Im Unterschied zu seinen Vorgängern hat US-Präsident Joe Biden schon früh in seiner Amtszeit wichtige Entscheidungen getroffen, um eine bessere Koordination der amerikanischen Arktispolitik zu ermöglichen. Dazu zählt auch die nationale Arktisstrategie. Sie kam infolge des russischen Angriffskriegs später als geplant: Russland hat damit die wenigen, noch verbliebenen Hoffnungen auf Zusammenarbeit zerstört und die Arktis zu einem Thema der Sicherheitspolitik gemacht. Alaska steht als der nördlichste Bundesstaat naturgemäß im Mittelpunkt der US-Arktispolitik, die zunehmend auch chinesische Aktivitäten berücksichtigen muss. Zuletzt entdeckte die US-Küstenwache im September 2022 chinesische und russische Kriegsschiffe vor Alaska. Derzeit steht nur ein einziger US-Eisbrecher kontinuierlich für die Arktis zur Verfügung, der die Souveränität im Eismeer schützen und Seeräume mit Eisbedeckung überwachen kann. Der US-Bundesstaat lag auch auf der Route des chinesischen Spionageballons, der im Februar 2023 abgeschossen wurde. Gibt es nun nach Jahrzehnten mangelnder Aufmerksamkeit eine engagiertere Sicherheitspolitik der USA in der Arktis?
Alaska ist mit einer Ausdehnung von 1,7 Millionen Quadratkilometern die flächenmäßig größte Exklave der Welt. Seine Anbindung an das Zentrum ist für die Vereinigten Staaten nach wie vor ein aufwendiges Unternehmen – wenn auch in geringerem Maße als einst Russisch-Amerika für das Zarenreich. Seitdem die Vereinigten Staaten von Amerika 1867 den heutigen Bundesstaat Alaska für 7,2 Millionen Dollar vom zaristischen Russland erworben haben, sind sie ein Arktisanrainer. Allerdings liegt mit 15 Prozent der geringste Teil ihres Territoriums jenseits des nördlichen Polarkreises (im Gegensatz zu Russland mit 45 Prozent).
Dies ist eine der Ursachen dafür, dass die meisten US-Amerikanerinnen und Amerikaner keinen Bezug zur Arktis haben. In einer Umfrage vom letzten Quartal 2019 waren sie daher mehrheitlich »nicht ganz einverstanden« mit der Behauptung, dass die Vereinigten Staaten eine arktische Nation mit umfassenden und grundlegenden Interessen in der Region seien. Wenn US-Bürgerinnen und Bürger befragt werden, welche Assoziationen sie mit der Arktis verbinden, werden keine nationalen Belange genannt, sondern am häufigsten Kälte, Eis und Klimawandel. Die meisten halten Abstand zu Alaska, das erst im Januar 1959 als 49. Bundesstaat aufgenommen wurde und den Beinamen »Last Frontier« trägt. Auch sicherheitspolitisch stand Alaska als nördlichster Bundesstaat buchstäblich am Rande. Eminente politische und wirtschaftliche Bedeutung hat die Ölförderung, seit im Jahr 1968 mit Prudhoe Bay Oil Field die größte Erdöllagerstätte in Nordamerika entdeckt wurde. Die Ölproduktion liefert den Hauptteil der Einnahmen des Bundesstaats.
Die Unterstützer einer aktiven Arktispolitik waren daher lange auf sich allein gestellt. Seit 2009 versuchten sie erfolglos, den US-Kongress zur Bewilligung neuer Eisbrecher zu bewegen. Darum bemühte sich auch die republikanische Senatorin Lisa Murkowski aus Alaska, die den Staat seit 2002 vertritt. Vor allem ihr ist es zu verdanken, dass 2015 mit dem Arctic Caucus der erste Ausschuss im Kongress etabliert wurde, der die Aufmerksamkeit auf die Politik im hohen Norden lenkt.
Andere politische Repräsentanten Alaskas versuchten, die sicherheitspolitische Bedeutung ihres Staates hervorzuheben: »Alaska is America’s Arctic guardian«, erklärte Gouverneur Sean Parnell (2009–14), und sein Nachfolger William Walker wies Präsident Barack Obama auf einem Flug nach Anchorage im September 2015 auf die größte Aufrüstung des russischen Militärs seit dem Kalten Krieg hin. Das Pentagon vertrat dagegen noch im Dezember 2016 die Auffassung, dass die Arktis ein Gebiet der Kooperation bleibe, selbst wenn es gewisse Reibungen mit Russland wegen der Seewege gebe – eine milde Beschreibung höchst kontroverser Auffassungen über die Nordostpassage.
