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Der politische Übergang in Syrien: Regionale und internationale Interessen

SWP-Aktuell 2025/A 09, 05.03.2025, 8 Seiten

doi:10.18449/2025A09

Forschungsgebiete

Am 8. Dezember 2024 wurde in Syrien das Assad-Regime durch eine von Hay’at Tahrir al-Sham (HTS) angeführte Rebellenallianz gestürzt. Die Übergangsregierung unter Ahmad al-Sharaa steht nun vor immensen Herausforderungen – wirtschaftlich, ge­sellschaftlich und politisch. Noch hat sie auch nicht die Kontrolle über das gesamte Territorium des Landes errungen; jihadistische Gruppierungen wie der sogenannte Islamische Staat (IS) bleiben eine Bedrohung. Das Vorgehen einiger regionaler und internationaler Akteure birgt die Gefahr, Syrien zu destabilisieren bzw. den Übergangsprozess zu sabotieren. Auf jeden Fall wird durch diese externen Kräfte der Handlungsspielraum der neuen Machthaber abgesteckt. Die Interimsregierung hat Maßnahmen zur Auflösung der Milizen eingeleitet, Gespräche mit den kurdisch domi­nierten Syrian Democratic Forces (SDF) über deren Eingliederung in die neue syrische Armee begonnen und einen politischen Übergang angestoßen. Deutschland und seine Partner in der EU sollten eine inklusive politische Transition unterstützen und dazu beitragen, durch Sanktionserleichterungen den Weg für einen umfassen­den Wiederaufbau freizumachen. Dabei gilt es auch, geopolitische Spannungen um Syrien zu entschärfen, anstatt sie zu verstärken.

Die neuen Machthaber in Damaskus stehen nach über 60 Jahren Diktatur (davon 54 Jahre unter der Assad-Familie) und über 13 Jahren internationalisiertem Bürgerkrieg vor enormen Herausforderungen. Dabei geht es nicht nur um einen politischen Übergang, gesellschaftliche Aussöhnung, einen umfassenden Wiederaufbau, wirt­schaftliche Transformation und die Rück­kehr von Flüchtlingen wie Binnenvertriebenen. Auch die sicherheitspolitischen Auf­gaben sind riesig. Dazu zählen die Entwaff­nung von Milizen bzw. deren Eingliederung in eine neu strukturierte Armee ebenso wie der Kampf gegen den wieder erstarkenden IS. Auch stellt sich die Frage nach dem Um­gang mit IS-Kämpfern und deren Angehörigen, die in Haftzentren und Lagern der SDF einsitzen, sowie mit ausländischen Kämp­fern in den Reihen der HTS und mit ihr verbündeter Gruppierungen.

Hinzu kommt, dass die Übergangsregierung unter Ahmad al-Sharaa (bekannt geworden als Abu Muhammad al-Jaulani) nicht das gesamte Territorium Syriens kon­trolliert. Den Nordosten beherrschen nach wie vor die kurdisch dominierten SDF, und im Norden hält die Türkei mehrere Gebiete besetzt. Im Südwesten wiederum hat Israel im Dezember 2024 die Pufferzone, die 1974 eingerichtet wurde und bis dato unter UN-Kontrolle stand, sowie den Gipfel des Her­mongebirges besetzt und Checkpoints in den angrenzenden Gebieten errichtet. Im Norden und Nordosten halten zudem be­waffnete Auseinandersetzungen an, in denen sich die von Ankara unterstützte Syrische Nationale Armee (SNA) und die im Kampf gegen den IS mit Washington ver­bündeten SDF gegenüberstehen.

