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Deutschland und Litauen: Von der Verteidigungskooperation zur Sicherheitspartnerschaft

SWP-Aktuell 2023/A 39, 16.06.2023, 8 Seiten

doi:10.18449/2023A39

Deutschland und Litauen haben ihre sicherheits- und verteidigungspolitische sowie militärische Kooperation in den letzten Jahren stetig ausgebaut. Die Stationierung der Bundeswehr in Form der verstärkten Vornepräsenz, die im vergangenen Jahr getroffene Vereinbarung über ein zusätzliches deutsches Engagement in Brigade­stärke und eine intensivierte Rüstungskooperation bilden gleichsam den »harten Kern« des Miteinanders. Allerdings sind zuletzt auch abweichende Erwartungen zutage getreten: Litauen möchte eine vollumfängliche Dauerpräsenz der Brigade, Deutschland präferiert ein flexibleres Modell. Beide Länder sollten darauf achten, dass diesbezügliche Debatten die bisherigen Erfolge nicht in Mitleidenschaft ziehen. Die für Deutschland im Rahmen der Nato und der EU »vertrauenspolitisch« wichtige Kooperation mit Litauen, die einen bedeutenden Beitrag zur erfolgreichen Inter­nationalisierung der »Zeitenwende« darstellt, sollte zu einer umfassenden Sicherheitspartnerschaft weiterentwickelt werden.

Litauen ist ein Schlüsselland an der Nordost­flanke der Nato. Das Land befindet sich in einer exponierten geostrategischen Lage. Es grenzt an die russische Exklave Kaliningrad und an das zunehmend mit Russland ver­bundene Belarus und es liegt wie die ande­ren baltischen Staaten oder Polen und Finn­land in direkter Nähe zum weiterhin massiv militarisierten Westlichen Militärbezirk Russlands. Mit seiner Landverbindung zu Polen, dem sogenannten Suwałki-Korridor, aber auch durch die Bedeutung des Hafens in Klaipeda kommt dem Land eine beson­dere Rolle zu als logistisches »Scharnier« für die Nato-Länder in der Region. Gleichzeitig agiert Litauen in der Nato wie auch in der EU als Vorkämpfer einer kompromisslosen Politik gegenüber Russland. Zusammen mit anderen Frontstaaten am Ostsaum der Nato und der EU will es Triebkraft und Impuls­geber für eine entschlossene Zurückweisung des aggressiven Nachbarn sein.

Neue Nähe zu Deutschland

Zwar hat sich Litauen eng mit Gleichgesinn­ten aus dem nördlichen und östlichen Teil der Nato und der EU vernetzt und betrachtet die Vereinigten Staaten weiterhin als unersetzbaren Sicherheitsgaranten, doch für die Regierung in Vilnius ist Deutschland in wachsendem Maße ein zentraler sicher­heits- und verteidigungspolitischer Refe­renz­partner in Europa und im transatlan­tischen Kontext. Dies galt schon vor 2014 und vor den Nato-Gipfeln, in deren Folge die Bundeswehr eine Vor-Ort-Präsenz in dem baltischen Staat startete. Seither hat sich die deutsch-litauische Militärkooperation noch einmal stark intensiviert: Seit Anfang 2017 sind deutsche Streitkräfte Füh­rungsnation der Battlegroup im Rahmen der multinationalen Verstärkten Vorne­präsenz der Nato (enhanced Forward Pres­ence, eFP); die eFP-Battlegroup ist der litaui­schen Brigade »Eiserner Wolf« unterstellt; seit dem vergangenen Sommer hält Deutsch­land zusätzlich einen Truppenverband als Element der bilateral vereinbarten en­hanced Vigilance Activities Brigade Litauen (eVA) bereit. Diese Vereinbarungen bilden gleichsam den harten Kern der deutsch-litauischen Sicherheitskooperation, die durch zahlreiche gemeinsame Übungen, einen gemeinsamen Infrastrukturausbau (Deutschland hat sich zu einem Teil auch an diesbezüglichen Kosten beteiligt) und weitere militärische Aktivitäten (u.a. Baltic Air Policing) ergänzt und erweitert wird.

