Der außenpolitische Ansatz der georgischen Regierungspartei – eine pragmatische Politik vis-à-vis Moskau bei Fortführung des Kurses euroatlantischer Integration –, stößt im Kontext von Russlands Vollinvasion der Ukraine an seine Grenzen. Gleichzeitig greifen in Georgien Außen- und Innenpolitik zunehmend ineinander. Für die EU resultieren daraus Dissonanzen mit Tbilisi und Fragen, die unabhängig von der Entscheidung über den EU-Kandidatenstatus relevant bleiben werden.
Am 30. Mai 2023 erklärte Georgiens Premierminister Irakli Garibaschwili auf dem GLOBSEC-Forum in Bratislava, es sei die Politik der »strategischen Geduld« seiner Partei gegenüber Russland, die für Georgiens Frieden und Stabilität sorge. Während sich die Führung des Georgischen Traums (GT) dieses Ansatzes rühmt, ruft er bei Opposition und Staatspräsidentin Ablehnung hervor. Letztere kritisierte nur einen Tag nach dem Auftritt des Premiers genau diese Politik als eine der »unfassbaren Zugeständnisse«. Präsidentin Salome Surabischwili etwa mahnt, die Wiederaufnahme des Luftverkehrs mit Russland im Mai 2023 leiste Fragen Vorschub bezüglich einer möglichen Umgehung der von westlichen Ländern gegen Russland verhängten Sanktionen. Der Parlamentsvorsitzende Schalwa Papuaschwili hingegen erklärte, der Verzicht auf bilaterale Sanktionen gegen Russland sei Teil des Ansatzes der »strategischen Geduld« seiner Partei und angesichts der vulnerablen geopolitischen Lage Georgiens besonders verantwortungsvoll.
Westintegration und »strategische Geduld« vis-à-vis Russland
Der Georgische Traum, bis 2016 als Teil einer Koalition, dann allein mit absoluter Mehrheit an der Macht, hat den euroatlantischen Kurs seiner Vorgängerin, der Vereinten Nationalen Bewegung (VNB) des ehemaligen Präsidenten Micheil Saakaschwili, fortgeführt – obschon sich im Laufe der Jahre einige der am dezidiertesten gen Westen orientierten Akteure aus der Koalition lösten. Im Wesentlichen zielt der Kurs darauf, Georgien näher an EU und Nato heranzuführen und es schließlich in beide Strukturen zu integrieren. Im Juli 2016 trat das zwischen Georgien und der EU ausgehandelte Assoziierungsabkommen in Kraft; ergänzt wird es durch die Vertiefte und umfassende Freihandelszone (DCFTA). Die gesellschaftlich breit befürwortete Ambition, EU und Nato beizutreten, ist seit 2018 in Georgiens Verfassung verankert. Bei der Bevölkerung steht die euroatlantische Integration kontinuierlich hoch im Kurs: Laut Daten des National Democratic Institute sprachen sich seit 2012 durchgängig mindestens 61% der befragten Georgierinnen und Georgier für eine Mitgliedschaft in EU und Nato aus. Meist lagen die Zustimmungswerte deutlich höher; zuletzt befürworteten über 80% einen EU- und über 70% einen Nato-Beitritt. Allerdings liefen die prowestlichen Bestrebungen lange ins Leere: In Bezug auf die Nato fehlte auch nach dem Bukarester Gipfel 2008 eine zeitlich klare Beitrittsperspektive, seitens der EU bis 2022 eine Beitrittsperspektive überhaupt.
Parallel zur Fortführung des Westkurses war der Georgische Traum 2012 angetreten, die schwierigen Beziehungen zu Russland durch eine pragmatische Politik zu normalisieren. Nach dem russisch-georgischen Krieg 2008 und Russlands Anerkennung der Unabhängigkeit Abchasiens und Südossetiens, zwei abtrünnige Regionen Georgiens, hatte Tbilisi alle diplomatischen Verbindungen nach Moskau gekappt. Russland schloss mit beiden »De-facto-Staaten« bilaterale Verträge über »Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand« und ist dort militärisch sowie mit seinen Sicherheitsdiensten präsent. Die Lage ist volatil. Vor allem an der »administrative boundary line« (ABL) zu Südossetien kommt es durch russische und südossetische Kräfte zu Verschiebungen und einer verstärkten Befestigung der ABL.
