Ein halbes Jahrzehnt nach ihrer Gründung befindet sich die Drei-Meere-Initiative in einer Phase der Festigung und der Konkretisierung. Der lose Zusammenschluss von zwölf Ländern aus Ostmittel- und Südosteuropa hat es sich zum Ziel gesetzt, die Konnektivität zwischen den Ländern der Region zu verbessern. Mit seinem nunmehr auf über eine Milliarde Euro angewachsenen Investitionsfonds und durch das finanzielle und politische Engagement der USA, das vermutlich auch die Biden-Administration fortführen wird, ist die Initiative stabiler und handlungsfähiger geworden. Allerdings leidet sie weiter an den unterschiedlichen geopolitischen Interessen der teilnehmenden Staaten. Deutschland, das kein vollumfänglicher Teilnehmer, sondern Partner der Initiative ist, sollte sich, sofern es an seinem Beitrittswunsch festhält, im Sinne einer wohlwollenden Mitwirkungsbereitschaft in die Initiative einbringen, um unabhängig von deren weiterer Entwicklung Kooperationschancen auszuloten und Präsenz in der Region zu zeigen.
Die Drei-Meere-Initiative (Three Seas Initiative, 3SI) ist ein 2016 formal etablierter Kooperationsrahmen, dem zwölf Länder aus Ostmittel- und Südosteuropa angehören: Estland, Lettland, Litauen, Polen, Tschechien, die Slowakei, Ungarn, Österreich, Slowenien, Kroatien, Rumänien und Bulgarien. Die Staaten zwischen Ostsee, Adria und Schwarzem Meer sind sämtlich Mitglieder der Europäischen Union (EU). Der Zusammenschluss möchte die Konnektivität und die wirtschaftliche Entwicklung der Region fördern, indem vor allem grenzüberschreitende Infrastrukturprojekte in Nord-Süd-Richtung vorangetrieben werden. Damit sollen insbesondere historisch gewachsene Anbindungslücken gefüllt werden, denn viele wichtige Infrastrukturmagistralen in der bzw. durch die Region verlaufen von Osten nach Westen. Die Schwerpunkte der Zusammenarbeit liegen in den Bereichen Verkehr, Energie und Digitales. Laut Internationalem Währungsfonds weist die Region in der laufenden Dekade einen Bedarf an Infrastrukturinvestitionen von etwa 1,3 Billionen US-Dollar auf. Neben den jährlich abgehaltenen Gipfeltreffen gibt es ein Business-Forum, einen Investitionsfonds und den Prioritätenfeldern zugeordnete Projekte. Treibende Kraft der Plattform ist Polen bzw. die dort seit 2015 regierende Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) und der aus ihren Reihen stammende Staatspräsident Andrzej Duda. Polen hob die Initiative im August 2016 zusammen mit Kroatien bei einem ersten formellen Gipfel in Dubrovnik aus der Taufe. Die Ländergruppe repräsentiert etwa ein Viertel der EU-Bevölkerung, aber nur 13 Prozent ihrer Wertschöpfung.
Virtueller Gipfel in Tallinn
Das letzte Gipfeltreffen der 3SI fand im Oktober 2020 im estnischen Tallinn statt und wurde von der Corona-Krise geprägt. Zwar bemühte sich das Gastgeberland, bei der Organisation der weitgehend virtuellen Zusammenkunft seinem Profil als digitaler Vorreiter alle Ehre zu machen, doch bot die Veranstaltung bis auf wenige Ausnahmen von physischer Präsenz keine Möglichkeiten zur vertiefenden Kontaktpflege für Politik und Wirtschaft. Die estnische Seite stieß ein paar praktische und institutionelle Innovationen an, die auch in der Schlusserklärung des Gipfels aufgegriffen wurden. Hierzu gehören ein interaktiver Fortschrittsbericht zu einzelnen Projekten und ein Bericht zu Smart Connectivity. Auch hat sich offenbar die Einberufung eines technischen Sekretariats für den Gipfel bewährt. Man rang sich aber bisher nicht dazu durch, dem ungarischen Vorschlag zur Einrichtung eines ständigen Generalsekretariats zu entsprechen.