Hierzu ist auch die intensive rüstungs­wirtschaftliche Zusammenarbeit zu rechnen. So hat Litauen etwa gepanzerte Truppentransporter vom Typ Boxer (als litauische Version »Vilkas«) oder die Panzerhaubitze 2000 gekauft. Seit Sommer 2022 existiert ein Wartungszentrum im litauischen Jonava, das von den Rüstungskonzernen KMW und Rheinmetall aufgebaut wurde. Dort werden auch Panzerhaubitzen, die in der Ukraine eingesetzt werden, instand­gesetzt. Litauen hat überdies zum Ausdruck gebracht, dass es gern an der deutschen Sky-Shield-Initiative teilnehmen würde. Abgerundet wird diese intensive Koopera­tionsbeziehung durch eine rege Besuchs­diplomatie, sowohl auf höchster Regierungs- als auch auf Arbeitsebene und auch im parlamentarischen Bereich.

Gleichwohl erzeugt die neue Nähe auch Erwartungen, ja Reibungen. In den litaui­schen bzw. deutsch-litauischen Debatten gibt es abweichende Ansichten darüber, wie das deutsche Engagement im Rahmen der eVA-Brigade umgesetzt werden soll. Litauen deutet das gemeinsame Kommuniqué des Bundeskanzlers und des litauischen Staats­präsidenten vom 7. Juni 2022 als Zusage der deutschen Seite für eine vollumfängliche Dauerpräsenz der Bundeswehr in Brigadestärke. In Berlin wird hingegen von einem flexibleren Konzept ausgegangen: Danach soll in Litauen ein vorgeschobener Gefechts­stand permanent stationiert sein; ebenso soll vor Ort ausreichend Material eingelagert werden. Dazu geht man von einem inten­sivierten Übungs­geschehen aus. Die rest­lichen Truppenteile sollen in Deutschland vorgehalten und bei Spannungen innerhalb von zehn Tagen zugeführt werden. Deutsch­land verweist dabei auch darauf, dass die infrastrukturellen Voraussetzungen des Aufnahmelands bislang nicht gegeben seien, da diese erst 2026 geschaffen sein sollen. Darüber hinaus sei ein anderes als das bis dato angestrebte Stationierungs­modell nur durch einen Beschluss der Nato festzulegen.

In der Debatte auf litauischer Seite sind indes beachtliche Nuancen zu beobachten. Während insbesondere Außenminister Gabrielius Landsbergis harte Töne anschlägt und die deutsche Präsenz als »Schrödinger-Brigade« bezeichnete, die da und doch nicht da sei, ist beim Staatspräsidenten Gitanas Nausėda eine unzweifelhafte Wertschätzung des deutschen Engagements zu erkennen und das Bemühen, das weitgehende Ein­vernehmen beider Länder herauszustellen. Auch die Opposition hat zum Ausdruck gebracht, dass sie sich grundsätzlich eine größere deutsche Präsenz wünscht. Sie agiert aber eher umsichtig. Das Spektrum der Diskussion reicht also von Enttäuschung bis Anerkennung.

Gleichwohl ist die Kritik, die in Litauen laut wird, auch als Zeichen einer weiterhin verbleibenden Restskepsis gegenüber Deutschland zu verstehen. Offenkundig wird vermutet, dass die Bundesregierung ungebrochen an der Nato-Russland-Grund­akte festhalten will und daher Vorbehalte hat gegenüber einer permanenten militärischen Präsenz in Litauen. Auch gibt es einen verbreiteten Argwohn, dass sich Deutschland und andere europäische Partner im Konfliktfall durch russische Drohungen einschüchtern ließen und die in Aussicht gestellte rasche Zuführung von Kräften nicht stattfinden würde. Im weiteren sicher­heitspolitischen Kontext wird Deutschland unter anderem eine bremsende Haltung gegenüber der ukrainischen Nato-Perspek­tive zugeschrieben. Beide Länder stehen in Anbetracht dessen vor der Herausforderung, die positive Dynamik ihrer Zusammen­arbeit nicht durch Querelen über den Stationierungsmodus überlagern zu lassen.