Georgiens Politik gegenüber Moskau zielt allgemein auf weniger konfrontative Beziehungen zum nördlichen Nachbarn. Einerseits werden weniger politisierte oder sensible Themen behandelt, etwa Handel, Visa, Humanitäres und Kultur. Zu diesem Zweck wurde bereits im November 2012 die Position eines Sondergesandten für die Beziehungen mit Russland eingerichtet. Andererseits richtet sich Tbilisis Politik der »strategischen Geduld« auch auf den Umgang mit den abtrünnigen Regionen. Mit diesem Ansatz soll, so zumindest die Idee der Regierung, auch die territoriale Integrität Georgiens wiederhergestellt werden.
Einschlägige Analysen bewerten diesen außenpolitischen Ansatz zunehmend als Russland entgegenkommend. Russland werde zwar auch unter dem Georgischen Traum als zentrale Bedrohung gesehen. Man begegne ihr aber mit einer Strategie des »bandwagoning with« und nicht wie die Vorgängerregierung, die ausgeprägten Argwohn gegen Russland hegte, mit »balancing against«. Gleichzeitig zeigen Studien, dass der Ansatz des Georgischen Traums auf russischer Seite nicht zu einer Wahrnehmungsänderung oder einer veränderten Politik Moskaus vis-à-vis Abchasien und Südossetien geführt hat.
Vor allem die wirtschaftlichen Beziehungen der beiden Nachbarn sind wieder enger geworden, nachdem Russland die 2006 verhängten Einfuhrbeschränkungen in der Regierungszeit des GT aufgehoben hat. Laut Jahreswerten der georgischen Statistikbehörde war Russland sowohl 2020 als auch 2021 hinter der Türkei der zweitwichtigste Handelspartner. Der russisch-georgische Handel war damit anteilig fast wieder auf dem Stand von vor der Handelssperre. Auf politischer Ebene sieht es anders aus: Diplomatische Beziehungen miteinander unterhalten die beiden Länder nach wie vor nicht.
Außenpolitische Dimension der innenpolitischen Krise(n)
Innenpolitisch sieht sich Georgien seit spätestens 2019 von einer sich zuspitzenden Krise und, damit verbunden, wiederkehrenden Protestwellen erfasst, die zunehmend eine außenpolitische Dimension aufweisen. Dieser Nexus reflektiert sowohl Georgiens prekäre geopolitische Lage und den Umgang mit ihr als auch das Ausgreifen interner Machtpolitik nach außen.
Im Sommer 2019 brach sich der Unmut der Bevölkerung gegenüber Russland in breiten, bald auch gegen die GT-Regierung, gerichteten Straßenprotesten Bahn. Auslöser war, dass der russische Duma-Abgeordnete Sergei Gawrilow im Kontext eines Treffens der Interparlamentarischen Versammlung für Orthodoxie in Tbilisi eine Rede hielt – vom Sitz des Parlamentsvorsitzenden. Als Antwort auf die Proteste gegen Gawrilows Auftritt im Sommer 2019 untersagte Russland Direktflüge nach Georgien (die im Mai 2023 wieder aufgenommen wurden). Die Reaktion zeigt, dass Moskau die wirtschaftlichen Beziehungen, zumal deren strukturelle Asymmetrien, für sich zu instrumentalisieren weiß. Die georgischen Parlamentswahlen im Herbst 2020 wiederum waren von Kritik aus politischer Opposition und Zivilgesellschaft begleitet, die die Rechtmäßigkeit der Durchführung anzweifelten. Nach der Abstimmung boykottierten die gewählten Oppositionsvertreterinnen und ‑vertreter zunächst mehrheitlich aus Protest das Parlament. Bemühungen seitens der EU ab Frühjahr 2021, vor allem des EU-Ratspräsidenten Charles Michel, die Krise zu entschärfen, fruchteten nicht. Die Umsetzung eines von Michel fazilitierten Abkommens blieb unvollständig. Nachdem die VNB als größte Oppositionspartei ihre Unterschrift vorerst verweigert hatte, zog im Juli 2021 der GT seine Unterstützung für das Abkommen zurück.