Die beiden wichtigsten Signale, die vom Tallinn-Gipfel ausgingen, waren indes die Aufstockung des Investitionsfonds (3SIIF) und das fortgesetzte und intensivierte Engagement der USA in dem Format. Die Vereinigten Staaten haben deutlich gemacht, dass sie als externer Partner der Initiative nicht nur politische, sondern auch finanzielle Unterstützung leisten wollen. Die Mitgründerin und größte Teilhaberin des Investitionsfonds, die polnische Entwicklungsbank Bank Gospodarstwa Krajowego (BGK), gab bekannt, ihre Einlagen von 500 Millionen Euro um 250 Millionen Euro zu erhöhen. Zusammen mit den Beiträgen aus anderen Ländern und eines ersten privaten Anlegers stieg das Volumen des Fonds auf knapp eine Milliarde Euro. Anfang Februar 2021 sind Banken aus Litauen und Slowenien dem 3SIIF beigetreten. Damit sind neun von 12 3SI-Ländern an dem Fonds beteiligt. Die USA haben angekündigt, über die International Development Finance Corporation (DFC) 300 Millionen US-Dollar beizusteuern. Washington ist bereit, diese Summe bis auf eine Milliarde US-Dollar aufzustocken, wobei die amerikanischen Mittel wie auch jetzt 30 Prozent der von den 3SI-Teilnehmern erbrachten Einlagen ausmachen sollen. Mit diesen Zusagen materialisierte sich eine vom damaligen Außenminister Pompeo formulierte Offerte vom Februar 2020. Überdies kündigte die amerikanische EXIM-Bank in einer Vereinbarung mit der BGK an, durch eine finanzielle Unterstützung von 3SI-Projekten die DFC-Mittel zu ergänzen.
Geopolitik oder »nur« Wirtschaft?
Beim Blick auf die Intentionen der Drei-Meere-Initiative ergibt sich immer auch die Frage, ob es sich dabei um ein geopolitisches Vorhaben oder einen »bloß« wirtschaftlichen Zweckverband handelt. Die Antwort hierauf lautet: sowohl als auch. Denn der Trennung von Geopolitik und wirtschaftlicher Kooperation wohnt immer auch Willkürlichkeit inne. Geostrategisch motivierte Politik kann Folgen für Handel und Ökonomie haben, so wie wirtschaftliche und infrastrukturelle Projekte häufig außen- und sicherheitspolitische Implikationen haben. Bei der Drei-Meere-Initiative kommt hinzu, dass ein derart heterogener Zusammenschluss von Akteuren, die unterschiedliche geopolitische Präferenzen haben, sich nicht auf eine dominante außenpolitische Stoßrichtung einlassen kann und man daher explizite geostrategische Festlegungen vermeidet. Dennoch wird von einigen Mitwirkenden, allen voran Polen, eine dezidiert geopolitische Agenda vorangetrieben. Unter Inkaufnahme einer gewissen Vereinfachung lassen sich drei Ansätze unterscheiden:
Aus polnischer Sicht, genauer gesagt aus Sicht des Regierungslagers, ist die Drei-Meere-Initiative jenseits ihrer wirtschaftlichen Aspekte auch ein geopolitisches Arrangement, durch das sich Verwundbarkeiten gegenüber Russland reduzieren und die vermeintliche wirtschaftliche und politische Vormachtstellung Deutschlands in der Region einhegen lässt. Einen entscheidenden Beitrag zur Verwirklichung dieser Ziele leistet die profilierte Präsenz der USA in der Initiative, die auch als Gegengewicht zu deutschem Einfluss aufgefasst wird.
Für die anderen Russland-kritischen und stark transatlantisch orientierten Länder der Region, namentlich die baltischen Staaten und Rumänien, sind die Einbindung der Vereinigten Staaten und der Abbau von Abhängigkeiten gegenüber Russland ebenfalls attraktive Aspekte der 3SI. Sie lehnen dagegen eine Einhegung Deutschlands und generell jeglichen Subtext mit antideutscher Stoßrichtung klar ab und drängen gleichzeitig auf eine möglichst enge Anbindung der Initiative an die EU.
Letzteres gilt auch für alle anderen Partner der Drei-Meere-Initiative. Sie weisen überdies geopolitische oder geoökonomische Erwägungen von sich. Dies auch, weil die Regierungen (wie in Ungarn) oder andere wichtige politische Akteure (die tschechischen und kroatischen Staatspräsidenten, relevante politische Parteien in der Tschechischen Republik) ihre Zusammenarbeit mit Russland oder China fortführen wollen.