Bedrohungseinschätzung …

Dass Litauen derart pointiert die Solidarität von Deutschland und anderen Partnern einfordert, hat mit seiner geostrategischen Lage und der damit zusammenhängenden sicherheitspolitischen General­einschätzung zu tun. Letztere basiert auf der Annahme, dass Russland auf lange Zeit die Haupt­bedrohung für die nationale Sicherheit des Landes und seines regionalen Umfelds bleiben wird. Der öffentliche Bericht der zivilen und militärischen litauischen Nach­richtendienste vom März 2023 geht davon aus, dass der Krieg gegen die Ukraine Russ­lands militärische Fähig­keiten bzw. sein Aggressionspotential im Hinblick auf den Ostseeraum nur vorübergehend reduziert. Russland sei gewillt und werde mittel- und langfristig in der Lage sein, neu entstandene Lücken in seinen militärischen Kapazi­täten nicht nur zu füllen, sondern diese ins­besondere in direkter Nähe zu den balti­schen Staaten weiter auszubauen. In den Ende 2022 vorgestellten Reformplänen habe der russische Verteidigungsminister unter ande­rem Verstärkungen der Streit­kräfte und Umgruppierungen im bisherigen »Westlichen Militärbezirk« seines Landes angekündigt. Für Litauen sei die Kalinin­grad-Region die »größte Bedrohung« in der unmittelbaren Umgebung. Obschon aus der Oblast Einheiten in die Ukraine verlegt worden seien und dort auch erhebliche Ver­luste hinnehmen mussten, verfüge Russ­land durch den Verbleib von Raketentruppen, Luft- und Küstenverteidigungssystemen und Einheiten zur elektronischen Kriegsführung weiterhin über effektive Abriegelungs­fähigkeiten (A2/AD).

Gleichzeitig ist Litauen von der wachsenden politischen, wirtschaftlichen und militärischen Integration des Nachbarlands Belarus mit Russland betroffen. Die zuneh­mende russische Militärpräsenz in Belarus, die Verlegung von Iskander-M-Raketen­systemen, die für Juli 2023 (also im Vorfeld des Nato-Gipfels in Vilnius) angekündigte Sta­tionierung von taktischen Atomwaffen auf dem Territorium des südlichen Nach­barn oder die nächste Ausgabe der russisch-belarusischen Zapad-Manöver, die auf den Herbst 2023 vorverlegt werden sollen, stel­len einen weiteren Militarisierungsschub im Raum um Litauen dar mit direkten Folgen für die Sicherheit des Baltenstaats, seiner Landverbindung nach Polen (des sog. Suwałki-Korridors) und der Nordostflanke der Nato insgesamt.

Russlands Krieg gegen die Ukraine zieht somit aus litauischer Sicht keine Schwächung Moskaus nach sich; sie ist nach der in Vilnius vorherrschenden Auffassung nur der Auftakt für eine lange Phase des inten­siven Konflikts mit dem Westen, bei dem auch militärische Auseinandersetzungen gerade an der Nordostflanke der Nato nicht ausgeschlossen werden dürfen. Der litaui­sche Generalstabschef Valdemaras Rupšys rechnet auch bei einer Niederlage Russlands im Krieg gegen die Ukraine mit Ver­geltung und Revanchestreben.

… und sicherheitspolitische Ziele

In seiner Rede zur Lage der Nation im Juni 2022 skizzierte der litauische Präsident Nausėda unter dem Eindruck von Russlands Krieg gegen die Ukraine drei zentrale Hand­lungsprinzipien für Litauens Außen- und Sicher­heits­politik: die Ukraine unterstützen, Russlands Aggression Einhalt gebieten und Litauens Stärke und Resilienz in einem veränderten geopolitischen Umfeld sichern. Die Aktivi­täten der Regierung und die Positionierungen insbesondere des ent­schie­den und bestimmt auftretenden Außen­ministers Landsbergis und des litauischen Par­laments ergeben ein konkreteres Bild davon, welche außen- und sicherheitspolitischen Leitlinien Litauen verfolgt – neben den zahlreichen Maßnahmen zur Verbesserung der eigenen Verteidigungsfähigkeit, der Anhebung der Verteidigungsausgaben auf 2,5 Prozent des BIP (im Jahr 2022 und in der weiteren Perspektive auf bis zu 3%) oder der Modernisierung der Streitkräfte.