Erneute Straßenproteste im Juli betrafen zwar Innen- und Außenpolitik nicht im engeren Sinn. Sie galten vor allem der Solidarisierung mit Zivilgesellschaft und Medienschaffenden, nachdem es zuvor zu massiver rechter Gewalt gegen LGBTQi-Personen, Aktivisten und Aktivistinnen sowie Medienvertretern und -vertreterinnen im Kontext der »Tbilisi Pride« gekommen war. Die Gewalt verweist darauf, dass antiliberale Narrative mehr politischen und diskursiven Raum bekommen. Auch wenn ultrakonservative und nationalistische Parteien in Wahlen bislang keine nennenswerten Erfolge einfahren konnten, haben außerparlamentarische und informelle, aber auch parteiliche und kirchliche Akteure Gebrauch von diesem erweiterten Raum gemacht, um Auseinandersetzungen über die »eigentliche« georgische Identität zu provozieren. Das wertliberale Fundament von »normative power Europe« wird so in Frage bzw. diesem wird ein »antiliberales Europa« entgegengestellt. Anknüpfungspunkte gibt es darin nicht nur zu rechtspopulistischen Strömungen innerhalb der EU, sondern auch zur antiliberalen, antiwestlichen Politik Moskaus. Diese Konvergenzen werden von (pro)russischen Akteuren, etwa in Desinformationskampagnen, genutzt.
Trotz der engen Beziehungen zu EU und USA hat Georgiens innenpolitische Entwicklung dort auch Irritationen hervorgerufen. Bereits 2019/20 machte eine Reihe Mitglieder von Senat und Repräsentantenhaus der USA ihre Besorgnis über mögliche Rückschritte in Georgiens Demokratisierung öffentlich. Auch seitens Institutionen und Mitgliedstaaten der EU wurde Sorge geäußert, etwa über eine womöglich stockende Umsetzung der politischen Reformen oder über Anfeindungen und Gewalt gegen sexuelle Minderheiten.
Russlands Ukraine-Invasion als Katalysator
Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine ab Februar 2022 hat auf das Nachbarland Georgien massive Auswirkungen. In Bezug auf die EU-Integration eröffnet Russlands Krieg Georgien durchaus Chancen, trotz der durch ihn bedingten weiteren Zuspitzung der prekären geopolitischen Lage: Im Juni 2022 erklärte Brüssel die Ukraine zusammen mit Moldau offiziell zum EU-Beitrittskandidaten und erkannte Georgien eine europäische Perspektive zu. Im Dezember 2023 steht die Entscheidung über die Verleihung des EU-Kandidatenstatus an. Damit wurde der Prozess der Antragstellung auf eine EU-Mitgliedschaft deutlich beschleunigt.
Gleichzeitig ist das Land wegen der Grenze zu Russland sowie der ohnehin schwierigen Beziehungen äußerst vulnerabel und als kleiner Nachbar besonders in Gefahr, Ziel einer möglichen Ausweitung russischer neoimperialer Aggression zu werden. Für 87% der Befragten in einer Umfrage des International Republican Institute vom März 2023 ist Russland das Land, das für Georgien die größte politische Bedrohung darstellt. Zwar fühlten sich etwas mehr der Befragten (54%) aufgrund des georgisch-russischen Verhältnisses eher oder sehr sicher als eher oder sehr unsicher (44%). Zugleich aber gaben 76% der Befragten an, Russlands Aggression gegen Georgien dauere nach wie vor an, und weitere 17% waren der Meinung, diese sei zwar beendet, aber wohl nur zeitweilig.
Für Georgiens Außenpolitik hat Russlands Vollinvasion den Kontext maßgeblich verändert. Bereits zuvor hatte die Regierungspartei versucht, sich als exklusive Vertreterin des legitimen Mehrheitswillens und als alleinige Hüterin der nationalen Interessen Georgiens aufzustellen. Damit verbundene Narrative wurden in der Zeit nach dem russischen Angriff auf die gesamte Ukraine fortentwickelt. Aus Sicht des Georgischen Traums ist es nun Georgiens Kerninteresse – und Kernverdienst des GT –, mittels der Politik der »strategischen Geduld« ein Übergreifen des russischen Krieges auf das eigene Land sowie einen politischen Umsturz zu verhindern und stattdessen Stabilität, Frieden und wirtschaftlichen Aufschwung zu bewahren.