Erste Schritte der Transition

Die Übergangsregierung hat Maßnahmen zur Auflösung der Milizen vorangetrieben, die in die neue syrische Armee eingegliedert werden sollen. Das gilt auch für die SDF und die Milizen des südlichen Opera­tionsraums, mit denen die Führung in Damaskus bereits Gespräche aufgenom­men hat. Darüber hinaus haben die neuen Machthaber einen politischen Übergangsprozess eingeleitet. Dabei hat der Ende Januar 2025 per Akklamation durch die siegreichen Rebellen eingesetzte Übergangs­präsident al-Sharaa betont, das neue Syrien solle ein Land aller seiner Bürgerinnen und Bürger sein; es solle nicht zu Racheakten kommen und bereits Anfang März eine inklusive Regierung geben. Mitte Februar setzte er ein Vorbereitungskomitee für eine nationale Dialogkonferenz ein, dem neben Vertretern der ehemaligen »Rettungsregierung« in Idlib auch zwei Vertreterinnen der Zivilgesellschaft angehören. Kurzfristig einberufen, fand die Dialogkonferenz dann bereits am 24./25. Februar in Damaskus statt. 900 Syrerinnen und Syrer trafen dort zusammen, um den Verfassungsprozess vorzubereiten. Mittelfristig sollen Wahlen stattfinden. Zum angestrebten Regierungssystem hat sich al-Sharaa bislang allerdings nur zurückhaltend geäußert.

Dabei dürfte es sehr schwierig werden, eine Balance zwischen den jeweiligen Er­wartungen zu finden, die es in der Mehr­heitsbevölkerung und seitens der Minderheiten, bei verschiedenen ausländischen Unterstützern sowie radikalen Kräften in den eigenen Reihen gibt. Es ist nicht damit zu rechnen, dass sich der Zirkel um al-Sha­raa für liberale Prinzipien einsetzen wird. Dafür sprechen nicht zuletzt die Erfahrungen mit der von 2017 bis 2024 in Idlib herr­schenden »Rettungsregierung«, aus deren Reihen die Minister der Übergangsregierung stammen. Auch zeichnen sich beim Vor­gehen der neuen Sicherheitsdienste gegen ehemalige Angehörige des Assad-Regimes teils gravierende Menschenrechtsverletzungen ab, die als Racheakte an Alawiten wahr­genommen werden. Dies dürfte den Aus­söhnungsprozess zwischen den ethnischen und konfessionellen Grup­pen im Land er­schweren.

Gleichzeitig sind die Machthaber bemüht, das Nach-Assad-Syrien regional und global neu aufzustellen. Ziel ist, die weit­gehende Isolierung des Landes zu durchbrechen und freundschaftliche Beziehungen mit Nachbarn zu etablieren. Das neue Syrien soll weder im näheren Umfeld noch international als Bedrohung erscheinen. Nicht zuletzt gilt es Unterstützung für den Wiederaufbau des Landes zu mobilisieren. In diesem Sinne geht al‑Sharaa nicht nur auf die arabischen Golfmonarchien, allen voran Saudi-Arabien, sondern auch auf den Westen zu. Er gratulierte Donald Trump zum Amtsantritt, äußerte die Hoffnung, der US-Präsident werde Frieden bringen, und regte einen baldigen Austausch mit der neuen Administration in Washington an. Während al-Sharaa zu Iran eine distanzierte Haltung einnimmt, betont er gegenüber Russland das Interesse, auch in Zukunft gute Beziehungen zu unterhalten. Von Israel forderte er, sich aus Syrien zurück­zuziehen. Gleichzeitig betonte al-Sharaa, dass Damaskus weiter an den Waffenstillstandsvereinbarungen von 1974 festhalten werde und die Konflikte mit dem Nachbarland friedlich lösen wolle. Enge Beziehungen sind vor allem mit der Türkei zu erwarten.

Interessen regionaler und inter­nationaler Akteure

Die Interessen, Prioritäten und Aktivitäten regionaler und internationaler Akteure bestimmen darüber, welchen Handlungsspielraum die neuen Machthaber in Syrien haben werden, um mit den Herausforderungen des Übergangs umzugehen. Dabei haben sich die Ansätze einzelner Player nach dem Sturz des Assad-Regimes teils ver­ändert, teils sind sie – etwa bei den USA – noch nicht klar. Im Vordergrund stehen für die externen Akteure generell ihre eigenen nationalen Interessen sowie innenpolitische bzw. wirtschaftliche Kalküle. Hier liegt auch Konfliktpotential, das einer Stabilisierung Syriens im Wege stehen könnte.