Klimaveränderung, Konflikte über Seewege und Großmachtrivalität als Treiber des Wandels
Das klimabedingte Abschmelzen des Meereises, die damit einhergehende Öffnung arktischer Seewege und die sich verschärfende Großmachtrivalität haben die Wahrnehmung des Nordpolargebiets verändert. Im Unterschied zu früheren Regierungen maß die Administration von Donald Trump der nordpolaren Region nun »relative Priorität« zu. Außenminister Mike Pompeo beförderte sie im Mai 2019 zur geopolitisch bedeutsamen »Arena« im Kampf um Macht und Einfluss, in der ein »neues Zeitalter des strategischen Engagements« anbreche. Dieser wortreichen und etwas voreiligen Überhöhung der Arktis folgten Strategiepapiere der Teilstreitkräfte, die viele Allgemeinplätze, aber wenig konkrete Maßnahmen enthalten.
Die im Juni 2019 veröffentlichte Arktisstrategie des Pentagon wich aber eklatant vom früheren kooperativen Ansatz ab und richtete gleich eingangs den Fokus auf »China und Russland als zentrale Herausforderung für langfristige Sicherheit und Wohlstand der USA«. Die Arktis sei, so heißt es in der Diktion des Kalten Krieges, »ein potentieller Vektor für einen Angriff auf das US-Heimatgebiet«. In den Mittelpunkt der Bedrohungsperzeption waren neben Russland nun auch die Streitkräfte Chinas geraten. In der US-Marinestrategie »Blue Arctic« werden »zunehmende Einsätze der chinesischen Marine in, unter und über arktischen Gewässern« erwartet. Wegen des im Vergleich zu anderen Staaten extrem hohen Tempos der militärischen Aufrüstung Chinas erhalten maritime Lagebilder und die U-Boot-Kriegsführung wieder eine hohe Priorität.
Im September 2022 entdeckte ein Schiff der US-Küstenwache (U.S. Coast Guard, USCG) wieder einmal unerwartet russische und chinesische Kriegsschiffe – eines der sieben Schiffe war der neueste Lenkwaffenzerstörer vom Typ 055 Nanchang –, die im Beringmeer innerhalb der Ausschließlichen Wirtschaftszone der USA navigierten. USCG-Vizeadmiral Kevin Lunday erklärte später, es sei wichtig gewesen, dass USCGC Kimball vor Ort war – was als Eingeständnis der mangelnden Anzahl von Schiffen gelten kann, die der US-Küstenwache zum Schutz amerikanischer Souveränität im Nordpolarmeer zur Verfügung stehen. Es gibt auf amerikanischer Seite beträchtliche Defizite bei der Aufklärung in der Arktis. Jenseits des 72. Breitengrads, so bekannte der ehemalige Chef der USCG, Admiral Paul Zukunft, werde es »ziemlich dunkel«.
Schon im September 2015 hatten fünf chinesische Kriegsschiffe die Gewässer vor Alaska durchquert und seit 2021 kreuzen Pekings Seestreitkräfte immer wieder vor dem nördlichsten US-Bundesstaat – nun auch im Verbund mit Schiffen der russischen Marine. Die US-Küstenwache warnte daher mit Blick auf China und dessen Verhalten im Südchinesischen Meer, dass die Volksrepublik auch in der Arktis bemüht sein könnte, die Freiheit der Schifffahrt einzuschränken.
Die Arktispolitik der Biden‑Administration
Präsident Biden war zu Beginn seiner Amtszeit mit einer langen Reihe innen- und außenpolitischer Probleme konfrontiert. Manche befürchteten daher, dass die Arktispolitik wieder in einer Ecke im Außenministerium verstauben werde. Im Pentagon ist die Nordpolarregion einer von vielen unterfinanzierten Zuständigkeitsbereichen, der mit dem Indopazifik als Brennpunkt sino-amerikanischer Rivalität konkurriert. Anders als viele martialische Dokumente der Trump-Zeit signalisierte die US-Marinestrategie noch im Jahr 2020 Entspannung mit Blick auf die Arktis.
