Die Corona-Pandemie und ihre wirtschaftlichen wie sozialen Folgen stellen den Zusammenhalt der EU, aber auch die Machtbalance in der Union vor eine neue Bewährungsprobe. Die (Nicht-)Reaktion der EU zementiert die nationale Souveränität der Mitgliedstaaten und die Dominanz des Intergouvernementalen in der Krise. Zwischen den Staaten verschiebt sich der Spalt zwischen Nord und Süd: Folge einer europapolitischen Offensive Spaniens und Italiens, einer stärkeren »Südorientierung« Frankreichs und eines gleichzeitigen Zerbröckelns der »Neuen Hanse«. Konjunktur haben vor allem Gruppen als Interessenverbände, die Differenzen in der EU verschärfen statt sie zu überwinden. Deutschland, ab dem 1. Juli 2020 als Ratsvorsitz in besonderer Vermittlungsrolle, ist als Brückenbauer gefragt.
Zur Eindämmung der Corona-Pandemie und ihrer Sekundäreffekte haben die EU und ihre Mitgliedstaaten nach einer kurzen Schockstarre eine Reihe außerordentlicher Maßnahmen erlassen, die tief in das öffentliche Leben und die Wirtschaft eingreifen. Dabei haben sie Machtstrukturen und Konfliktlinien in der Union offengelegt – und verschoben.
Erstens zeigte sich in der Krise, dass die nationale Souveränität der EU-Staaten fortbesteht. Denn Gesundheitspolitik ist keine EU-Kompetenz. Die Ausgangsbeschränkungen etwa verhängten die Nationalstaaten oder, wie in Deutschland, sogar die Bundesländer. Zu Solidarität in Form der Bereitstellung medizinischer Güter wie Masken oder Schutzkleidung sind bis dato nur die Mitgliedstaaten in der Lage. Auch wirtschaftliche Hilfspakete kamen zunächst allein von ihnen, die EU lockerte temporär ihre Regeln, beispielsweise die Einschränkungen für staatliche Beihilfen. Niederländische Vetos gegen Eurobonds unterstreichen einmal mehr, dass die EU Grundsatzentscheidungen nur treffen kann, wenn alle Regierungen zustimmen.
Schritt- und nur teilweise gelingt es Kommission und Rat, die Rolle des Koordinators dieser nationalstaatlichen Maßnahmen zurückzuerlangen. Auch bei der Krisenbewältigung in der EU setzen bislang die intergouvernementalen Institutionen und somit die nationalen Regierungen die Agenda. Zentrales Gremium für die Reaktion der EU war der Europäische Rat, in dem sich die Staats- und Regierungschefs in bisher vier Videogipfeltreffen – soweit politisch möglich – auf ein gemeinsames Vorgehen geeinigt haben, etwa bei der Schließung der EU-Außengrenzen, dem Kurzarbeitergeld SURE oder dem Prinzip eines EU-Wiederaufbaufonds. Auf Ministerebene war die Eurogruppe das maßgebliche Gremium, in dem über die wirtschaftliche Antwort verhandelt wurde. Das Europäische Parlament dagegen war in der Coronakrise nur sehr begrenzt eingebunden, bei einigen Anpassungen in EU-Haushalt und Gesetzgebung. Der EU-Kommission ist es zwar gelungen, schrittweise den Binnenmarkt zu schützen. Die wegweisenden Entscheidungen aber trafen die Regierungen im Europäischen Rat bzw. Ministerrat.
Neue und alte Koalitionen in der Krise
Angesichts des Primats der Mitgliedstaaten wird auch die »innereuropäische Diplomatie« in bi- und mini-lateralen Formaten noch wichtiger (siehe SWP-Aktuell 7/2018). Zwar wurden durch den Vorrang nationalen Handelns und die Reisebeschränkungen auch zwischenstaatliche Formate in der EU beeinträchtigt. Gerade in regionalen Gruppen wurden aufgrund fehlender Absprachen über die Grenzschließungen subnationale grenzüberschreitende Kooperationsformen ausgesetzt oder erschwert. Unterschiede beim Verlauf der Epidemie, bei der Höhe der Fallzahlen, bei den Phasen und der Stringenz von Eindämmungsstrategien »zerteilen« etablierte Gruppen zusätzlich. Allerdings kam es auch zu einer Wiederbelebung diverser Formationen.