Die Drei-Meere-Initiative ist insofern ein wirtschaftlich-infrastruktureller Kooperationsrahmen mit pragmatischem Selbstverständnis, in den einflussreiche Teilnehmer gleichzeitig geopolitische Bestrebungen projizieren. Während Polen in Konvergenz mit US-amerikanischen Interessen erfolgreich die Involvierung Washingtons vorangetrieben hat, konnte es sich mit Blick auf den Wunsch der anderen 3SI-Staaten nach einer Einbeziehung Deutschlands als Partner nicht versperren. Einer vollwertigen Aufnahme Berlins wird es aber weiterhin entgegentreten.
Die Rolle der USA
Obschon die USA als Partner der 3SI auf den ersten Blick den gleichen Rang einnehmen wie Deutschland, spielen sie doch eine andere Rolle – nicht nur weil einigen 3SI-Ländern spürbar an einer substanziellen Mitwirkung der Vereinigten Staaten gelegen ist, sondern auch weil Washingtons Motive für sein Engagement in der Region ganz klar geostrategisch geprägt sind.
Leitmotiv des amerikanischen Verhaltens in und gegenüber Ostmittel- und Südosteuropa ist die Funktion der Region im globalen Wettbewerb mit Russland und China. Jenseits des asiatischen Raums ist der östliche Teil Europas der Hauptschauplatz, auf dem Washington dem wirtschaftlichen und politischen Einfluss der beiden Großmachtrivalen entgegentreten möchte. Konzentrierten sich die USA nach 1989 und auch verstärkt nach dem russisch-georgischen und russisch-ukrainischen Konflikt lange Jahre auf ein »Gegenhalten« und die Verbesserung der Widerstandskraft im Bereich der Verteidigung und »harter« Sicherheit, so hat sich in der US-Regierung in den vergangenen Jahren ein breiterer Containment-Ansatz gegenüber der Region durchgesetzt, der auch auf die Erhöhung der Resilienz der dortigen Staaten gerichtet ist. Erstmals sichtbar wurde dieser konzeptionelle Wandel in der Trump-Ära durch Äußerungen des Assistant Secretary of State Wess Mitchell im Oktober 2018. In einer Rede beim Atlantic Council verwies Mitchell auf die Gefahr einer »politischen und wirtschaftlichen Penetration« der Länder Mitteleuropas durch Russland und China. Angesichts des wachsenden Einflusses der amerikanischen Konkurrenten in Ostmittel- und Südosteuropa müssten die USA ihre diplomatischen Aktivitäten dort ausbauen und auch wirtschaftlich – durch die Unterstützung amerikanischer Unternehmen und die finanzielle Förderung von Infrastrukturprojekten – mehr Engagement in der Region zeigen. Auch die Anstrengungen auf dem Gebiet der »Public Diplomacy« müssten intensiviert werden. Auch wenn Mitchell später ausgebootet wurde, so bezeugen die von ihm artikulierten Überlegungen deutlich, wie sehr sich die Einschätzung der USA zum Ostteil der EU verändert hat und wie sehr Washington bereit ist, sich diesem Raum geopolitisch und geoökonomisch erneut zuzuwenden.
Vor diesem Hintergrund eröffnet die Drei-Meere-Initiative den USA neue Möglichkeiten. Sie bietet einen Rahmen, in dem Washington multilateral mit Staaten der Region bei wirtschaftlichen oder infrastrukturbezogenen Themen zusammenwirken kann. Auf diese Weise können die Kontakte zu den Ländern Ostmittel- und Südosteuropas zusätzlich zur bilateralen Ebene und zur Kooperation in der Nato ausgebaut werden. Abgesehen von ihrem Einstieg in den Investitionsfonds der 3SI haben sich die USA bisher vor allem auf dem Gebiet der Energiesicherheit eingebracht. 2018, während des 3SI-Gipfels in Bukarest, stieß der damalige US-Energieminister Rick Perry eine Initiative zur Bildung einer »Transatlantischen Energiepartnerschaft« (P-TEC) mit den 3SI-Ländern an. Die USA würden »Ressourcen und technische Instrumente« bereitstellen, um »sichere und resiliente« Energiesysteme in der Region aufzubauen. P-TEC gehören mittlerweile 22 europäische Staaten an, neben den 3SI-Ländern auch weitere osteuropäische und Westbalkan-Staaten sowie Deutschland und überdies die EU. Die vier Arbeitsgruppen von P-TEC befassen sich mit kritischen Infrastrukturen, Versorgungssicherheit, Energieeffizienz und ziviler Atomkraft und werden vom US‑Energieministerium und je einem Land aus der Region gemeinsam koordiniert. Eine Beratergruppe (Europe Technical Expert Advisory Mission, E-TEAM) steht bereit, die technische Unterstützung und Expertise zur Verfügung stellen kann. Dies geschah etwa bei der Suche nach Alternativen für die Belieferung der Republik Moldau mit Gas im Winter 2019/20.