In Unterschied zu seinen Vorgängern traf Biden aber schon frühzeitig Entscheidungen, die eine bessere Koordination der Arktispolitik erlauben: Im September 2021 reaktivierte die Administration das Arctic Executive Steering Committee (AESC) unter Leitung von David Balton und verankerte es im Weißen Haus. Außerdem berief sie sechs Personen in die U.S. Arctic Research Commission (USARC) unter Vorsitz von Mike Sfraga, der von Biden auch zum Koordinator für die Arktis im Botschafterrang nominiert wurde. Generalmajor a.D. Randy »Church« Kee ist seit 2021 Senior Advisor for Arctic Security Affairs und leitet das neue Ted Stevens Center for Arctic Security Studies in Anchorage. Im September 2022 wurde im Pentagon eine Arktisabteilung unter Leitung von Iris Ferguson etabliert. Ähnlich wie Pompeo betrachtet Ferguson die Arktis als »potentiellen Zugang zum Heimatland und als potentiellen Schauplatz für den Wettbewerb der Großmächte«.
Alaska und Russlands Angriffskrieg
Gleichermaßen skurril und aufschlussreich für den Zustand der amerikanisch-russischen Beziehungen ist die von einem Berater Putins geäußerte Idee, als Kompensation für Schäden, die durch Sanktionen und den Krieg selbst verursacht wurden, eine »Rückgabe« Alaskas zu fordern. Aber zum einen ist die Verwechslung von Ursache und Wirkung signifikant – Russland muss selbst für die Kosten seines Angriffskriegs aufkommen. Zum anderen wurde Alaska 1867 nicht von den USA »beschlagnahmt«, wie der Vorwurf lautet. Der Verkauf Russisch-Amerikas war aus Sicht damaliger russischer Akteure eine sehr rationale Entscheidung und entsprach dem geringen Interesse, das der entlegenen Kolonie in der damaligen Hauptstadt Sankt Petersburg noch entgegengebracht wurde: Das russische Engagement im Nordpazifik hatte sich aus der Perspektive des imperialen Zentrums mehr und mehr zur Belastung entwickelt: Das »auf Expansion, Ausbeutung und Unterwerfung basierende Herrschaftsmodell des russischen Staates« (Robert Kindler) war an seine Grenzen gestoßen; das Imperium konnte seine arktische Kolonie weder versorgen noch verteidigen.
Ein ähnliches Desinteresse hat Washington lange im Hinblick auf Alaska im Allgemeinen und auf arktische Einsatzmittel wie Eisbrecher im Besonderen gezeigt. Nun will es sich stärker in der Nordpolarregion engagieren, wozu auch Russlands Krieg beigetragen hat.
Der Angriff auf die Ukraine hat für Moskau viele kontraproduktive Wirkungen gezeitigt, darunter eine Stärkung der EU und der Nato sowie eine Erweiterung der Allianz um Finnland und Schweden, zwei ehemals militärisch neutrale Arktisstaaten. In Washington zwang der Krieg Präsident Biden zu einer grundlegenden Revision seiner Politik: Zu Beginn seiner Amtszeit hatte Biden eine stabile Beziehung mit Russland angestrebt, um den Fokus auf China als maßgeblichen Konkurrenten im strategischen Wettbewerb legen zu können. Zur Freude Putins nannte Biden bei ihrem Treffen in Genf im Juni 2021 Russland und die USA »zwei große Mächte« und revidierte damit Obamas frühere Herabwürdigung Russlands zu einer Regionalmacht (wobei zugleich die Großmachtrivalität als Leitprinzip aufgegeben wurde). Die Arktis galt als eine Region, in der die beiden gewichtigen Akteure zusammenarbeiten könnten, trotz erheblicher Meinungsunterschiede in anderen Bereichen. Damit war die vage Hoffnung verbunden, dass sich Putin in seinem außenpolitischen Verhalten mäßigen werde, da er nun die ihm so wichtige Anerkennung als ebenbürtige Macht erhalten hatte – was sich als falsch erwies.
Als Folge des Angriffskriegs ist die Zusammenarbeit zwischen Russland und den USA in der Arktis nahezu vollständig zum Erliegen gekommen; Ausnahmen sind die weiter notwendige Kooperation zwischen der US-Küstenwache und dem russischen Grenzschutz auf beiden Seiten der Beringstraße und die Aufrechterhaltung vertraglicher Verpflichtungen, die sich unter anderem aus dem Abkommen über den Such- und Rettungsdienst für die Luft- und Seefahrt ergeben.