Türkei

Offizielle Erklärungen der Türkei verweisen auf drei Hauptziele gegenüber Syrien: Das Land soll keinen Terrorismus unterstützen (gemeint sind hier die kurdische PKK und der IS), keine Bedrohung für die Nachbarländer darstellen sowie inklusiv und viel­fältig sein. In diesem Sinne hält Ankara die Stabilisierung der Übergangsregierung in Damaskus für essentiell. Die Türkei will aktiv am Aufbau eines leistungsfähigen und befreundeten Syrien mitwirken. Vor allem in zwei Bereichen will sie dabei, ent­sprechend ihren vorrangigen Interessen, kurz- und mittelfristig eine Rolle spielen.

Erstens geht es um die Sicherheits­inter­essen der Türkei. Dabei hat sie bereits Unterstützung für die Reform des syrischen Sicherheitssektors angeboten. Ankara sei bereit, so der türkische Verteidigungsminister Yaşar Güler, der Übergangsregierung bei Bedarf mit militärischer Ausbildung zur Seite zu stehen. Anfang Februar sprach Prä­sident Recep Tayyip Erdoğan in Ankara mit al-Sharaa über enge Beziehungen auf ver­schiedenen Feldern, was unter anderem einen möglichen Verteidigungspakt betraf. Zudem wollen die Türkei, Syrien, Jordanien und der Irak künftig gemeinsam gegen den IS vorgehen.

Der türkische Außenminister Hakan Fidan appellierte darüber hinaus an alle syrischen Milizen im Norden des Landes (die mehr als 80.000 Kämpfer umfassen), sich der neuen syrischen Armee anzuschlie­ßen. Diese Aufforderung ist im Rah­­men der Strategie Ankaras zu sehen, die von der kurdischen YPG dominierten SDF zu ent­waffnen bzw. einzelne Kämpfer in eine nationale Armee unter vollständiger Kon­trolle von Damaskus einzugliedern. Errei­chen will man ebenfalls, dass türkische (und andere nichtsyrische) PKK- bzw. YPG-Kämpfer aus Syrien ausgewiesen werden. In diesem Sinne hat die Türkei militärisch versucht, durch ihre Stellvertreterin SNA – und mit eigener Luftunterstützung – die Versorgungslinien der SDF um das nord­syrische Kobane zu zerstören und damit deren Kampfkraft zu schwächen.

Auch diplomatisch zielt Ankara darauf, die SDF und die PKK unter Druck zu setzen. Ende Februar hat der in der Türkei inhaf­tierte PKK-Gründer Abdullah Öcalan mit überraschender Klarheit eine Entwaffnung und Auflösung der Organisation angekündigt. Die PKK selbst hat anschließend einen Waffenstillstand ausgerufen, ihre Unterstützung für die Erklärung Öcalans bekun­det und dessen Freilassung gefordert. Auch die führenden kurdischen Akteure im Irak (die Demokratische Partei Kurdistans und die Patriotische Union Kurdistans) haben die Initiative des PKK-Gründers begrüßt. Zwar erklärte der Oberkommandierende der SDF, Mazloum Abdi, dass Auflösung und Entwaffnung nicht die SDF beträfen. Zugleich hat er aber eine friedliche Lösung für Syrien in Aus­sicht gestellt.

Damit eröffnet die Ankündigung der PKK auch Chancen für eine Regelung zwischen der Türkei und den SDF. In diesem Zusam­menhang lässt sich der Appell Ankaras, dass Syrien ethnisch und religiös inklusiv sein solle, als Hinweis deuten, dass für die kurdische Bevölkerung des Landes eine neue Vertretung ausgehandelt werden könnte. Tatsächlich bemüht sich die Türkei schon seit längerem darum, eine Annäherung zwischen den SDF und dem (von der Demokratischen Partei Kurdistans im Irak unterstützten) Kurdischen Nationalrat zu erreichen.

