geht es darum, die Kräfte in der Kommission zu bündeln und international nachdrücklich für europäische Werte und Normen sowie technische Standards einzutreten.
Eine Selbstbehauptung der EU in der Digitalpolitik könnte, so eine vielfach formulierte Angst, zu geopolitischen Zerwürfnissen bzw. Gegenmaßnahmen der Vereinigten Staaten, etwa der Aufkündigung der militärischen Rückversicherung führen. Diese nicht ganz unrealistische Befürchtung bei der gegenwärtigen US-Administration unter dem Präsidenten Donald Trump sollte Grund genug für die EU sein, eine transatlantisch ausgerichtete Digitalagenda noch vor einem Regierungswechsel in Washington auszuarbeiten. Drei Schwerpunkte für eine solche Agenda bieten sich an.
Aktuelle Herausforderungen wie die Bekämpfung der COVID-19-Pandemie können effektiver, weil vertrauenswürdiger, mit EU-zertifizierter Informationstechnologie gelöst werden, die europäischen Datenschutz- und Sicherheitsstandards gerecht wird. Die Schaffung einer europäischen Cloud, eines europäischen Gesundheitsdatenraums sowie die Entwicklung von DSGVO-konformen Applikationen stehen im Fokus aktueller EU-Politik. Die Konkurrenz schläft aber nicht: Apple und Google arbeiten gemeinsam an der Entwicklung von Applikationen zur Nachverfolgung von Corona-Infektionen und Immunitätsnachweisen. Damit sammeln diese Konzerne äußerst sensible Gesundheitsdaten. Der Hohe Vertreter sollte daher demokratische Länder vor allem des Europäischen Wirtschaftsraums, die Schweiz, Großbritannien und die USA und Kanada für die Teilnahme an einem europäischen Gesundheitsdatenraum gewinnen, der zugleich Patienten- und Datenschutz sowie Forschungsinteressen dient.
Im transatlantischen Wirtschaftsraum kann eine Binnenmarktaußenpolitik weder die kompromisslose Durchsetzung bestehender europäischer noch die Übernahme US-amerikanischer Standards bedeuten. Vielmehr muss die EU sich darum bemühen, die USA auf das gemeinsame Prinzip der Verbraucherorientierung zu verpflichten. Standards auf beiden Seiten sollten in diesem Sinne sozial, ökologisch und datenschutzrechtlich nachhaltig formuliert werden. Die EU als eine Rechtsgemeinschaft steht bereits für hohe Ansprüche an die Einhaltung der Grundrechtecharta beispielsweise bei der Regulierung von künstlicher Intelligenz. Mit der DSGVO hat sie einen wichtigen Schritt zur informationellen Selbstbestimmung getan. Die Schweiz reguliert darüber hinaus die Blockchain-Technologie. Die EU-Kommission sollte die Regulierung dieser Technologie nicht nur mit den europäischen, sondern auch mit den transatlantischen Partnern koordinieren. Dabei sollten europäische und nordamerikanische Vergabekriterien so gestaltet werden, dass auf beiden Seiten des Atlantiks unter gleichen Wettbewerbsbedingungen in Forschung und Entwicklung investiert werden kann. Bei digitalen Schlüsselindustrien sollte die EU der bestehenden Monopolstellung von Internetkonzernen bei Betriebssystemen, im Browsermarkt oder bei Suchmaschinen entgegenwirken bzw. für faire und nachhaltige Teilhabechancen für alle Marktteilnehmer sorgen.
Die EU, die Nato-Mitglieder und die G7-Staaten wollen sich seit mehreren Jahren auf koordinierte Reaktionen auf Cyberattacken verständigen. Der Hohe Vertreter sollte sich mit den USA und Kanada im diesem Sinne über Prinzipien der Cyberdiplomatie abstimmen und diese gemeinsam mit ihnen in den multilateralen Gremien der Vereinten Nationen und in den Foren der Internet Governance vertreten. Ziel sollte es unter anderem sein, für eine globale Anwendung der Budapest-Konvention zur Cyberkriminalitätsbekämpfung einzutreten. Die Schaffung einer Attributionsagentur zur Aufklärung von Cyberangriffen sollte nicht leichtfertig als Wunschdenken abgetan werden, sie gehört weiter auf die transatlantische Tagesordnung. Voraussetzung ist, dass die EU zunächst selbst die Fähigkeit aufbaut, Cyberangriffe aufzuklären. Der Europäische Auswärtige Dienst hat hierzu vorgeschlagen, dass das Zentrum für Informationsgewinnung und –analyse EU INTCEN in enger Kooperation mit der EU-Cybersicherheitsagentur (ENISA) die Attribution von Cyberangriffen in der EU unterstützen und dabei eigene Aufklärungsfähigkeiten nutzen kann. Schließlich sollten auch Cybersanktionen künftig transatlantisch stärker abgestimmt sein. Um hier als EU geschlossen auftreten zu können, sollten Entscheidungen über die Ahndung von Cyberangriffen mit qualifizierter Mehrheit möglich sein.
Digitale Binnenmarktaußenpolitik der EU verlangt heute eine nachdrückliche Ausrichtung der europäischen Außen(wirtschafts-)politiken an den Werten der offenen Gesellschaft und der Grundrechtecharta. Weder Abschottung noch naive Offenheit, sondern strategische Verflechtung mit den transatlantischen Partnern bleibt das Gebot der Stunde.
Digitale Außenpolitik, Cyber-Sicherheit, Völkerrecht & Menschenrechte, regionale Perspektiven. Das Dossier bildet die Komplexität des Themas ab und präsentiert Publikationen aus allen SWP-Forschungsgruppen in mehreren Kapiteln.