Parallel dazu engagieren sich die USA weiterhin auf der Ebene der bilateralen Beziehungen. Mit mehreren Ländern aus der Region hat sich Washington auf beiderseitige Erklärungen zur Sicherheit bei der 5G-Technologie bzw. Telekommunikationsinfrastruktur verständigt, die sich faktisch gegen den chinesischen Anbieter Huawei richten. Fast alle 3SI-Länder unterstützen die amerikanische Clean Network Initiative, die nur »vertrauenswürdige« Lieferanten im digitalen Geschäft zulassen möchte.
Bezüglich der zivilen Nutzung und des Ausbaus der Kernkraft in der Region haben die USA mit Rumänien und Polen mehrere Abkommen unterschrieben. In Rumänien, wo für den Ausbau des Atomkraftwerks Cernavodă zunächst der chinesische Konzern China General Nuclear Power Corporation (CGN) im Rennen war, haben die USA durch ein im Oktober 2020 unterzeichnetes Regierungsabkommen und eine Vereinbarung über die Finanzierung von Infrastrukturprojekten dazu beigetragen, fernöstliche Interessenten abzublocken. Die amerikanische EXIM-Bank stellt bis zu sieben Milliarden US-Dollar an Kredithilfen für Energie- und Infrastrukturprojekte zur Verfügung, die auch für die Modernisierung eines bestehenden und den Bau zweier neuer Reaktorblöcke verwendet werden können. Das Kraftwerk in Cernavodă soll durch ein Konsortium erstellt werden, das von einer US-Firma geführt wird.
Auch mit Polen möchte Washington die Zusammenarbeit auf diesem Gebiet vertiefen. Am Rande des 3SI-Gipfels in Tallinn wurde die Unterzeichnung eines bilateralen Abkommens vereinbart: Binnen 18 Monaten wollen beide Seiten einen Bericht erarbeiten über die technische Umsetzbarkeit und die Finanzierung des von Polen angestrebten Aufbaus von sechs Kernkraftwerksblöcken bis 2043. Die EXIM-Bank und das polnische Klima- und Umweltministerium unterschrieben Ende 2020 eine Absichtserklärung, der zufolge das amerikanische Finanzinstitut Gelder für den Ausbau der Kernkraft, aber auch für klimaschutzorientierte Projekte und die Absicherung kritischer Energieinfrastrukturen bereitstellt.