Gegenüber Russland strebt Litauen eine Politik der Entflechtung, Eindämmung und effektiven Verteidigung an. So hat Litauen auf nationaler Ebene frühzeitig eine Ab­kehr beim Import fossiler Energieträger aus Russland vollzogen und sieht sich somit als Vorreiter für andere EU-Länder. Die anste­hende endgültige Trennung vom russischen Stromnetz (Desynchronisation) soll der letzte große Meilenstein bei der Abkopplung von Russland im Energiesektor sein. Harziger verläuft der Prozess der Entflechtung beim allgemeinen Handel. Nach wie vor gibt es Firmen, die im Russland-Geschäft tätig sind und zum Beispiel nicht-sanktio­nierte Waren exportieren – wobei der traditionell nicht unbedeutende Weiter­export von Waren aus der EU nach Russ­land unverändert eine gewisse Rolle spielen dürfte. Während die Ausfuhren nach Russ­land nach Kriegsbeginn zurückgegangen sind, ist eine Zunahme der Exporte in dessen Nachbarländer zu verzeichnen. Die litauische Politik hat neben dem moralischen Appell nur wenig Mittel, um die Wirt­schaftsbeziehungen einzelner Firmen mit Russland herunterzuregeln.

Eindeutig ist Litauens Forderung nach einer konsequenten Eindämmung der ex­pansiven russischen Konfrontations- und Aggressionspolitik. Litauen ruft nicht nur die Partner in der Nato und der EU regel­mäßig zur Lieferung von Waffen an die Ukraine und zu anderer militärischer Hilfe auf, sondern hat selbst beachtliche Unter­stützung für das angegriffene Land geleis­tet. Erste Lieferungen von Stinger-Flug­abwehrsystemen in die Ukraine sind noch unmittelbar vor Kriegsbeginn erfolgt. Im ersten Jahr versorgte Litauen das angegriffene Land mit Waffen und anderer Ausrüs­tung im Wert von gut 400 Millionen Euro. Im multilateralen Rahmen plädiert Litauen für eine harte Gangart gegenüber Russland und fordert etwa eine Verschärfung von Sanktionen (unlängst etwa auch gegen die russische Rosatom) und die Nutzung ein­gefrorener russischer Vermögenswerte für den Wiederaufbau der Ukraine. Anlässlich einer Sitzung der EU-Wirtschafts- und Finanzminister (ECOFIN) Ende Mai 2023 legte die litauische Finanzministerin, unter­stützt von Estland, Lettland und der Slowa­kei, eine entsprechende Initiative vor. Im Juni 2022 unterband Litauen vorübergehend den Transit sanktionierter Güter, die aus Russland bzw. Belarus über sein Staats­gebiet in die russische Exklave Kaliningrad gelangen sollten. Vilnius ließ von dem Vor­gehen allerdings wieder ab, nachdem die Europäische Kommission neue Leitlinien formuliert hatte mit präzisierenden Vor­schriften, auf deren Grundlage Trans­porte in die russische Teilregion wieder ermöglicht werden mussten. Deutschland und andere westliche Partner hatten eine Eska­lation des Konflikts mit Moskau befürchtet und darauf hingewirkt, dass Litauen von seiner harten Haltung abrückte.

Gleichzeitig gehört Litauen zu den Wort­führern einer schnellen Einbindung der Ukraine in die Nato und die EU. Vor dem Nato-Gipfel in Vilnius drängt Litauen zu­sammen mit anderen Mitgliedstaaten aus dem östlichen Teil des Bündnisses auf eine klare Beitrittsoption für die Ukraine. Die Allianz müsse, so Außenminister Lands­bergis, zeigen, dass sie das ukrainische Beitrittsgesuch ernst nehme, und es dem Land ermöglichen, praktische Schritte Rich­tung Nato zu gehen, an deren Ende die volle Mitgliedschaft stehe. Das litauische Parlament setzt sich dafür ein, die Ukraine während des Nato-Gipfels in das Bündnis einzuladen, um einen Beitritt zu ermög­lichen, »wenn die Bedingungen stimmen«. Bis dahin soll die Integration der Ukraine in die Allianz vertieft werden.