Rhetorische Manöver
Nicht zuletzt auf die Rhetorik des Georgischen Traums wirkt der Beginn der russischen Vollinvasion wie ein Katalysator. In den Monaten nach dem 24. Februar 2022 haben GT-Vertreter das Narrativ aufgegriffen und verbreitet, es formiere sich eine »globale Kriegspartei«, die im Verbund mit Georgiens politischer Opposition auf einen politischen Umsturz hinwirke und darauf, das Land durch die Eröffnung einer »zweiten Front« in den Krieg hineinzuziehen. Derart äußerten sich etwa Premier Irakli Garibaschwili, Außenminister Ilia Dartschiaschwili und Parteichef Irakli Kobachidse. Premier Garibaschwili hatte die von vielen seiner Landsleute als zu passiv empfundene Haltung der Regierung zur Ukraine mit dem Argument begründet, er folge damit lediglich dem »nationalen Interesse«. Auch Parteigründer Bidsina Iwanischwili, der vielen weiterhin als graue Eminenz des Georgischen Traums gilt, sprach in einem offenen Brief vom Juli 2022 von »bestimmten Mächten, die aktiv versucht haben, Georgien in den Krieg zu verwickeln«, sowie von der erfolgreichen »Neutralisierung« einer solchen Gefahr durch den GT.
Auf diese Weise haben GT-Vertreterinnen und Vertreter seit Februar 2022 das bisherige Narrativ im Sinne des GT fortentwickelt. Zuvor hatte dieser den Topos einer georgischen »radikalen Opposition« genährt. Damit hatte er besonders die ehemalige Regierungspartei VNB, aber immer öfter auch (kritische) zivilgesellschaftliche Organisationen und Medien im Blick. Nun hat er diesen Topos zunehmend in jenen einer »Art Kriegspartei« bzw. »globalen Kriegspartei« überführt, zu der, so wird insinuiert, auch Akteure aus der Ukraine, USA und EU zählen. Angesichts Georgiens geopolitischer Vulnerabilität kann derlei Framing an eine spezifische Historie der Bezichtigung des Verrats anknüpfen. Diese wird genutzt, um politische Wettbewerber zu diskreditieren. Sie findet Resonanz in der Bevölkerung, weil sie durch tiefsitzende Ängste und Wahrnehmungen eines kleinen Landes im Einflussgebiet imperialer Politik im kollektiven Gedächtnis verankert ist.
Die Politik westlicher Partner, besonders des Europäischen Parlaments oder der US-Botschaft, wird von Vertreterinnen und Vertretern der Regierungspartei sowie ihr nahestehenden Akteuren immer öfter als ungebührliche »Einmischung« von außen gerahmt, und kritischere Stellungnahmen zur Politik des GT als ehrverletzend gegenüber dem georgischen Volk. Eine wichtige Rolle für das Einbringen solcher Framings in die Debatte haben ab Sommer 2022 einige GT-Vertreter übernommen, die sich damals von ihrer Partei trennten und als »Macht des Volkes« neu formierten, ohne allerdings die Mehrheitsfraktion im Parlament zu verlassen. Zwar erfolgte laut eigenen Aussagen die Abspaltung mit dem Ziel, die georgische Gesellschaft umfassend zu informieren, um die nationalen Interessen zu schützen. Eine Reihe einschlägiger Formulierungen, die von Macht des Volkes eingebracht worden waren – etwa die, externe (Groß-)Mächte würden den Sturz der Regierung oder die Errichtung einer zweiten Front in Georgien planen –, gingen indes bald in den Sprachgebrauch des Georgischen Traums über. Macht des Volkes hatte zunächst auch das kontroverse Gesetzesvorhaben zur »Transparenz ausländischer Einflussnahme« lanciert, dem für den Fall der Annahme negative Auswirkungen auf Zivilgesellschafts- und Medienlandschaft attestiert wurden und das für Brüssel unvereinbar mit EU-Werten war.