Russland und China in der Region
Russlands infrastruktureller Fußabdruck in der Region ist als Vermächtnis der bipolaren Weltordnung weiterhin unübersehbar. Er beschränkt sich aber im Wesentlichen auf den Energiesektor. Abgesehen vom schwierigen Kooperationsfeld Atomkraft, wo Russland mit Ausnahme Ungarns (hier sollen im Kernkraftwerk Paks mit russischer Hilfe zwei neue Reaktoren erstellt werden) zumeist auf Ablehnung trifft, geht es hier vor allem um Erdgas. Durch seine Routenpolitik bei der Verbringung von Erdgas (Nord Stream 1 und 2, Turkish Stream) versucht Russland, die Transitmacht vor allem der Ukraine und der ostmitteleuropäischen Länder zu schwächen und die Anbindung der Märkte in Mittel- und Südosteuropa zu sichern. Dennoch beginnen die energiepolitischen Diversifizierungsbemühungen der meisten 3SI-Staaten zu fruchten. Vor allem durch den Bau neuer Pipelines und von Anlandevorrichtungen für Flüssiggas (LNG) haben sie ihre Abhängigkeit von Russland reduziert und die Marktdominanz der russischen Gazprom bereits gebrochen oder sind dabei, dies zu tun. Anfang Januar 2021 wurde auf der kroatischen Insel Krk ein neues LNG-Terminal in Betrieb genommen. Gleich zu Beginn wurde Flüssiggas aus den USA angeliefert. Die Installation auf Krk steht auf der Prioritätenliste der 3SI. Das LNG ist nicht nur für Kroatiens Konsum bestimmt, sondern kann auch in Nachbarländer geliefert werden. Ungarn hat sich eine Option für den jährlichen Ankauf von einer Milliarde der 2,6 Milliarden Kubikmeter umfassenden Kapazität gesichert; für einen Zeitraum von sieben Jahren wurden 250 Millionen Kubikmeter per annum von Shell gebucht. Kaum ein Land verfolgt dabei eine Strategie des Nullimports aus Russland. Vielmehr sollen angepasste technisch-infrastrukturelle Gegebenheiten die Erpressbarkeit von Russland mindern. Gleichzeitig will man aber auch wirtschaftliche Vorteile aus dem russischen Erdgasgeschäft mit Europa ziehen. So profitiert Bulgarien als Transitland von der Balkan-Stream-Pipeline, die Ende Dezember 2020 an das Turk-Stream-System angeschlossen wurde und russisches Gas nach Serbien transportiert, und als Konsument von der Transadriatischen Pipeline (TAP), die ebenfalls Ende 2020 den Regelbetrieb aufnahm und Gas aus Aserbaidschan verbringt. So verschieden die Diversifizierungsstrategien der 3SI-Länder und deren Kooperationsbeziehungen mit Russland sein mögen, so eint sie doch das gemeinsame Bestreben, durch eine bessere Vernetzung untereinander mehr Flexibilität und Versorgungssicherheit zu erlangen.
China ist durch seine Belt-and-Road-Initiative (BRI) und wegen seiner wirtschaftlichen Aktivitäten im östlichen Europa zumindest potentiell ein weiterer wichtiger infrastrukturpolitischer Akteur in der Region. Auch der Schwerpunkt der 17+1-Initiative, eines Kooperationsformats zwischen mittel- und osteuropäischen Ländern und China, liegt erklärtermaßen auf Infrastrukturinvestitionen, etwa im Schienenverkehr und bei Häfen. Denn mit den Investitionen in Verkehrs- und Logistikinfrastrukturen kann China Transportmagistralen in Ostmittel- und Südosteuropa sowie nach West-, Nord- und Südeuropa aufbauen und damit neue Komponenten bzw. Fortführungen der BRI-Korridore realisieren. Allerdings sind chinesische Investitionen bisher vornehmlich in Länder des Westbalkans geflossen. Ausnahmen sind größere Vorhaben in Griechenland sowie Ungarn und Kroatien.
Unter den 3SI-Teilnehmern wird intensiv über die Beteiligung chinesischer Firmen am Aufbau der 5G-Technologie diskutiert. Nicht nur aufgrund des Drängens der USA, sondern auch wegen einer zunehmenden Sensibilisierung für die sicherheitspolitischen Folgen einer Einbindung chinesischer Investoren wächst in den meisten 3SI-Ländern die Zurückhaltung. Nicht alle Staaten, die einschlägige Erklärungen formuliert haben, bekennen sich aber zu einem harten Nein. Während diejenigen 3SI-Teilnehmer, die sich stark an die USA anlehnen, kaum für chinesische Firmen optieren werden, dürfte die letztendliche Entscheidung andernorts nicht überall abweisend sein. Dies gilt nicht nur für Ungarn, wo Huawei bereits 1,5 Millarden Euro investiert haben soll und das angeblich größte Logistikzentrum außerhalb Chinas aufgebaut hat (wo aber auch andere Firmen am 5G-Ausbau mitwirken wollen). Auch anderswo werden letztlich wirtschaftliche und technologische Kriterien eine große Rolle spielen. Und vielerorts wird nicht zuletzt auf den deutschen Weg geachtet werden.