Großes Interesse hat die türkische Führung zweitens daran, eine herausgehobene Rolle beim Wiederaufbau Syriens zu spie­len. Denn nicht nur könnte es der Popularität Erdoğans angesichts einer schwierigen Wirtschaftslage im eigenen Land dienen, sollten sich türkischen Baufirmen in Syrien unternehmerische Chancen eröffnen. Auch hält Ankara den Wiederaufbau des Nach­barlandes für eine wichtige Bedingung, um eine Rückkehr syrischer Flüchtlinge zu er­reichen.

Arabische Golfstaaten

Gelingt es der HTS und ihren Verbündeten, die eigene Position zu stabilisieren, wird auch Katar eine wichtige Rolle in der syri­schen Politik spielen. Es ist kein Zufall, dass Emir Tamim Bin Hamad Al Thani das erste Staatsoberhaupt überhaupt war, das Damas­kus nach dem Sturz Assads besuchte. Kata­rische Politiker und Delegationen sind im Dezember 2024 und Januar 2025 bereits mehrfach nach Syrien gereist. Die katarische Botschaft dort ist als zweite nach der türkischen wiedereröffnet worden, nach­dem zahlreiche Länder 2011/12 ihre Bezie­hungen zu Damaskus wegen des Vorgehens des Regimes gegen die Opposition suspendiert hatten. Der Ministerpräsident des Emirats hat Unterstützung für Syriens Wie­deraufbau zugesagt. Außerdem fordert Doha ein Ende der Sanktionen gegen das Land. Dabei schickt sich Katar an, eine wichtige Mittlerrolle zwischen Syrien und Drittstaaten zu übernehmen, die umso wichtiger werden wird, je zögerlicher Letz­tere auf die neuen Herrscher in Damaskus zugehen.

Auch Saudi-Arabien könnte einen bedeutenden Part in den Beziehungen zu Syrien übernehmen, weil die HTS offenbar ein gro­ßes Interesse an guten Beziehungen zum mächtigsten arabischen Staat hat. Das Königreich hat bereits Entspannungssignale gesandt, indem es seinen Außenminister schickte, der prompt die Aufhebung der Sanktionen forderte und der neuen Regie­rung Hilfe anbot, um dies zu erreichen. Offenbar will Riad die in Damaskus geschaf­fenen Fakten zunächst akzeptieren und die regionalen Folgen der HTS-Machtübernah­me durch Gesprächs- und Kooperations­bereitschaft kontrollieren. Von Bedeutung dürfte dabei sein, dass Saudi-Arabien eine zu starke Abhängigkeit des neuen Syrien von Katar und der Türkei verhindern will. Dass dies gelingen könnte, vermittelte al-Sharaa, indem er Anfang Februar 2025 seinen ersten Auslandsbesuch nach dem Sturz Assads in Riad (und nicht in Ankara) absolvierte.

Die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) könnten künftig am Rand des Gesche­hens bleiben. Zu grundsätzlich ist ihre Ab­neigung gegen die HTS. Vermutlich wird Abu Dhabi misstrauisch beobachten, ob der Sieg der Islamisten in Syrien weitere Un­ruhe in der Region hervorruft, und mit aller Macht versuchen, Ansteckungseffekte zu verhindern. Sollten sich entsprechende Be­fürchtungen nicht bewahrheiten, ist es je­doch durchaus möglich, dass auch die VAE ihre Beziehungen zu Damaskus er­neuern.