Die Stärkung der eigenen Sicherheit und Resilienz bzw. die Hebung der defensibility der Nordostschulter der Nato ist die dritte Komponente der Sicherheits- und Verteidigungspolitik Litauens. Nicht erst seit dem 24. Februar 2022 ist es ein strategisches Ziel des Landes, von Abschreckung zu Verteidigung zu gelangen. In Litauen wie auch in den anderen baltischen Staaten sieht man sich in der seit langem geteilten Einschätzung bestätigt, dass eine leichte Nato-Präsenz im Sinne eines »Stolperdrahts« bei einem russi­schen Angriff ein konkretes, nicht hinnehm­bares Risiko bärge: Die Rückgewinnung verlorenen Terrains wäre nicht nur schwie­rig, sondern ginge auch mit immensen menschlichen und materiellen Schäden und Verlusten in besetzten und umkämpften Gebieten einher. Auch dies erklärt die Vehemenz, mit der Litauen für eine perma­nente und vollumfängliche Präsenz der deutschen Brigade eintritt. Das Land arbei­tet somit in der Nato auf ein Modell der vereitelungsorientierten Abschreckung (deterrence by denial) hin, wofür neben den nationalen Anstrengungen Beiträge der Ver­bündeten unabdingbar sind.

Zu den Zielen für den Vilnius-Gipfel und darüber hinaus zählen aus litauischer Sicht außerdem die Aufwertung des bestehenden Air Policing im Baltikum zu einer Air Defence-Mission und generell die Eliminierung von regionalen Nato-Fähig­keitslücken gegenüber Russland. US-Experten plädieren in diesem Zusammenhang für eine Aufstockung von Nato-Bodenstreitkräften vor Ort bzw. die Stärkung schneller Reaktionsfähig­keiten. Um eine effektive Verteidigung ge­währleisten zu können, müsse in der Region ein Kraftverhältnis von mindestens 1:3 her­gestellt werden.

Kooperation mit Nachbarn und den USA

Um diesen Zielen näher zu kommen, ver­tieft Litauen die Kooperation mit seinen Partnern in der Nato und der EU. Neben Deutschland als Schwerpunktland spielen die Länder im Ostseeraum und generell die transatlantisch ausgerichteten Staaten im Nordteil der westlichen Institutionen eine wichtige Rolle. Mit dem Nachbarn Polen hat sich (teils unter Einschluss von Estland und Lettland) eine gut eingespielte diplomatische und sicherheitspolitische Abstimmung eta­bliert, die auf einer weitgehend deckungsgleichen Bedrohungsanalyse und einer gro­ßen Gemeinsamkeit bei den Verteidigungs­aufgaben (Grenze zu Russland / Kaliningrad sowie zu Belarus, Suwałki-Korridor) basiert. Beim letzten polnisch-litauischen Verteidigungsministerrat (Ende Mai 2023) wurde unter anderem vereinbart, dass Litauen in einem Volumen von 20 Millionen Euro Flugabwehrsysteme vom Typ GROM kaufen will. Präsi­dent Nausėda erklärte Anfang Juni, dass ihm sein polnischer Amtskollege Andrzej Duda einen »interessanten Vor­schlag« unterbreitet habe. Dabei gehe es um »mehr Polen in Litauen«, also offenkundig um die Stationierung polnischer Soldaten im Nachbarland. Dazu kommen regionale Formate wie die Nordic Baltic Eight (mit den anderen baltischen und nordeuropäischen Staaten), die Teilnahme an der von Großbritannien initiierten multinationalen Joint Expeditionary Force (JEF) oder die Northern Group (nordeuropäische Nato-Staaten und Schweden).