Der digitale 17+1-Gipfel vom 9. Februar 2021 hat gezeigt, dass Chinas Aktivitäten in der Region generell auf mehr Zurückhaltung stoßen und eine Reihe von Ländern, die der Drei-Meere-Initiative angehören, zunehmend argwöhnisch werden. Die baltischen Staaten, Slowenien, Rumänien und Bulgarien waren nicht auf höchster Ebene repräsentiert. Diese Teilnehmer haben den Stellenwert der Zusammenkunft damit demonstrativ heruntergestuft, obschon Chinas Präsident Xi Jinping erstmals an einem solchen Treffen teilnahm. Für dieses Verhalten gibt es mehrere Ursachen: Zu sicherheitspolitischer Wachsamkeit und dem von den USA ausgeübten Druck haben sich auch normative Erwägungen (einige Länder aus der Region akzentuieren zunehmend die Bedeutung der Menschenrechte und Freiheitswerte im Umgang mit China) und vor allem Enttäuschung über die wirtschaftliche Zusammenarbeit gesellt. Das Ausbleiben großer Investitionen, die schleppende Verwirklichung oder Nichtrealisierung von Infrastrukturvorhaben haben zu der neuen Distanziertheit ebenso beigetragen wie unverändert beachtliche Handelsbilanzdefizite aufgrund schwieriger Exportchancen für ostmittel- und südosteuropäische Produzenten.
China suchte diese Ernüchterung mit neuen Offerten aufzufangen – durch die Ankündigung, den Import von (vor allem landwirtschaftlichen) Gütern aus den Ländern der Region zu erhöhen, und Vorschläge für neue Kooperationsschwerpunkte. Dazu zählen die Bereiche Gesundheitswesen und Pandemiebekämpfung sowie Klima- und Umweltschutz. Präsident Xi sprach in seiner Rede bei dem Gipfeltreffen einige Großprojekte wie die Bahnverbindung Budapest-Belgrad, den Ausbau des Hafens von Piräus oder den Bau der Pelješac-Brücke in Kroatien an und wies auf die Wichtigkeit von Konnektivität für die gegenseitigen Beziehungen und auf die Belt-and- Road-Zusammenarbeit hin. Infrastrukturfragen sind weiterhin Bestandteil des Thementableaus, haben offenbar aber nicht mehr eine solch herausragende Bedeutung wie zuvor.
In Anbetracht einer zunehmenden Skepsis, ja einer teils offenen Infragestellung des Formats (Estlands Ministerpräsidentin erklärte, sie ziehe Treffen der EU mit China gegenüber 17+1-Gipfeln vor) kann nicht ausgeschlossen werden, dass einzelne Länder ihre Aktivitäten im 17+1-Rahmen herunterstufen oder sogar ausscheiden, was zu einem Bedeutungsverlust der Initiative führen würde. Da Chinas Präsenz sich aber ohnedies vornehmlich auf der Ebene bilateralen Beziehungen vollzieht und es weiterhin einige Staaten gibt, die an der wirtschaftlichen Kooperation mit Peking festhalten wollen, liefe diese Entwicklung keineswegs auf ein Herunterfahren der chinesischen Aktivitäten in der ganzen Region hinaus.
Festigung mit Strukturproblemen
Der Gipfel von Tallinn hat gezeigt, dass sich die Drei-Meere-Initiative seit ihrer Etablierung 2016 stabilisiert und in einigen Bereichen stärker konkretisiert hat. Für den weiteren Fortgang der Initiative wird es zum einen wichtig sein, dass die Einlagen in den Investitionsfonds angehoben werden und dieser das operative Geschäft aufnimmt (Ende 2020 tätigte der Fonds Investitionen in zwei erste Vorhaben), zum anderen, dass die USA aktiv präsent sind.
Über Letzteres scheint es keine Zweifel zu geben. Mitte November billigte das Repräsentantenhaus eine Resolution, in der das US-Engagement für die 3SI unterstützt wird, mit Stimmen beider Parteien. Auch die Biden-Administration scheint gewillt, den bisherigen Kurs beizubehalten. Dies kann zum Beispiel aus ersten Gesprächen zwischen dem neuen Sicherheitsberater von Präsident Biden und Vertretern der polnischen Präsidialkanzlei herausgelesen werden. Dabei versicherten sich beide Seiten über die Gemeinsamkeit ihrer strategischen Prioritäten in Bezug auf China und Russland. Polnischen Quellen zufolge herrschte auch hinsichtlich der 3SI Einvernehmen.