In der Rhetorik der Regierungspartei wurde immer häufiger die Verteidigung der nationalen Würde und des nationalen Interesses gegen (wert)liberale Positionen in Stellung gebracht, die georgische Traditionen unterminieren würden. Führende GT-Vertreter und ‑Vertreterinnen versehen eigene Positionen immer öfter mit einer wertkonservativen, bisweilen rechtspopulistischen Färbung. Eine solche Einbettung der eigenen Politik stellte Parteichef Kobachidse explizit einem »liberalen Faschismus« entgegen, ein Begriff, der unter anderem im Alt-Right-Milieu, aber auch in russischer Staatspropaganda zu finden ist. Kobachidse verwendete ihn im Nachgang der Proteste um das umstrittene Gesetz zu »ausländischer Einflussnahme« für kritische Journalistinnen und Journalisten, NGO-Vertreter und ‑Vertreterinnen sowie Oppositionsparteien und Universitätsangehörige. Deren Aktionen richteten sich, so Kobachidse, gegen die Orthodoxe Kirche, den Frieden und letztlich die georgische Identität. Premier Garibaschwili sieht diese, wie er im Mai 2023 bei der »Conservative Political Action Conference« in Budapest äußerte, zusammengefasst in der Losung »Gott, Heimat, Mensch«. In die EU wolle man allein »mit Christentum, […] mit Souveränität, […] mit Würde«. Hinter dieser Hinwendung zu nationalkonservativen Positionen muss nicht unbedingt eine genuine (Re-)Ideologisierung von Politik stehen als eher machttaktische Gründe, nicht zuletzt mit Blick auf die Parlamentswahlen im Herbst 2024.
Worte und Taten
Schon einen Tag nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine vom Februar 2022 erklärte Premierminister Garibaschwili, Georgien werde sich den westlichen Sanktionen gegen Russland nicht anschließen, um seinem Land keinen »Schaden zuzufügen«. Man werde weiterhin dem »pragmatischen, den nationalen Interessen angepassten Ansatz« folgen, der Frieden und Stabilität gewährleiste. Die Sanktionen gegen Russland wertete der Premier als ineffektiv. Seit Beginn der russischen Vollinvasion der Ukraine haben sich die georgisch-russischen Handelsbeziehungen vertieft. Im Gegensatz zu den anderen Haupthandelspartnern Türkei und China, aber auch der EU-27 ist der prozentuale Anteil Russlands am georgischen Gesamthandel von 2021 auf 2022 gewachsen. Laut Daten des georgischen Statistikamts belief sich der Handel mit Russland 2022 auf rund 2,5 Milliarden US-Dollar, 2021 waren es gut 1,6 Milliarden gewesen. Zudem ließen im Jahr 2022 Staatsbürgerinnen und Staatsbürger der Russländischen Föderation mehr Unternehmen (14.977) in Georgien registrieren als von 2012 bis 2021 insgesamt. Das reflektiert auch den (zumindest temporären) enormen Zuzug aus Russland seit der russischen Vollinvasion und der Mobilmachung im Herbst 2022. Dieser Zuwachs bedeutet nicht automatisch mehr strukturelle Abhängigkeit für Georgien. Bei den euroatlantischen Partnern allerdings hat das in den georgisch-russischen Wirtschaftsdaten abgebildete Wachstum die Frage möglicher Sanktionsumgehung aufgeworfen. Auf einer gemeinsamen Reise der Sanktionsbeauftragten aus EU, USA und Großbritannien in die Region machten diese Ende Juni 2023 auch in Tbilisi zu Gesprächen Station. Obwohl mit Bezug auf Parallelimporte regelmäßig auch Georgien genannt wird und besonders die Re-Exporte nach Russland von dort 2022 zugenommen haben, sind Sanktionsumgehungen nicht belegt.