Eine Sonderstellung genießen die USA, die für Litauen weiterhin der Sicherheits­garant schlechthin sind. Litauen vertieft denn auch die verteidigungspolitische und mili­tärische Kooperation mit den Vereinigten Staaten. So besteht zwischen den USA und Litauen seit 2019 (ähnlich wie zwi­schen den USA und Estland und Lettland) eine Strategische Roadmap für Verteidigungskooperation. Die Vereinigten Staaten haben Litauen unter anderem im Rahmen der European Deterrence Initiative und der Baltic Security Initiative bei der Streit­kräfte­modernisierung und dem Bau von militä­rischen Infrastrukturen unterstützt. US-Prä­sident Biden hat während des Nato-Gipfels von Madrid im Sommer 2022 angekündigt, die amerikanische Militärpräsenz in den baltischen Staaten auf dauerhafte Rotation umzustellen. In Litauen, genauer gesagt in Pabradė, nordöstlich von Vilnius, ist seit 2019 ein US-Bataillon stationiert. Die USA sind für Litauen ein strategischer Partner, mit dem auch auf zahlreichen außenpolitischen Feldern Übereinstimmung besteht. Das hervorstechendste Beispiel dafür ist sicherlich die China-Politik Litauens bzw. dessen Kooperation mit Taiwan. Litauen führt mit den USA einen hochrangigen Strategischen Dialog zur Indo-Pazifik-Region, dessen jüngstes Treffen im März 2023 in Washington stattfand. Vilnius setzt sich also auch für eine Vertiefung der Zu­sammenarbeit der Nato mit Partnern aus dem indo-pazifischen Raum ein.

Litauen wird denn auch Ideen, die auf eine stärkere Emanzipation der EU von den USA in einer multipolaren Welt abzielen, stets entgegenhalten, dass es in einer geo­politischen Lage der Konkurrenz zwischen dem liberalen Westen und seinen autokratischen Gegenspielern, speziell der sich anbahnenden Allianz zwischen Russland und China, eher darauf ankomme, die transatlantische Part­nerschaft noch enger zu gestalten. Bei einem etwaigen Konflikt zwischen den USA und China würde Litauen in der EU zusammen mit gleich­gesinnten Mitgliedstaaten darauf hinwirken, dass die Gemeinschaft im Verbund mit den Vereinigten Staaten eine geschlossene und entschlossene Antwort gibt. Litauen ist insofern ein Land, das euroatlantisch agiert. Es engagiert sich in der Nato und will vitale transatlantische Beziehungen, aber auch eine sicherheitspolitisch handlungsfähige EU. Deshalb arbeitet es zum Beispiel aktiv an der EU-Verteidigungspolitik mit. Das Land ist an 19 Projekten der PESCO betei­ligt. Es koordiniert das Thema Cyber-Sicher­heit und wird auch bei drei der jüngsten Vorhaben zu gemeinsamen Verteidigungsfähigkeiten mitwirken. Dabei bleibt Litauen seinem Grundsatz treu, dass die sicherheits­politische Handlungsfähigkeit, die die EU gewinnt, niemals auf Kosten der Bindung zu den USA geht.

Mehrwert für die deutsche Sicherheits- und Außenpolitik

Die sicherheitspolitische und militärische Zusammenarbeit mit Litauen hat aus deut­scher Sicht einen multiplen Nutzen. Das Engagement der Bundeswehr in dem Balten­staat ist zuvorderst ein Beitrag zur Verbes­serung der Verteidigungsfähigkeit eines vulnerablen Mitgliedstaats der Nato und zur Hebung der Sicherheit eines neuralgischen Teilareals der Allianz. Ein effektiver Schutz für Litauen hat positive Auswirkungen auf die Bedrohungslage der anderen beiden baltischen Staaten, auf die Robustheit des Suwałki-Korridors und generell auf den östlichen Ostseeraum und die Nordostflanke der Nato.