Die neue Arktisstrategie der USA
Trotz der Spannungen mit Russland wird in der neuen nationalen Arktisstrategie vom Oktober 2022 die Vision einer friedlichen, stabilen und prosperierenden Arktis beschworen, deren Geschicke kooperativ gelenkt werden. Ohne die Sicherheitsrisiken unterschätzen zu wollen, bleibt das Nordpolargebiet in der Tat eine Region, in der die Lage im Vergleich zu anderen Weltregionen friedlich ist. In diesem Sinne folgen die USA einer Doppelstrategie: Einerseits sind sie entschieden, aggressives Verhalten Russlands oder Chinas einzuhegen, andererseits wollen sie Stabilität – auch und gerade in der Arktis – erhalten, um zu einem späteren Zeitpunkt zur Kooperation zurückkehren zu können. Der Angriffskrieg macht es Washington jedoch unmöglich, die Politik Moskaus in der Arktis vom Krieg in Europa zu trennen. Die Arktische Zone ist zudem ein Unterpfand der chinesisch-russischen Zweckfreundschaft, wie die Gesprächsthemen beim Besuch von Xi Jinping in Moskau gezeigt haben: China will Zugriff auf Energie und die Nördliche Seeroute.
Während die Interim-Version der nationalen Sicherheitsstrategie der USA vom März 2021 die Arktis gar nicht erwähnte, ist die Region nun zu einer nationalen Priorität geworden. Das macht es leichter, entsprechende Planungsprozesse und deren Finanzierung anzugehen – wenngleich die Arktis in dem Dokument, was die sicherheitspolitische Aufmerksamkeit angeht, erst an letzter Stelle hinter dem Indopazifik, Europa, Nahost und Afrika rangiert.
Als die vier tragenden Pfeiler der Arktisstrategie werden genannt: An erster Stelle Sicherheit (1), danach Klimawandel und Umweltschutz (2), nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung (3) sowie internationale Kooperation und Governance (4). Mit Blick auf das erste strategische Ziel, das dem Pfeiler Sicherheit gilt, nämlich »unser Verständnis des operativen Umfelds in der Arktis zu verbessern«, platziert sich die USA allerdings im hinteren Feld des strategischen Wettbewerbs mit Russland und selbst China, das nicht nur Forschung in der Arktis vorantreibt, sondern bald sogar über mehr Eisbrecher als die USA verfügen könnte. Und während das Strategiepapier weitläufig auf den Klimawandel eingeht, wird der größere arktische Raum jenseits Alaskas ignoriert und soll US-Präsenz zur Abschreckung, Aufklärung und für Notfalleinsätze nur »wo notwendig« gezeigt werden – eine aus Sicht vieler Arktisexperten kurzsichtige Programmatik. Auch die im Oktober 2022 publizierte Strategie der Küstenwache bleibt vage.
In Übereinstimmung mit der Sicherheitsstrategie wird in der Arktisstrategie konstatiert, dass Russlands Krieg in der Ukraine geopolitische Spannungen in der Arktis erhöht und neue Risiken unbeabsichtigter Konflikte geschaffen habe. Allerdings bleibt die Sicherheitsstrategie vorsichtig, was konkrete Präsenz in der Arktis betrifft. Die US-Verteidigungsstrategie ist an diesem Punkt ebenfalls zurückhaltend und wahrt ihren Fokus auf den Indopazifik. In der Arktisstrategie wird allgemein postuliert: »Wir werden Bedrohungen des US-Heimatlands und unserer Alliierter abschrecken, indem wir die Fähigkeiten verbessern, die zur Verteidigung unserer Interessen in der Arktis erforderlich sind.« Als Mittel dazu werden Investitionen in Aufklärung (Maritime Domain Awareness) und Eisbrecher genannt. Eine Eskalation soll vermieden werden, da es in den nächsten Jahren möglich sein könnte, die Zusammenarbeit mit Russland unter bestimmten Bedingungen wiederaufzunehmen.
Wichtige Akzente setzt die Administration in Sachen Klimawandel, indem sie die Resilienz indigener Völker zu stärken und klimaschädliche Emissionen zu reduzieren beabsichtigt. Entsprechend will sie den Energiesektor Alaskas diversifizieren und eine Energiewende einleiten. Zugleich wird aber anerkannt, dass die Wirtschaft im nördlichsten Bundesstaat von der Förderung fossiler Energieträger abhängig bleibt.