Russland

Hat der Kreml das Assad-Regime in der Ver­gangenheit massiv unterstützt, so setzt er nun auf eine Politik der Schadensbegrenzung. Russland bietet der jetzigen Führung in Damaskus Kooperation an und sucht sich als Akteur zu präsentieren, der pragmatisch mit den neuen Machtverhältnissen umzu­gehen gewillt ist. Moskau hatte die HTS noch bis zum 7. Dezember 2024 als terro­ris­tisch eingestuft, bezeichnete sie aber schon am Tag darauf – an dem das Assad-Regime fiel – als »bewaffnete Opposition«. Mitt­lerweile ist von ihr als »neuer Macht« die Rede. Am 12. Februar 2025 fand das erste Telefongespräch zwischen al-Sharaa und dem russi­schen Staatschef Wladimir Putin statt.

Dass es Russland jedoch schwerfallen dürfte, eine komplette »Normalisierung« seiner Beziehungen zur HTS-Regierung zu erreichen, zeigte Ende Januar 2025 der Syrien-Besuch des stellvertretenden Außen­ministers Michail Bogdanow. Dabei machte al‑Sharaa klar, dass Russland »vergangene Fehler« eingestehen müsse, um »Vertrauen wiederaufzubauen«. Zwei Forderungen aus Damaskus dürften Moskau prinzipielle Pro­bleme bereiten, nicht zuletzt vor dem Hin­tergrund des Krieges gegen die Ukraine: die nach einer Auslieferung Assads und die nach Reparationen. Ersteres ist kaum mög­lich, will Russland nicht seinen Nimbus als verlässliche Schutzmacht autoritärer Ver­bündeter riskieren – wahrscheinlicher werden könnte indes, dass Assad im russi­schen Exil plötzlich verstirbt. Was den zweiten Punkt angeht, könnte Moskau neben Getreide- und Energielieferungen an­bieten, Syriens umfangreiche Schulden bei Russland ganz oder teilweise zu erlassen – ohne damit einen Anspruch auf Repara­tionsleistungen anzuerkennen. Auch wer­den die syrischen Streitkräfte vorerst auf War­tung und Ersatzteile aus Russland an­gewiesen bleiben.

Anreize setzen kann der Kreml insofern, als er in der Lage ist, die internationale An­erkennung der neuen Machtverhältnisse in Syrien zu unterstützen. Durch sein Veto­recht im UN-Sicherheitsrat könnte Moskau etwa Resolutionen verhindern, die Kritik am Vorgehen der syrischen Führung bzw. Forderungen nach Einhaltung der Menschenrechte beinhalten. Darüber hinaus gehört Russland zu wichtigen internationalen Formaten wie BRICS+ und regionalen Institutionen wie der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ), was sich nutzen ließe, um al-Sharaa zu Treffen ein­zuladen und dadurch aufzuwerten. Nicht zuletzt hofft Moskau, dass eine – wenngleich reduzierte – militärische und poli­tische Präsenz Russlands in Syrien und der Region auch für die Übergangsregierung von Interesse ist, wäre sie doch ein Gegen­gewicht zum starken Einfluss der Türkei bzw. zu einer normativen Konditionierung europäischer Unterstützungsleistungen.

Das russische Potential, die Ausgestaltung des Übergangsprozesses in Syrien zu beeinflussen, ist dagegen deutlich geschrumpft. Moskau fehlt es heute an mäch­tigen politischen Verbündeten im Land und an den militärischen Mitteln, um solche zu schützen. Damit hat Russland nicht die nötige Durchsetzungskraft, wenn es dazu aufruft, in Syrien einen »inklusiven Dialog mit dem ganzen Spektrum an politischen Kräften sowie ethnischen und religiösen Gruppen« zu führen. Auch dürfte das Asta­na-Format ausgedient haben, in dem sich Russland, die Türkei und Iran bislang über die Zukunft Syriens verständigt haben.