Jenseits der militärischen und verteidigungspolitischen Aspekte hat die Kooperation mit Litauen aber auch eine breitere außenpolitische Komponente. Deutschland demonstriert durch das enge Zusammenwirken mit Litauen, dass es ein zuverlässiger sicherheitspolitischer Partner ist, dass es Führungsverantwortung übernimmt und Bündnisverpflichtungen nachkommt und dass die innerdeutsche Zeitenwende eine für die Allianz relevante Außendimension hat. Zu­sammen mit zahlreichen anderen Schritten im Rahmen der Nato ist die mili­tärische Kooperation mit Litauen daher auch ein Signal gerade an die deutschlandskeptischen Stimmen in den »Frontstaaten«, aber auch in den USA. Denn damit kann deutsche Führung bzw. deutsche Politik besser legitimiert werden. Im Optimalfall können die intensiven Beziehungen zu Litauen Beispielcharakter für eine erfolg­reiche Zusammenarbeit mit einem der Länder erhalten, die in Sachen Ost- und Russlandpolitik traditionell kritisch gegen­über Berlin eingestellt sind. Nicht nur, aber auch vor dem Hintergrund eines weiterhin schwierigen deutsch-polnischen Verhältnisses sind vertiefte Beziehungen zu einem fordernden, aber wohlwollenden und über­dies europafreundlichen Frontline-State wie Litauen ein Beitrag zur Erhöhung der Glaub­würdigkeit Deutschlands im euro­päi­schen und transatlantischen Gefüge. Über­dies sendet Deutschland durch seine aktive Präsenz in Litauen auch ein Zeichen an Russland – nämlich, dass es gewillt ist, für die Souveränität und territoriale Unversehrtheit kleiner Randstaaten einzutreten.

Voraussetzung für dies alles ist zweifelsohne eine verstetigte und funktionierende Kooperation, die auf gegen­seitigem Ver­trauen fußt. Dafür muss Deutschland seinen Stationierungsankündigungen Taten folgen lassen, aber auch im Inneren seine Zeitenwende vollziehen und Zweifel an der Nachhaltigkeit seiner ost- und sicherheitspolitischen Ausrichtung abbauen. Litauen wiederum muss seine eigenen Verpflich­tungen – etwa beim Aus- und Aufbau der Gastlandinfrastruktur – erfüllen, aber auch mit einem realistischen Blick auf die Veränderungen in Deutschland schauen.

Von der Verteidigungskoopera­tion zur Sicherheitspartnerschaft

Damit Deutschland und Litauen ihrer ge­meinsamen Verantwortung in einem geopolitisch schwierigen Umfeld gerecht werden und das Potential ihrer Kooperation nutzen können, bedarf es sowohl der Um­setzung der bilateral vereinbarten Ziele als auch eines beiderseitigen Erwartungs­manage­ments. Denn in Litauen gibt es weitreichende Erwartungen gegenüber Deutschland bezüglich der Präsenz der Bundeswehr und des sicherheitspolitischen Einsatzes an der Ostflanke, aber auch hin­sichtlich »ordnungspolitischer« Fragen wie etwa der Nato-Perspektive der Ukraine. In Deutschland wiederum wird erwartet, dass Litauen die verteidigungspolitischen An­strengungen des größten Partners in Europa würdigt und seine eige­nen Modernisierungs- und Ausbauprogramme implementiert. Vor diesem Hintergrund gilt es, die deutsch-litauische militärische Kooperation zu einer umfassenden Sicherheitspartnerschaft im euroatlantischen Kontext weiterzuentwickeln. Einer solchen Sicherheitspartnerschaft liegt die Überlegung zugrunde, dass die Präsenz der Bundeswehr in Litauen ein zentraler, aber bei weitem nicht der einzige Baustein der sicher­heitspolitischen Zusam­menarbeit beider Länder ist. Letztlich ginge es darum, diese Kooperation zu verbreitern und in einen strategischen Reflexions­prozess einzubinden, um so eine Engführung der Debatten auf Fragen des Stationierungsmodus der deut­schen Brigade zu ver­meiden. Im Einzelnen könnte die deutsch-litauische Sicherheitspartnerschaft aus drei Elementen bestehen:

Die militärische und verteidigungspolitische Kooperation, das heißt die Präsenz der Bundeswehr und die rüstungswirtschaft­liche Zusammenarbeit, bilden gleichsam den harten Kern der Partnerschaft. In diesem Bereich wird es in den nächsten Jahren primär darum gehen, die gemeinsam bzw. im Rahmen der Nato festgelegten Ziele syn­chronisiert umzusetzen. Wenn die tempo­räre Stationierung von Patriot-Systemen der Bundeswehr, die zum Schutz des Nato-Gip­fels nach Litauen verlegt werden, in eine längere Präsenz transformiert würde, wäre ein relevanter und sichtbarer Beitrag zur Luft­verteidigung geleistet.