Im Kontext internationaler Kooperation und Governance soll der Arktische Rat als multilaterales Forum erhalten werden. Die Administration zeigt sich jedoch offen für neue bilaterale und multilaterale Partnerschaften, um wissenschaftliche Zusammenarbeit voranzubringen und andere US-Interessen in der Arktis zu fördern.
Überraschend kurz geht die Arktisstrategie auf Forschung zum besseren Verständnis des Klimawandels in der Arktis ein, und die Frage, wie viel die USA für Forschung ausgeben, bleibt selbst für John Farrell, Direktor der USARC, ein Rätsel (Schätzungen reichen von 400 Millionen bis zu über einer Milliarde US-Dollar). Die MOSAiC-Expedition (Multidisciplinary drifting Observatory for the Study of Arctic Climate) unter Leitung des deutschen Alfred-Wegener-Instituts war 2019/20 die größte und längste internationale Forschungsmission (und war auf russische Eisbrecher angewiesen). Russland wird voraussichtlich ab 2023 auf einer navigierbaren Plattform mit einem Forschungsteam von bis zu 34 Personen autonom durch das Nordpolarmeer driften und damit eine bis zu zweijährige Präsenz in der Zentralarktis etablieren. Das Engagement der USA bleibt im Vergleich dazu minimalistisch. Aber Präsenz bedeutet Einfluss – in der Arktis gilt dies noch mehr als in anderen Regionen, in denen die Umweltbedingungen weniger anspruchsvoll sind.
Heather Conley, US-Arktisexpertin und Präsidentin des German Marshall Fund, kritisiert, dass die neue Arktispolitik wichtige geostrategische Veränderungen ignoriere. Die Arktis werde nur im Kontext der Anrainerschaft Alaskas als innenpolitische Thematik behandelt, bei der es um die Förderung natürlicher Ressourcen im nördlichsten Bundesstaat und die Politik gegenüber der indigenen Bevölkerung gehe, und nicht als internationale Angelegenheit. Am deutlichsten wird der defizitäre Ansatz beim Blick auf den blamablen Mangel an Eisbrechern.
Ein einziger Eisbrecher für die Arktis
Ein Ausdruck der distanzierten Haltung zur Arktis ist der fatale Umstand, dass die US-Küstenwache (USCG) nur über zwei Eisbrecher verfügt, obwohl der Mangel lange absehbar war und schon 2009 im Senat debattiert worden ist. Der schwere Eisbrecher USCGC Polar Star wird meist in der Antarktis zur Unterstützung der McMurdo-Station eingesetzt und hat längst seine Betriebsdauer überschritten (als Ersatzteillager fungiert die 2010 stillgelegte Polar Sea). Der mittelschwere Eisbrecher USCGC Healy ist seit 1999 meist in der Arktis im Dienst und war dreimal, zuletzt 2022, am Nordpol.
Nur Eisbrecher können ständige Präsenz in der Arktis gewährleisten. Aufgabe der USCG-Eisbrecher ist es, wissenschaftliche Forschung in den Polarregionen durchzuführen und zu unterstützen; die Souveränität und die nationalen Interessen der USA durch Präsenz in US-Hoheitsgewässern zu wahren und zu schützen; den Seeverkehr zu überwachen und andere Verpflichtungen einer Küstenwache (wie Such- und Rettungseinsätze, Strafverfolgung und Schutz der Meeresressourcen) wahrzunehmen.
Der erste neue schwere Eisbrecher soll 2026 oder 2027 an die Küstenwache ausgeliefert werden. Das Neubauprogramm umfasst drei schwere (Polar Security Cutter, PSC) und drei mittelschwere Schiffe (Arctic Security Cutters, ASC), wovon jedoch nur die beiden ersten PSC voll finanziert sind. Die Kosten für das PSC-Programm belaufen sich auf 2,7 Milliarden US-Dollar. Eine Eisbrecher-Flotte mit drei Schiffen würde die USA in einigen Jahren nach Russland (40), Kanada (9), Finnland (8) und Schweden (4) auf einen Rang vor China (2) setzen. Bei Anrechnung der Gesamtzahl eisgängiger Forschungs- und Patrouillenboote ergeben sich für Russland 57, Kanada 18, Finnland 10 und Dänemark 7 Schiffe. Hier liegen die USA mitsamt drei Schiffen der National Science Foundation (NSF) gleichauf mit Schweden (5), vor Norwegen (2) und China (2) sowie Deutschland (1).