Zunächst hat die Coronavirus-Pandemie die »Nord-Süd-Spaltung« in EU bzw. Eurozone wieder vertieft. Gemessen an der Zahl der offiziell Erkrankten und Verstorbenen sind Italien, Spanien, aber auch Frankreich besonders hart getroffen. Das gilt zugleich für die wirtschaftlichen Auswirkungen: Der Tourismus hat bei ihnen mit am stärksten gelitten; aufgrund der hohen Zahl an Infizierten haben sie innerhalb der EU die tiefgreifendsten Einschränkungen ihrer Wirtschaft erlassen, und angesichts ohnehin schon hoher Schuldenstände ist die einzelstaatliche Reaktionskapazität geringer. Italien, vor allem aber Spanien ist auf der Suche nach volkswirtschaftlicher Kooperation zumindest vorderhand in der europapolitischen Offensive. Der Brief von neun Staaten, die mehr finanzielle Solidarität und die Ausgabe von Eurobonds fordern, zeigte, dass sich der traditionelle ökonomische Süden erweitert hat. Beteiligt waren auch Irland, Belgien, Luxemburg und Slowenien. Die baltischen Staaten oder die Slowakei, in der Finanzkrise noch strikte Gegner von Risikovergemeinschaftung und klar dem finanzpolitischen Norden zugeordnet, zeigen sich zumindest offen für die Anliegen der Neun. Damit zerbröselt auch, zumindest vorübergehend, die »Neue Hanse«. In dieser Gruppierung hatten sich 2018 acht kleine und mittelgroße nordeuropäische Staaten zusammengefunden (Niederlande, Finnland, Irland, Dänemark, Schweden und die drei baltischen Staaten), die sich bis vor kurzem sehr geschlossen für eine liberale Wirtschaftspolitik und eine auf Haushaltsdisziplin setzende Weiterentwicklung der Eurozone eingesetzt haben.
Voraussetzung für die neue Aktivität des Südens war nicht zuletzt die Überwindung der franko-italienischen Zerwürfnisse infolge des Regierungswechsels in Rom. Markanter Ausdruck der neuen Zweisamkeit war ein bilateraler Gipfel Ende Februar. Auch die aktivere Rolle der Regierung Sánchez in der Europapolitik trug zur größeren Sichtbarkeit des Südens bei. Dagegen ist der alte Norden in die Defensive geraten und hat bis auf die umstrittene Forderung nach Eurobonds zahlreichen Unterstützungsrufen aus diesem Lager entsprochen. Getragen werden die Vorstöße und die gleichzeitige Ausweitung des bisherigen Südens aber primär von (vermeintlichen) ökonomischen Notwendigkeiten und einem mit Verve vorgetragenen Solidaritätsnarrativ. Bemerkenswert ist, dass Frankreich sich nicht vom südlich geprägten Solidaritätslager abgrenzt (wie Deutschland in der Vergangenheit von der Hanse-Gruppe), sondern als dessen integraler Bestandteil oder gar Wortführer auftritt. Bei alledem ist der ausgeweitete Süden kaum konsolidiert. Daher sind weder Zusammenhalt noch längerfristige Durchsetzungsfähigkeit ausgemacht.
In der Visegrád-Gruppe war kaum Koordinierung im Kampf gegen die Corona-Krise zu beobachten. Obschon die Regierungschefs noch bei einem Gipfeltreffen Anfang März ihren Kooperationswillen betont hatten, wurden beispielsweise die Grenzen zwischen den vier Ländern ohne erkennbare Abstimmung geschlossen. Allerdings setzten sie außenpolitische Akzente in Form von Hilfen für die Östliche Partnerschaft und zur Grenzsicherung und Corona-Eindämmung in Libyen. Nach wie vor sorgt das Dauerthema Migration für einen Schulterschluss, zumal die Problematik durch das Urteil des Europäischen Gerichtshofs von Anfang April 2020 zu Quoten für die Verteilung von Flüchtlingen wieder an Bedeutung gewinnt. Vor allem werden aber weiterhin Gemeinsamkeiten bei den Verhandlungen über den Mehrjährigen Finanzrahmen (MFF) und im Zusammenhang mit dem Wiederaufbaufonds gesucht. Die Länder möchten keine Kürzung von Kohäsionsfonds und fordern neue Eigenmittel, um ein angemessenes Volumen des Haushalts sicherzustellen, wobei neue Belastungen durch die Krise zu berücksichtigen sind.