Denn zweifelsohne steht auch für die Biden-Administration die Eindämmung des chinesischen und russischen Einflusses in Ostmittel- und Südosteuropa ganz oben auf der außenpolitischen Agenda. Daher dürften auch Initiativen wie P-TEC fortgeführt werden. Ebenso entspricht es den Interessen der USA, wenn die Gemeinsame Erklärung des Tallinn-Gipfels zwar etwas vage, aber grundsätzlich positiv Bezug auf das Blue Dot Network nimmt, das mit seinem Bekenntnis zu transparenten Finanzierungsstandards als eine Art konnektivitätspolitisches Gegenkonzept der USA zur chinesischen Belt and Road Initiative aufgefasst wird. Anders als unter Präsident Trump wird Washington indes die 3SI nicht als einen Rahmen nutzen wollen, mit dem eventuell die EU auseinanderdividiert werden soll.
Unübersehbar kämpft die 3SI aber weiterhin mit strukturellen Schwächen. Jenseits des polnischen »Motors« der Initiative und des Engagements der jeweiligen Gastgeberländer der Gipfeltreffen nehmen eine Reihe von Teilnehmerstaaten eine zwar grundsätzlich bejahende, aber zögerliche Haltung ein. Dass die polnische BGK allein etwa drei Viertel des Investitionsfondsvolumens speist, ist charakteristisch für die unterschiedlichen Priorisierungen.
Dennoch rechnen sich alle Teilnehmer der Initiative zumindest für Einzelvorhaben greifbare Vorteile aus. Was die Attraktivität der 3SI in der gegenwärtigen Situation erhöht, ist die Neuausrichtung von Förderprioritäten der EU. Zwar wird auch künftig der 3SIIF nur ansatzweise an die EU-Mittel aus der Kohäsionspolitik oder der Connecting Europe Facility heranreichen: In der Periode 2014–2020 erhielten die 3SI-Länder etwa 56 Milliarden Euro an EU-Geldern für Konnektivitätsvorhaben in den Bereichen Verkehr, Energie und Digitales und die anvisierten Prioritätsvorhaben der Initiative sollen alles in allem etwa zur Hälfte aus Mitteln der EU und der Europäischen Investitionsbank (EIB) finanziert werden. Doch werden Energieprojekte (so etwa Gaspipelines) und möglicherweise auch Verkehrsinfrastrukturprojekte künftig nicht mehr oder nur schwer in den Genuss von EU-Hilfen kommen, deren Vergabe sich fortan stark an klimapolitischen Vorgaben orientieren wird. Der 3SIIF kann hier partiell Lücken schließen.
Ein weiteres Thema, das die 3SI in den nächsten Jahren beschäftigen wird, ist ihr Verhältnis zu den Nachbarregionen, konkret die Frage einer möglichen Erweiterung der Initiative. Der Staatspräsident Bulgariens, das Gastgeber des nächsten Gipfels sein wird, der im Juni 2021 stattfinden soll, hat sich für die Aufnahme Griechenlands und Zyperns ausgesprochen. Anfang 2021 haben die Präsidenten der Ukraine und der Republik Moldau Interesse an einer Teilnahme geäußert. In nächster Zeit dürfte es aber vor allem um die projektbezogene Zusammenarbeit und nicht um die vollumfängliche Einbindung neuer Länder in die Initiative gehen. Gerade die Aufnahme von Nicht-EU-Staaten aus dem Westbalkan und erst recht von solchen aus der östlichen Nachbarschaft würde heftige Diskussionen unter den jetzigen Teilnehmerländern auslösen.
Perspektiven und die Haltung Deutschlands
Die Drei-Meere-Initiative befindet sich in einer Periode der Konsolidierung und der Operationalisierung. Sie hat ihre Take-off-Phase hinter sich gelassen und neben dem polnischen Engagement durch das Commitment der USA und die Stärkung des Investitionsfonds wichtige Stabilisatoren erhalten, die zunächst für ihre Fortführung sorgen werden. Zwar ergibt sich mit Blick auf Einzelprojekte ein möglicher partieller Mehrwert für alle Teilnehmerländer; aber unterschiedliche Interessen und vor allem differierende geopolitische Ausrichtungen der einzelnen Staaten sowie die teils aufwendige Implementierung von Infrastrukturprojekten werden es der Initiative weiter erschweren, mehr Dynamik zu erlangen. Von den 77 Prioritätsvorhaben waren 2020 nur drei abgeschlossen, bei sieben gibt es Aktivitäten und bei 14 großen Fortschritt. 53 Projekte waren lediglich registriert. Nur 12 Prozent der für die Vorrangprojekte erforderlichen Finanzierungen in Höhe von insgesamt über 85 Milliarden Euro waren gesichert (Angaben laut Status Report der 3SI).