Während sich die Nato im euroatlantischen Raum überwiegend auf Fähigkeiten der USA stützt, sind diese im arktischen Raum auf Eisbrecher der europäischen Verbündeten angewiesen. Dies spiegelt sich in der Arktisstrategie wider, in der das Ziel ausgerufen wird, die »Unity of Effort« mit Alliierten und Partnern zu maximieren. Tatsächlich aber bilden diese Anstrengungen für die USA die Grundlage für ein Minimum an arktischer Präsenz.
Als nationale Behörde hat die NSF für die US-Arktisforschung drei Forschungsschiffe mit eisbrechender Fähigkeit, die im Einsatz jeweils von Healy unterstützt werden. Aufgrund der wachsenden Bedeutung der Arktis und damit konkurrierender Aufgaben in der Antarktis wird die Frage diskutiert, ob kurzfristig Eisbrecher angemietet oder gekauft und langfristig mehr Schiffe eingeplant werden sollen; USCG-Admiral Karl Schultz nannte das Ziel einer Flotte von neun Eisbrechern (sechs PSC und drei ASC). Noch ist unklar, ob die Biden-Administration diesem Vorschlag folgen wird.
Im Dezember 2022 gab der Senat seine Zustimmung für ein Sammelausgabengesetz. Es enthält einen Betrag von etwa 500 Millionen US-Dollar für 130 Einzelmaßnahmen, die Alaska zugutekommen. Während Senatorin Murkowski über die Verabschiedung zufrieden war, stimmte ihr Amtskollege Dan Sullivan gegen das Ausgabengesetz, unter anderem, weil der Ankauf eines weiteren Eisbrechers namens Aiviq nicht enthalten war.
Die Arktis bietet nicht mehr Schutz
Washingtons jahrzehntelange, vergleichsweise entspannte Haltung zur Arktis ist darauf zurückzuführen, dass die USA aufgrund ihrer geographischen Lage einen natürlichen Vorteil gegenüber Ländern wie China oder Russland besitzen, die ihre Grenzen mit zahlreichen Nachbarstaaten teilen. Atlantik und Pazifik geben den USA eine Sicherheit, die nur ein ebenbürtiger Konkurrent auf der atlantischen oder pazifischen Gegenküste bedrohen kann. Arktische Sicherheitsfragen spielten für die USA daher nach dem Ende des Kalten Krieges selten eine Rolle. In einem Bericht der US-Marine von 2014 wurde bei den bis 2030 anzupeilenden Strategiezielen für die Nordpolarzone die militärische Sicherheit nicht einmal erwähnt. In der Sicherheitsstrategie von 2017 war die Region nur einmal beiläufig und in der Verteidigungsstrategie 2018 überhaupt nicht erwähnt worden.
Zunehmende russische Aktivitäten machten es jedoch erforderlich, dass die 6. Flotte der US-Marine als Demonstration der Stärke im Oktober 2018 erstmals seit 1991 wieder Präsenz im hohen Norden zeigte. Die Nato-Übung Trident Juncture war das größte Manöver seit dem Kalten Krieg: 50.000 Soldatinnen und Soldaten, 65 Schiffe und 250 Flugzeuge nahmen daran teil, darunter der Flugzeugträger USS Harry S. Truman, der dafür von seiner Route zum Arabischen Golf abwich. Die US-Streitkräfte demonstrierten damit ihr dynamisches Einsatzkonzept, das aus der Not zu wenig verfügbarer Schiffe eine Tugend machen soll. Ebenfalls mit Blick auf Russland wurde im August 2018 die 2. Flotte reaktiviert, deren Aufmerksamkeit während des Kalten Krieges den sowjetischen Seestreitkräften im Nordatlantik galt. Abermals operierte die 6. Flotte im Mai 2020 mit vier Zerstörern der Arleigh Burke-Klasse und einer britischen Fregatte nach Übungen in der Norwegensee auch in der Barentssee. Seitdem ist die US-Marine gemäß ihrer neuen Arktisstrategie »Blue Arctic« kontinuierlich im hohen Norden präsent, um ihre Fähigkeit zu Einsätzen unter den neuen Bedingungen eines rapide schmelzenden Meereises und zunehmend nutzbarer Seewege zu verbessern.