Sicherheitspolitisch ist die praktische Zusammenarbeit mit der Nato und den westlichen Partnern weiterhin eng, vor allem im Rahmen des Substantial Nato-Georgia Package. Auf politischer Ebene wurden allerdings auch seitens des Bündnisses politische Reformen angemahnt, ähnlich den Empfehlungen der EU, so in Äußerungen des Sonderbeauftragten des Nato-Generalsekretärs für die Region oder beim Vilnius-Gipfel der Nato im Juli 2023. Der georgischen Regierung wiederum haben einige Beobachterinnen und Beobachter eine gewisse, zumindest rhetorische Distanzierung zur Nato vorgehalten. Grund dafür waren nicht zuletzt die viel beachteten Aussagen des georgischen Premiers beim diesjährigen GLOBSEC-Forum zum angeblichen kausalen Zusammenhang zwischen Nato-Erweiterung und Russlands Vollinvasion der Ukraine. Eine generellere »Nato-Müdigkeit« scheint aber auch damit verknüpft, dass sich Georgiens Nato-Perspektive seit 2008 nicht wesentlich konkretisiert hat. Aus GT-Kreisen wird zudem neben fehlenden Sicherheitsgarantien darauf aufmerksam gemacht, dass im russisch-georgischen Krieg 2008 eine ähnliche Welle der Unterstützung wie jetzt für die Ukraine ausblieb. Was militärische Hilfe für die Ukraine betrifft, hat Georgien an Sitzungen des Ramstein-Formats zur Unterstützung der Ukraine teilgenommen. Laut Georgiens Botschafter bei der Nato sei die Einladung dazu von »historischer Bedeutung« gewesen. Gleichzeitig haben bilaterale Unstimmigkeiten über die Abgabe militärischen Geräts an die Ukraine durch Tbilisi weitere Kontroversen zwischen den beiden Ländern ausgelöst. Schon zu Beginn der Invasion 2022 hatte Kyjiw die Unterstützung von Seiten der georgischen Regierung als unzureichend kritisiert und als Anlass dafür genannt, dass Anfang März 2022 der ukrainische Botschafter aus Georgien – bislang ersatzlos – abgezogen wurde.
Grenzen des Pragmatismus
Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine hat die Ambivalenzen und ungeklärten Fragen zwischen Georgien und seinen westlichen Partnern offengelegt bzw. unter das Brennglas gestellt: Zum einen hat Georgiens Antrag auf EU-Mitgliedschaft verstärkt die (ausstehende) Implementierung der politischen Reformen ins Blickfeld gerückt. Vor allem die Reform des Justizwesens, politische De-Polarisierung, die Stärkung der Unabhängigkeit staatlicher Institutionen und De-Oligarchisierung sind zentrale Aspekte der von Brüssel gesetzten zwölf Prioritäten dafür, Georgien den Status eines EU-Beitrittskandidaten zu gewähren. Gerade hier hatte Brüssel Fortschritte angemahnt. Zum anderen führt die bislang fehlende Mitgliedschaft Georgiens in der EU und erst recht der Nato ein weiteres Mal vor Augen, wie verwundbar das Land angesichts der russischen Aggression ist. Das betont auch die georgische Regierung, ebenso die Tatsache, dass Georgiens westliche Partner die Politik einer Normalisierung der Beziehungen mit Russland vor 2022 lange selbst begrüßt hatten.
Es war nicht zuletzt auch die Politik der westlichen Partner, die Georgiens Liminalität, den Schwebezustand zwischen »Ost« und »West«, perpetuierte. Dennoch dürfte man in Brüssel und Washington die Frage mittlerweile anders bewerten, ob angesichts des stark veränderten geopolitischen Umfelds die georgische Politik von Pragmatismus und »strategischer Geduld« vis-à-vis Russland und die Integration in euroatlantische Institutionen weiterhin parallel fortgeführt werden können. In diese Richtung weisen etwa die negativen Reaktionen auf die Wiederaufnahme der Direktflüge zwischen Russland und Georgien. Daran schließt sich die Frage an, welche Konsequenzen der regierende Georgische Traum daraus für sich ableitet – und wie sich das wiederum in den Beziehungen zu EU, USA und Nato niederschlägt.