Die Einbindung der USA ist nicht nur ein Zeichen für die geostrategische Komponente der Plattform, sondern verleiht dieser auch eine transatlantische Dimension. Die 3SI-Länder sind alle Mitglieder der EU, aber (mit Ausnahme Österreichs) auch der Nato und bilden die Ostflanke der Allianz. Die Umsetzung von Projekten im Bereich des Verkehrs oder kritischer Energiestrukturen und Datennetze nutzt auch der Sicherheit der 3SI-Länder.
Mittel- und langfristig sind mehrere Szenarien für die Initiative denkbar. Die Aufnahme Deutschlands ist wegen des polnischen Widerstands unwahrscheinlich. Sie würde die 3SI zu einer Art erweitertem Mitteleuropaformat mit deutscher Präponderanz machen. Deutschlands Wirtschaftskraft ist beinahe doppelt so groß wie die der 12 Teilnehmerländer. Mit der Aufnahme osteuropäischer Länder wie der Ukraine würde die Initiative näher an die von geostrategischen Erwägungen inspirierte, in Polen während der Zwischenkriegszeit angedachte Idee des »Intermariums« rücken. Das aber würde wohl auf Zurückhaltung bei allen anderen Teilnehmern stoßen. Eine alleinige Ausrichtung auf Washington, also eine Art »17+1«-Format mit den USA statt mit China, wäre gerade mit der Biden-Administration unwahrscheinlich, die nicht auf die Spaltung der EU setzt. Theoretisch denkbar wären eine intensivere Europäisierung und die Umgestaltung der 3SI zu einer Makrostrategie der EU (wie etwa die Ostsee- oder Donauraumstrategie). Dies würde aber allein daran scheitern, dass die Initiative von Staaten getragen wird, von denen einige die Agenda-Hoheit nicht an die EU abgeben wollen. Auch würde eine solche Transformation bestehende Makrostrategien überlagern.
Ein dominierender Faktor für die 3SI wird aber unabhängig davon der Ansatz der Komplementarität mit der EU bleiben. Das heißt, dass die Initiative ihre Projektförderung weiterhin konsequent mit EU-Mitteln abstimmen muss, um Synergien zu generieren. Auch die angestrebte Einbindung der Europäischen Investitionsbank in den 3SIIF geht in diese Richtung. Nicht ausgeschlossen werden kann aber auch, dass die Drei-Meere-Initiative langfristig als eine Art »infrastruktureller Ostseerat« endet, also zwar fortexistiert, aber ohne politische Strahlkraft und ohne substanzielle Resultate.
Deutschland sollte angesichts dessen eine Politik der interessierten und wohlwollenden Involvierung verfolgen. Dazu sollte es weiterhin Teilnahmebereitschaft signalisieren und sich aus der Position eines aktiven Partners heraus sowohl politisch sichtbar (durch Gipfelteilnahme) als auch auf Projektebene einbringen. Die Stärkung der Resilienz und die Vertiefung von Konnektivitätsbeziehungen in und mit der Region sind im deutschen Interesse. Der Einstieg etwa der Kreditanstalt für Wiederaufbau in den Investitionsfonds oder die Teilnahme an Projekten auf den Gebieten Energie und Digitalisierung könnten dazu beitragen, deutsche Interessen in der Klima- oder Investitionspolitik zu fördern und aus Streitfragen wie Nord Stream 2 durch Kooperationsthemen etwas die Spannung zu nehmen. Das Gleiche gilt für den von Bulgarien ins Spiel gebrachten neuen Schwerpunkt Wissenschaft, Bildung und Innovation. Deutschland würde durch eine Mitwirkung in diesen Bereichen nicht nur seine ohnehin starke wirtschaftliche und politische Präsenz in Ostmittel- und Südosteuropa durch ein Engagement auch in einem plurilateralen Rahmen unterstreichen und die Europäisierung der Initiative verstärken, sondern sich in der Region auch als geoökonomischer Akteur neben den USA sowie China und Russland positionieren.
Dr. Kai-Olaf Lang ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe EU / Europa.
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doi: 10.18449/2021A16