Auf politischer Ebene könnte – jenseits einer weiter gepflegten intensiven Besuchsdiplomatie zwischen den Regierungen, Parlamenten und Streit­kräfteführungen beider Länder – die verteidigungspolitische Zusammenarbeit künftig in einen verstetigten strategischen Abstimmungsrahmen überführt werden. Ein regelmäßig statt­findendes deutsch-litauisches Sicherheitsquartett, also ein Format der sicherheits­politischen und geostrategischen Reflexion zwischen den Leitungen der Außen- und Verteidigungsministerien (unter Ein­bezie­hung der Arbeitsebenen), der Streitkräfte und von Think-Tanks aus Litauen und Deutschland, könnte konzeptionelle Ideen für das Zusammenwirken beider Länder etwa mit Blick auf die Nato-Ostflanke oder die Sicherheit der Ukraine erarbeiten. Mög­licherweise könnten hier auch im Format 1+3 (Deutschland plus Estland, Lettland, Litauen) die anderen beiden baltischen Staaten teilnehmen. Ergänzend könnten auch trilaterale Konsultationen unter Ein­beziehung der USA unter dem Arbeitstitel DELTA-Sicherheitsdialog abgehalten werden. Derlei Initiativen sollten dazu beitragen, die Sicherheit Litauens und der anderen balti­schen Staaten als regionale Herausforderung zu verstehen, aber auch die Gelegenheit bieten, strategische Themen mit glo­baler Relevanz wie etwa Fragen der Indo-Pazifik Region zu debattieren.

Eine – auch zusammen mit den anderen baltischen Staaten weiterzuentwickelnde – Energiepartnerschaft, die den Aufbau sicherer, wettbewerbsfähiger und klima­orientierter Energiesysteme voranbringt, wäre ein zusätzliches Element für eine er­weiterte Sicherheitspartnerschaft. Mit dem Anfang Mai vereinbarten Bau eines 750 Kilometer langen Seekabels von Estland nach Deutschland mit dem Namen Baltic Wind­Connector, an dem auch Lettland und Litauen beteiligt sein werden, ist ein groß­angelegtes Projekt geplant, das nicht nur wirtschaftliche und klimapolitische Chan­cen bietet, sondern auch eine sicherheits­politischen Aspekt hat. Denn die baltischen Staaten wer­den so zusätzlich Anbindungen an das kontinentaleuropäische Elektrizitäts­netz erhalten. Zusammen mit der angestreb­ten Synchronisierung der Stromnetze der baltischen Staaten wird so die Grundlage dafür gelegt, dass Litauen und seine zwei nördlichen Nachbarn in den EU-Energie­markt integriert werden, aber auch dafür, dass die Umgestaltung der Energiesysteme klimaorientiert vorangetrieben wird. Deutschland und Litauen könnten einen in Litauen ange­siedelten Klima- und Energiehub etablieren, also eine Art Keimzelle für Information und Beratung über den Stand der Transformation der Energiesektoren und über die Energie- und Versorgungs­sicherheit in den baltischen Staaten sowie generell im Ostseeraum. Eine solche Ein­richtung könnte im Rahmen des Ostseerats oder der EU-Ostseestrategie gegründet und von der Deutschen Energie-Agentur (DENA) unterstützt werden.

Deutschland und Litauen könnten über­dies (ggf. auch als 1+3) unter Federführung der Außenministerien einen »strukturierten Europadialog« zu sicherheitsrelevanten Fragen in der Ostsee und zur Heranführung der Ukraine an die EU etablieren. Dabei könnte ein Aktionsplan »Sicherheit und Infrastrukturen« im östlichen Ostseeraum ausgearbeitet werden. Beide Länder könn­ten sich auch dafür einsetzen, während der Durchsicht des Mittelfristigen Finanzrahmens der EU die finanzielle Unterstützung für Infrastrukturen mit sicherheitspolitischer Bedeutung zu verbessern bzw. Mittel für den Schutz von Infrastrukturen etwa im Kontext der Connecting Europe Facility aus­zuweisen. Schließlich könnte auch aus­gelotet werden, welche Reformschritte in der EU Litauen als Voraussetzung für einen Beitritt der Ukraine akzeptieren würde.

Dr. Kai-Olaf Lang ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe EU / Europa der SWP.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2023

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