Israel

Die politische Klasse Israels befürwortet zwar generell Autonomierechte für ethni­sche und religiöse Minderheiten in Syrien. Doch beim Blick auf das Nachbarland steht für Israel die eigene nationale Sicherheit klar im Vordergrund, nicht der Übergangsprozess oder das entstehende politische System dort. Sorgen bereitet der israelischen Regierung der extremistische Hinter­grund der neuen Machthaber in Damaskus; zudem hegt sie Argwohn gegenüber dem Einflussgewinn der Türkei, die sie als feind­selig und extremismusfördernd betrachtet. Laut Presseberichten machte sich Israel in den USA entsprechend dafür stark, dass die russischen Basen in Syrien erhalten bleiben. Russland solle ein Gegengewicht zur Türkei darstellen, Syrien ein schwacher und de­zentralisierter Staat sein.

Zudem hat Israel nicht nur angekündigt, auf absehbare Zeit mit Truppen in Syrien präsent zu bleiben. Auch will es seine Be­ziehungen zur Gesellschaft in der Grenz­region und zu den Kurden festigen. Ende Februar 2025 forderte Premierminister Benjamin Netanjahu zudem eine vollständige Demilitarisierung der drei Provinzen Quneitra, Daraa und Suweida im Süden Syriens. Er kündigte an, dass Israel dort kei­ne Truppen der syrischen Armee tolerieren würde. Angesichts bewaffneter Auseinandersetzungen zwischen den Sicherheitskräften der neuen Machthaber und drusischen Milizen im Damaszener Vorort Jaramana drohte Israel Anfang März, auf Seiten der Drusen militärisch einzugreifen.

USA

Der künftige Kurs der Trump-II-Regierung zu Syrien ist noch nicht entschieden, und Diskussionen darüber haben in Washington bislang keine Priorität. Indes könnte sich die amerikanische Politik hier abrupt ändern. Dabei stehen insbesondere die US-Militärpräsenz im Land und die Koopera­tion mit den SDF zur Disposition. Schon jetzt zeichnet sich ab, dass es der Trump-Admi­nistration nicht vorranging um eine »inklu­sive Transition«, sondern vor allem um Sicherheit und geopolitische Interessen gehen dürfte. Dabei steht im Vordergrund, dass Syrien »keine Quelle des internationalen Terrorismus« werden dürfe und die Sicherheit Israels gewährleistet sein müsse.

Hinzu kommen Schwierigkeiten, die sich durch den Beschluss der Trump-Adminis­tration ergeben, alle externen Unterstützungsleistungen der USA (vorläufig) auszu­setzen. Dies betrifft etwa die Haftzentren und Lager von al-Hol und Roj, in denen IS-Kämpfer und deren Familien untergebracht sind. Ad hoc ließ sich zwar eine provisorische Lösung finden, um das Sicherheits­per­sonal der Einrichtungen zu bezahlen, das bislang aus USAID-Mitteln finanziert wur­de. Doch wenn solche Geldtransfers dauer­haft enden, könnte dies zu erheblichen Ver­werfungen führen. Auch die Ope­ratio­nen des Hohen Flüchtlingskommissars der Ver­einten Nationen (UNHCR) in Syrien leiden stark unter der Aussetzung der US-Hilfs­gelder, ebenso Aktivitäten der syri­schen Zivilgesellschaft.

Iran

Die Führung in Teheran hat mit dem Sturz des Assad-Regimes an unmittelbaren Ein­flussmöglichkeiten in Syrien verloren. Sie bemüht sich nun um direkte Kontakt­aufnahme mit der Übergangsregierung in Damaskus. Außenminister Abbas Araghchi erklärte, dass Irans Vorgehen »vom Verhal­ten der anderen Seite abhängt« – ein Zeichen für Teherans Bereitschaft, die mit Assads Fall abgebrochenen Kontakte wie­derherzustellen, falls sich eine Gelegenheit ergibt. Sogar Revolutionsführer Ali Khame­nei hat seine ursprünglich ablehnende Hal­tung gegenüber den neuen Macht­habern in Syrien angepasst. Er konzentriert sich nun auf die Forderung, das Land »von der aus­ländischen Besatzung zu befreien«. Aller­dings hat Damaskus bisher wenig Interesse an einer Wiederaufnahme der Beziehungen zu Teheran gezeigt, und selbst wenn es da­zu käme, dürfte Irans Einfluss weit schwä­cher sein als zuvor. Vor allem weil die Isla­mische Republik keine wirtschaftlichen Anreize für Damaskus bieten kann, wird ihre Rolle in Syrien begrenzt bleiben. Denn der Wiederaufbau dürfte von Akteuren mit größeren finanziellen Ressourcen betrieben werden.