Auffällig ist, dass sich in Bezug auf eine Konvergenz in außen- und sicherheitspolitischen Fragen, die Teil des EU-Integrationsprozesses ist, eher ein Negativtrend abzeichnet: Hatte sich Tbilisi 2020 noch in 61% der Fälle außen- und sicherheitspolitischen Positionen der EU angeschlossen, lag die Rate 2022 bei 44%. Für das laufende Jahr (Stand August 2023) wurde eine vorläufige Übernahmerate von 43% errechnet. Beim letzten Nato-Gipfel in Vilnius spielte Georgien zudem keine nennenswerte Rolle. Dass das Land sich in einer äußerst prekären geopolitischen Lage befindet und das Navigieren in einem solchen Umfeld besonders herausfordernd ist, wird auch seitens der westlichen Partner konzediert. Solch eher nüchterne Betrachtungen des Verhältnisses Georgiens zu seinen Partnern vor dem Hintergrund der komplexen sicherheitspolitischen Herausforderungen werden allerdings überlagert von Tbilisis deutlich veränderter Rhetorik gegenüber EU, USA und Nato. Neben der Unterstellung, die Politik westlicher Partner sei darauf ausgerichtet, in Georgien eine »zweite Front« zu eröffnen, sorgten unter anderem Tbilisis Anwürfe in Richtung Europäisches Parlament, einzelner EP-Abgeordneter oder der (vormaligen) US-Botschafterin in Georgien für Befremden – desgleichen konkrete Schritte wie das geplante »Gesetz zur Transparenz ausländischer Einflussnahme«. Dass es im Kontext der »Tbilisi Pride Week« im Juli 2023 zudem erneut zu Ausschreitungen kommen konnte, werteten westliche Partner auch als staatliches Versäumnis.
Verknüpfung von Innen und Außen
Die öffentlich ausgetragenen Unstimmigkeiten zwischen Tbilisi und Kyjiw können teilweise als Ergebnis der Politik der »strategischen Geduld« gesehen werden, hat Kyjiw doch offenbar umfänglichere Unterstützung erwartet. Gleichzeitig ist das beiderseitige Verhältnis auch auf die Verflechtung von Innen- und Außenpolitik zurückzuführen, denn eine Reihe ehemaliger VNB-Vertreter haben eine neue politische Heimat in der Ukraine gefunden. Der politische Kurs Georgiens wird indes nicht mehr nur zwischen Regierung, Opposition und (Zivil-)Gesellschaft verhandelt. Er entzweit mittlerweile auch die Exekutive. Bislang eklatantester Beleg dafür ist das vom Georgischen Traum angestrengte, letztlich gescheiterte Verfahren zur Amtsenthebung gegen Präsidentin Surabischwili: Die Regierungspartei wirft ihr eine missbräuchliche, weil außenpolitisch (zu) aktive Amtsausübung vor, während Surabischwili sich in ihrem Pro-EU-Kurs sabotiert sieht.
Georgische Akteure wissen sich im machtpolitischen Wettbewerb durchaus der Liminalität ihres Landes zu bedienen. Ausdruck davon ist auch das Nebeneinander (in sich vielschichtiger) Diskurse. Mögen im Fall des Georgischen Traums nicht an erster Stelle außenpolitische und ideologische Überzeugungen, sondern innen- und machtpolitische Aspekte eine wesentliche Rolle für die Dissonanzen in den Beziehungen zu den westlichen Partnern spielen, allen voran der Machterhalt mit Blick auf die kommenden Parlamentswahlen 2024, so ist indes auch klar: Sprache ist performativ. Und kommunikative Verwerfungen mit Brüssel und Washington sind damit kaum nur eine Art temporärer kommunikativer Kollateralschaden, sei es innenpolitischer Machtkonsolidierung, sei es der Politik der »strategischen Geduld« vis-à-vis Russland.
Zweifel sind daher angebracht, ob ein Fortführen der Politik der »strategischen Geduld« bei gleichzeitigen antiwestlichen Einlassungen (und einer Reihe fragwürdiger politischer Schritte) tatsächlich ein pragmatisches Erfolgsmodell für Außenpolitik in unsicheren Zeiten darstellt, das alle Optionen offenlässt. Damit verbundene Fragen dürften über die Mitte Dezember 2023 erwartete Entscheidung zur Verleihung des Kandidatenstatus hinaus für die EU relevant bleiben.
Wie weiter?