Schon vor der Pandemie hatten sich als selbsternanntes »ambitioniertes Europa« 15 Staaten aus Süd- und Osteuropa zusammengefunden, um eine Anhebung des EU‑Budgets zu fordern – Umverteilungen zugunsten des stärker vom Coronavirus betroffenen Südens könnte diese Themenkoalition aber auseinandertreiben. Ihnen gegenüber, zumindest bei den Haushaltsverhandlungen, stehen die »frugalen Vier« (Niederlande, Schweden, Österreich, Dänemark), die auch nach Ausbruch der Pandemie auf Haushaltsdisziplin pochen.
Die BeNeLux-Union ist in wirtschaftspolitischen Fragen nach wie vor gespalten, da sich Belgien und Luxemburg für Instrumente wie Eurobonds aussprechen, die Niederlande sich jedoch unnachgiebig dagegen sperren. Die drei Länder konzentrieren sich daher auf eine Verbesserung des Grenzmanagements und die Schaffung von mehr Transparenz in der Krise. Auf Anregung Nordrhein-Westfalens wurde mit den Niederlanden und Belgien eine Cross-Border Task Force Corona ins Leben gerufen.
Die Länder Nordeuropas (EU wie Nicht-EU-Staaten) haben in der Krise ihre bewährten Kooperationsstrukturen genutzt. Die Bekräftigung der Kooperation ist auch eine Reaktion auf den schwedischen Sonderweg, der sich vom restriktiven Ansatz der anderen Länder in der Region (und in Europa) unterscheidet. Politisch wird hierbei signalisiert, dass alle Länder am Ziel einer »grünen, wettbewerbsfähigen und sozial nachhaltigen Nordischen Region« festhalten. Der NordForsk-Forschungsfonds des Nordischen Ministerrats hat drei neue Forschungsinitiativen im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie gestartet. Die baltischen Staaten haben ihren Willen erklärt, eine gemeinsame »baltische Reisezone« zu etablieren, um trotz fortbestehender Kontrollen an den Grenzen zu anderen EU-Ländern den Austausch von Menschen und Gütern zu erleichtern.
Das Weimarer Dreieck befand sich vor Ausbruch der Pandemie in einer Phase vorsichtiger Reaktivierung. Im Januar hatten sich die Europastaatssekretäre getroffen und die Bereitschaft unterstrichen, trilaterale Konsultationen fortzuführen. In einigen Themenfeldern gab es verbesserte Kommunikation oder sogar gemeinsame Initiativen (Erklärung der drei Landwirtschaftsminister vom Oktober 2019, Initiative zur Reform der Wettbewerbspolitik, unterstützt von Italien). Der Warschau-Besuch des französischen Staatspräsidenten Macron im Februar 2020 bewirkte zwar keinen Durchbruch in den schwierigen beiderseitigen Beziehungen, öffnete aber die Tür für ein Gipfeltreffen der drei Länder. Ob es zustande kommt, ist jedoch keineswegs sicher, ein Termin entsprechend ungewiss.
Die Gruppenlandschaft in der EU hat sich während der Pandemie verändert: Finanziell-ökonomische Interessengruppen treten in den Vordergrund, Regionalgruppen konzentrieren sich auf sich selbst oder sind durch grenzbezogene Themen und europapolitische Fragen fragmentiert. Brückenbauende Formate wie Weimar konnten bis dato keine Impulse setzen.