Ein plausibles Szenario für eine künftige Rolle besteht darin, dass Iran konfessionelle Spannungen in Syrien nutzt, um seinen Einfluss zu bewahren. Teheran wird wahr­scheinlich verstärkt den Kontakt zu den alawitischen Gemeinschaften im Westen des Landes suchen. Berichte über Verhaftungen und Hinrichtungen von Alawiten durch Fraktionen, die mit der HTS verbun­den sind, könnten die Aktivitäten von Widerstandszellen beflügeln, die Iran mög­licherweise als Druckmittel unterstützt. Der Erfolg einer solchen Strategie hinge vor allem davon ab, wie die neuen Machthaber mit Maßnahmen der Übergangsjustiz und mit Syriens konfessionellen Dynamiken umgehen.

Ein weiterer Ansatz für Iran könnte darin bestehen, seine Beziehungen zu den SDF zu stärken. Angesichts von Spekulationen über einen US-Rückzug aus Syrien könnten Letztere nach alternativen Part­ner­schaften suchen. Berichten zufolge führte Esmail Qaani, der Kommandeur der Quds-Einheit der iranischen Revolutionsgarde, Anfang Januar 2025 in der irakischen Stadt Sulaymaniyah Gespräche mit dem SDF-Kommandeur Mazloum Abdi, vermittelt durch den Anführer der Patriotischen Union Kurdistans (PUK), Bafel Talabani. Eine Partnerschaft mit den syrischen Kur­den würde Iran nicht nur Möglichkeiten bieten, Einfluss auf Syriens innere Dynamik zu nehmen, sondern könnte auch dazu die­nen, das regionale Gewicht der Türkei aus­zugleichen und gleichzeitig Israels wach­sende Beziehungen zu den Kurden einzu­dämmen. Funktionieren würde dieser An­satz jedoch nur dann, wenn die USA tat­sächlich abziehen und sich die neue syri­sche Führung mit den SDF nicht auf deren Eingliederung in die Armee und über die Verwaltung der kurdischen Gebiete einigt. Denkbar ist auch, dass kurdische Fraktionen sich Iran zuwenden, sollte die Türkei ihre militärischen Operationen gegen die SDF intensivieren.

Schließlich könnte Teheran versuchen, seine Rolle in Syrien durch das Prisma des anti-israelischen »Widerstands« neu zu defi­nieren. Kurz nach Khameneis Rede tauchte eine bislang unbekannte Gruppe mit dem Namen »Islamische Widerstandsfront in Syrien« auf, die als Ziel proklamierte, die israelischen Truppen aus dem Land zu ver­treiben. Diese Dynamik eröffnet Iran mög­licherweise Wege, um seinen Einfluss in Syrien aufrechtzuerhalten. Teheran könnte dabei auf neue Stellvertreter setzen oder unter dem Vorwand des »Kampfes gegen die Besatzung« mit der neuen syri­schen Regierung kooperieren.

Schlussfolgerungen und Handlungsoptionen

Deutschland und seine Partner in der EU haben großes Interesse daran, dass eine Stabilisierung Syriens gelingt und von dem Land nicht länger Bedrohungen für seine Nachbarschaft und für Europa ausgehen. Mit dem Ende des Assad-Regimes bietet sich dazu jetzt die Gelegenheit. Gleichzeitig ist die Gefahr eines Scheiterns hoch. Hier lie­gen enorme Risiken, könnten die bewaff­neten Auseinandersetzungen in Syrien doch wiederaufflammen und regionale wie internationale Akteure sich abermals mili­tärisch einmischen. Dann würden Kriegs- und Drogenwirtschaft fortdauern und ab­sehbar neue Fluchtbewegungen entstehen. Auch wäre das Land weiterhin ein Rück­zugs- und Rekrutierungsraum für den IS und andere jihadistische Gruppierungen.