Am 8. November 2023 hat die Europäische Kommission die Empfehlung ausgesprochen, Georgien den EU-Kandidatenstatus zu verleihen. Mitte Dezember müssen dem noch die Mitgliedstaaten zustimmen. Unabhängig von der finalen Entscheidung ist es für Auftritt und Einfluss der EU gegenüber Tbilisi zentral, dass sie im Verbund mit den Mitgliedstaaten ihre Positionen klar und kohärent kommuniziert. Zum einen sollte sie deutlich benennen, wenn die georgische Regierung in Widerspruch zu EU-Standards und -Werten agiert. Bereits in diese Richtung weist, dass die Europäische Kommission zusätzlich zu den ausstehenden Reformen Fortschritte in drei weiteren Bereichen einfordert, nämlich die verstärkte Angleichung der Außenpolitiken, die Eindämmung antiwestlicher und gegen EU-Werte gerichteter Desinformation sowie die Durchführung freier und fairer Wahlen, besonders mit Blick auf 2024. Zum anderen sollte die EU erläutern, wie die eigene (kurz-, mittel- und langfristige) strategische Vision für das Land und die Region insgesamt aussieht. Dass Georgien etwa im August 2023 beim informellen Gipfel der EU-Aspiranten in Athen (Länder des westlichen Balkans plus Ukraine und Moldau) fehlte und in der Erklärung nicht genannt wurde, hat ambivalente Signale nach Tbilisi und an die georgische Bevölkerung gesendet.
Für eine konkrete strategische Vision und Voraussetzungen ihrer sukzessiven Realisierung ist es notwendig, dem EU-Anspruch, ein geopolitischer Akteur zu sein, Stringenz zu verleihen, die vorhandenen Bausteine des EU-Engagements stärker zu verbinden und bestehende wie zukünftige Instrumente effektiver zu nutzen. Die Formulierungen der zwölf Prioritäten haben durchaus politischen und interpretatorischen Spielraum gelassen – für die EU, aber auch für die georgischen Partner. Auch die neuen Punkte sind eher allgemeiner verfasst. Klare Formulierungen von Konditionalitäten und Benchmarks garantieren zwar nicht per se eine bessere Umsetzung. Dafür bedarf es vor allem des politischen Willens auf Partnerseite. Sie tragen aber dazu bei, Aspekte wie Rechenschaftslegung und effektives Monitoring, auch durch georgische zivilgesellschaftliche Watchdogs, zu stärken. Klare Formulierungen sind nicht zuletzt auch dafür wichtig, einer Politisierung oder Manipulation von EU-Konditionalitäten entgegenzuwirken.
Nötig für größere Leverage der EU ist zudem nachhaltige politische Rückendeckung für Brüssel seitens der EU-Mitgliedstaaten. Deren Äußerungen finden in Tbilisi durchaus Gehör. Berlin sollte hier, zusammen mit den anderen EU-Hauptstädten, eine vernehmliche Stimme sein.
Zugleich gilt es, auf EU-Seite für weichenstellende Anpassungen bereit zu sein. Nur durch diese können Brüssels erklärte Absichten, die es in Hinblick auf mögliche Beitrittshorizonte hegt, innerhalb der EU, aber auch vis-à-vis den EU-Aspiranten plausibel gemacht werden. Eine konkrete strategische Vision für Georgien und die Region müsste daher die notwendigen Reformen auf EU-Seite elementar miteinbeziehen.
Georgiens sicherheitspolitischen Herausforderungen versucht die EU mit der 2021 ins Leben gerufenen Europäischen Friedensfazilität besser Rechnung zu tragen. Im Mai 2023 hat Brüssel ein drittes Unterstützungspaket für Georgien verabschiedet. Die Flexibilität des Instruments ermöglicht es, das Engagement im Einvernehmen mit Tbilisi passgenau auszubauen. Eine parallele weitere Stärkung der Koordination zwischen EU und Nato hinsichtlich deren verteidigungspolitischer Unterstützung für Georgien würde helfen, Synergien in diesem Bereich sicherzustellen. Doch auch ein Ausbau der verteidigungspolitischen Zusammenarbeit dürfte Georgiens geopolitische Vulnerabilitäten auf absehbare Zeit nicht beseitigen. Erst recht bietet sie keine Antworten auf Fragen nach dem Umgang mit den ungelösten Konflikten um Abchasien und Südossetien. Will die EU eine konkrete und umfassende strategische Vision entwickeln, kommt sie nicht umhin, diese so sensiblen und vielschichtigen Kontexte, nicht zuletzt mit Blick auf eine weitere Annäherung Georgiens an die EU, stärker mitzudenken.
Dr. Franziska Smolnik ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien. Giorgi Tadumadze ist Forschungsassistent dieser Forschungsgruppe. Dr. Mikheil Sarjveladze war bis Ende August Gastwissenschaftler der Forschungsgruppe.
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DOI: 10.18449/2023A58