Mehrwert und Grenzen des deutsch-französischen Motors
Im Angesicht dieser sich gegenseitig blockierenden Interessenskoalitionen (und dem Brexit) beginnen die »alten« Mechanismen der EU zu greifen. Die Mitte Mai 2020 von Bundeskanzlerin Merkel und Frankreichs Staatspräsident Macron vorgestellte Initiative zur »wirtschaftlichen Erholung Europas nach der Coronakrise« trägt alle Zeichen eines klassischen deutsch-französischen Kompromisses, den die beiden größten Mitgliedstaaten der EU – stellvertretend für opponierende Gruppen – ausgehandelt haben. Dieser soll, so das Ziel, möglichst in einem einstimmigen Beschluss für einen deutlich ausgeweiteten MFF münden, in den ein 500 Milliarden Euro umfassender Wiederaufbaufonds zu integrieren ist.
Diese deutsch-französische Initiative ist ein notwendiger, aber kein ausreichender Schritt zur Überwindung der Gruppenkonflikte. Denn auch in einer EU-27 reicht die Bindekraft der beiden Schwergewichte nicht aus, um all die verschiedenen Gruppen zu repräsentieren. Die Visegrád-Staaten etwa sehen ihre Interessen in deutsch-französischen Kompromissen kaum abgebildet und stehen oft im Widerspruch zu Berlin und Paris. Auf der anderen Seite wirkt in den Niederlanden noch das »Trauma von Deauville« – Merkel und der damalige französische Präsident Sarkozy hatten sie 2011 mit ihren Beschlüssen von Deauville über das Vorgehen in der Eurokrise vor vollendete Tatsachen gestellt. Das war für Den Haag neben dem Brexit ein Grund, sich mit der »Neuen Hanse« und den »frugalen Vier« eigene Interessengruppen aufzubauen, um sich notfalls vermeidbaren deutsch-französischen faits accomplis widersetzen zu können.
Deutschland und die Gruppen: Konsultieren und Kooperieren
Deutschland kommt in der jetzigen Situation und mit nahender Ratspräsidentschaft wieder einmal eine zentrale Rolle bei der Stabilisierung und Fortentwicklung der EU zu. In Anbetracht zunehmenden und (teils) nicht abgestimmten nationalen Handelns und neuer sowie alter Polarisierungen ist es für Deutschlands Europapolitik ein Gebot der Stunde, sich intensiv mit europäischen Partnern im Sinne eines Brückenbauens über politische Gräben hinweg abzustimmen. Die deutsch-französische Initiative von Mai 2020 ist hierfür ein guter Auftakt, benötigt im komplexen Gruppengefüge der EU aber eine diplomatische Ergänzung. Folgende Handlungsoptionen zum »Brückenbauen« bieten sich an:
Erstens sollte Deutschland durch »Plus-Formate« den Dialog mit Gruppen aufnehmen, denen es selbst nicht angehört. Ein gutes Beispiel ist der Austausch mit den Visegrád-Ländern, die auf Ebene der Regierungschefs unmittelbar nach dem deutsch-französischen Gipfel oder mit den Außenministern während der Krise ein Videotreffen abgehalten haben. Ebenso wichtig ist der Dialog mit den »sparsamen Vier«, insbesondere mit den Niederlanden, welche die deutsch-französische Einigung kritisch beäugen.
Zweitens sollte Deutschland Initiativen unterstützen oder anstoßen, die quer zu bestehenden Konfliktlinien liegen. Dies gilt insbesondere für die Kontroverse zwischen Gebern und Nehmern von Finanzmitteln. Eine Möglichkeit wäre, das Ventotene-Format (Deutschland, Frankreich, Italien) wiederzubeleben oder Polen darin einzubeziehen, um Nord-Süd-, aber auch eventuelle Ost-West- und Ost-Süd-Kontroversen symbolisch aufzufangen.
Um die Dominanz von Finanz- und Eurozonenkonflikten in einen breiteren Kontext zu stellen, könnte drittens eine divers aufgestellte Zukunftsgruppe der Wirtschaftsminister größerer und kleinerer Staaten geschaffen werden. Sie könnte sich informell mit dem wirtschaftlichen und industriepolitischen Reformprozess und mit Fragen der Modernisierung der EU beschäftigen (Wirtschaftsgymnich).
Dr. Kai-Olaf Lang ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe EU / Europa.
Dr. Nicolai von Ondarza ist Stellvertretender Leiter der Forschungsgruppe EU / Europa.
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doi: 10.18449/2020A39