Die verstärkte Präsenz ist das Ergebnis einer veränderten Lage und Bedrohungswahrnehmung: »Die Arktis bildet nicht länger eine Festungsmauer und die Ozeane keine schützenden Wassergräben«, erklärte der Kommandeur von NORAD (North American Aerospace Defense), General Terrence O’Shaugnessy, im März 2020 vor dem Kongress. Die Arktisstrategie der US‑Luftwaffe verortet die Arktis nun im Schnittpunkt zweier für die US-Streitkräfte wichtiger Räume, nämlich Nordamerika (US Northern Command) und Indopazifik (US Indo-Pacific Command). Daher sollen gemäß der ersten Arktisstrategie der US-Luftwaffe dort die meisten Kampfflugzeuge der neuesten Generation stationiert werden. Joint Base Elmendorf-Richardson und Eielson Air Force Base in Alaska beherbergen dementsprechend mit 54 Flugzeugen vom Typ F-35 die weltweit größte Zahl dieser Kampfflugzeuge.
Als nördlichster Stützpunkt außerhalb der USA befindet sich auf der Thule Air Base im Norden Grönlands eine der größten Satellitenbodenstationen zur Weltraumüberwachung und Raketenfrühwarnung. Denn Raketen aus China oder Russland erreichen Ziele in den USA am schnellsten, wenn sie das Nordpolarmeer überfliegen. Russische U-Boote als Trägersysteme für ballistische Raketen sind zudem unter der Eisdecke relativ sicher vor Entdeckung. Auch deshalb trainieren US-Unterseeboote seit den 1960er Jahren in der Übung ICEX (Ice Exercise) die U-Boot-Jagd im Arktischen Ozean. Im März 2018 hielt die US-Marine nach zehnjähriger Pause wieder ein Manöver zusammen mit der britischen Marine ab: Als Höhepunkt der Übung durchbrachen die U-Boote USS Connecticut, USS Hartford und HMS Trenchant die Oberfläche des Eises und lieferten spektakuläre Bilder. Drei Jahre später gelang es erstmals drei russischen Atom-U-Booten, in einem ähnlich fotogenen Abstand von wenigen hundert Metern durch das anderthalb Meter dicke Eis aufzusteigen – ein Spiegelbild des geopolitischen Wettbewerbs im Eismeer.
Die Bedeutung der Arktis für die USA ist gewachsen. Die Nordpolarregion hat aber erst durch die neue Sicherheits- und Arktisstrategie 2022 den Rang einer nationalen Priorität erlangt. Dadurch werden sich künftig bürokratische Hürden überwinden lassen, die bislang Mittelzuwendungen erschwert haben. Nun herrscht großer Nachholbedarf.
Ein Beispiel ist die anstehende Erneuerung der Radaranlagen. Das North Warning System ist Teil der seit 1957 bestehenden nordamerikanischen Luftraumüberwachung NORAD, die auch für die Raketenfrühwarnung zuständig ist. Beide sind angesichts der Entwicklung hyperschallschneller Marschflugkörper veraltet (dagegen ist die Entdeckung von Spionageballons wie im Februar 2023 nur eine Frage der Einstellung technischer Parameter). Neben der Aufteilung der Kosten zwischen den USA und Kanada ist die Frage der Zusammenarbeit in der Raketenabwehr kontrovers. Technisch werden umfassende Lagebilder (All Domain Awareness) und ein mehrdimensionales System angestrebt, aber inwiefern Kanada auch Zugang zu satellitengestützten Daten erhalten soll, ist einer von vielen Punkten, die im Hinblick auf die NORAD-Modernisierung noch ungeklärt sind.
Darüber hinaus wird seit zwei Jahrzehnten erwogen, einen neuen Tiefwasserhafen zu bauen, der Küstenwache und Marine in Alaska eine dauerhafte Präsenz ermöglicht. Der am Beringmeer gelegene Küstenort Nome wurde 2020 dafür ausgewählt. Derzeit ist die US-Küstenwache in der Beringstraße nur wenig präsent, obwohl sich der Schiffsverkehr in der Meerenge von jährlich 130 Transits 2009 auf 347 Durchfahrten 2021 mehr als verdoppelt hat. Die 1997 deaktivierte Militärbasis auf der Aleuten-Insel Adak würde sich ebenfalls zur Seeraumüberwachung eignen, jedoch scheut die Marine bislang die Kosten für deren Reaktivierung. Stattdessen werden alliierte Basen bevorzugt, um Aktivitäten Chinas und Russlands zu kontrollieren, wie Evenes in Norwegen und Keflavik in Island.
Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat bei den zuvor in der Nordflotte stationierten russischen Truppen zu großen Verlusten geführt – die gesamten Landstreitkräfte auf der Kola-Halbinsel seien auf ein Fünftel reduziert, meldet die norwegische Aufklärung. Zwar wird die materielle Aufrüstung russischer Streitkräfte fortgesetzt, aber die konkrete Einsatzfähigkeit und die Verfügbarkeit qualifizierten Personals sind angesichts der peinlichen Defizite und der hohen Verluste an Menschen und Material im Krieg gegen die Ukraine fragwürdig geworden. Daher meinen manche Experten, dass der Krieg den USA eine Gelegenheit verschaffe, den russischen Vorsprung in der Arktis beispielsweise in der Drohnentechnologie aufzuholen. Allerdings können Drohnen nicht die russische Überlegenheit an Eisbrechern und umweltspezifischen Einsatzmitteln in der Arktis ausgleichen.
Amerikas arktischer Moment
Die USA und Russland haben noch 2018 einvernehmlich den Schiffsverkehr in der Beringstraße und im Beringmeer geregelt. Danach häuften sich Vorfälle, bei denen russische Kampfflugzeuge im Luftraum über Alaska abgefangen wurden. Russische Kriegsschiffe drangen während einer Übung im August 2020 in die Ausschließliche Wirtschaftszone der USA ein und bedrohten Fischerboote. In der Folge wies Alaskas Gouverneur Mike Dunleavy Präsident Biden darauf hin, dass der Schutz der US-Gewässer dringlich sei. Chinesisch-russische Manöver vor Alaska 2022 und der angeblich fehlgeleitete chinesische Spionageballon haben 2023 die Sensibilität für die Sicherheit im nördlichsten Bundestaat noch einmal erhöht.
Kommt nach der jahrzehntelangen mangelnden Aufmerksamkeit nun »America’s Arctic Moment«? Die US-Arktisexpertin Heather Conley hat 2020 in einer Studie unter diesem Titel eine Liste der Anstrengungen veröffentlicht, die eine neue Regierung zu unternehmen hätte, wenn sie die Chance auf Erneuerung nutzen wollte. Einiges hat die Biden-Administration umgesetzt. Unter anderem hat sie die Verteidigungsausgaben für die Arktis erhöht.
Beim Blick in die US-Strategiepapiere verfestigt sich aber der Eindruck, dass der proaktive Umgang mit Fragen harter Sicherheit in der Arktis nach wie vor zu unspezifisch ist und angesichts bedrohlicher Entwicklungen andernorts – wie im Indopazifik – als zu wenig dringlich erachtet wird. Washington erbringt weiter eine verlässliche Sicherheitsleistung, um Abschreckung und Verteidigungsfähigkeit in der Arktis zu erhalten und Defizite auch durch die Kooperation mit Alliierten auszugleichen. Präsenz im subarktischen hohen Norden bleibt eine gemeinsame Aufgabe der Verbündeten – darunter zum Schutz der Nato-Nordflanke künftig auch der Deutschen Marine; in der Zentralarktis bleibt sie ein Versprechen der Zukunft, wenn die USA über bessere Aufklärung, arktistaugliche Einsatzmittel und mehr als zwei Eisbrecher verfügen. Immerhin ist ein Anfang gemacht für ein stärkeres Engagement der USA in der Arktis.
Dr. Michael Paul ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik.
© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2023
Alle Rechte vorbehalten
Das Aktuell gibt die Auffassung des Autors wieder.
SWP-Aktuells werden intern einem Begutachtungsverfahren, einem Faktencheck und einem Lektorat unterzogen. Weitere Informationen zur Qualitätssicherung der SWP finden Sie auf der SWP-Website unter https://www. swp-berlin.org/ueber-uns/ qualitaetssicherung/
SWP
Stiftung Wissenschaft und Politik
Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit
Ludwigkirchplatz 3–4
10719 Berlin
Telefon +49 30 880 07-0
Fax +49 30 880 07-100
www.swp-berlin.org
swp@swp-berlin.org
ISSN (Print) 1611-6364
ISSN (Online) 2747-5018
DOI: 10.18449/2023A26