Deutschland und EU sollten deshalb die Chance nutzen, zur Stabilisierung Syriens beizutragen, und sich dazu weiterhin eng im multilateralen Rahmen abstimmen. Der Koordination bedarf es hier insbesondere mit den USA, der Türkei und den Golfstaaten, allen voran Saudi-Arabien. Es gilt, geo­politische Rivalitäten nicht zu verstärken, sondern möglichst deren Entschärfung zu betreiben. Leitlinie sollte sein, die Wiederherstellung von Syriens territorialer Inte­grität und Souveränität zu unterstützen.

Rückhalt verdienen Bemühungen um einen verhandelten Ausgleich zwischen Türkei und PKK auf der einen sowie zwi­schen HTS und SDF auf der anderen Seite. Beachtet werden sollten dabei die jewei­ligen Interessen – jene der Kurden, in Syriens künftiger Regierung angemessen vertreten zu sein und weitgehende Auto­nomie zu erhalten, die Sicherheitsbedürfnisse der Türkei sowie das Interesse in Damaskus, dass Milizen aufgelöst werden und die türkische Besetzung syrischen Territoriums endet.

Deutschland und seine Partner in der EU sollten auch darauf hinwirken, dass Israel und die neue syrische Regierung sich ein­mal mehr auf das Waffenstillstandsabkom­men von 1974 verpflichten, Israel seine Truppen aus der Pufferzone und vom Berg Hermon abzieht und Erstere wieder der Kontrolle der UNDOF-Mission unterstellt wird. Zudem könnten Berlin und geeignete europäische Partner in Absprache mit den USA zu Kontakten zwischen Syriens Füh­rung und Israel beitragen, die das Risiko militärischer Konfrontationen verringern. Dies ist umso dringlicher, als das De‑con­flicting zwischen Russland und Israel zur Lage in Syrien nicht mehr funktioniert.

Deutschland und die EU sollten darüber hinaus den Weg für verstärkte humanitäre Hilfe und einen Wiederaufbau des vom Bürgerkrieg zerstörten Landes freimachen. Eine rasche Verbesserung der wirtschaft­lichen Situation wird entscheidend für eine Stabilisierung Syriens sein. Ende Januar hat der Rat der EU-Außenminister bereits einen Fahrplan für den schrittweisen Abbau von sektor- und institutionenbezogenen Sank­tionen beschlossen, der in die richtige Rich­tung weist. Ende Februar sind erste euro­päische Sanktionen im Energie-, Transport- und Finanzsektor ausgesetzt, aber nicht aufgehoben worden. Das sind wichtige erste Schritte, die aber keineswegs ausreichen. Haupthürde für Wiederaufbau und wirt­schaftliche Erholung sind ohnehin die Sanktionen der USA. Deutschland und die EU sollten deshalb in Washington darauf drängen, dass amerikanische Sanktionen ebenfalls aufgehoben werden, und für den Fall, dass sie fortwirken, tragfähige Mecha­nismen ausarbeiten, um Unterstützungsleistungen dennoch aufstocken zu können. Dem Wiederaufbau sollten zudem bislang eingefrorene Guthaben der Assad-Führung zugutekommen.

Gleichzeitig ist zu empfehlen, dass die Sanktionen gegen hochrangige Vertreter des alten Regimes und der HTS beibehalten werden. Bevor die HTS von der deutschen und der EU-Terrorliste gestrichen wird und Sanktionen gegen ihre Vertreter aufgehoben werden, sollten klare Bedingungen er­füllt sein. Dafür sollten die neuen Machthaber in Damaskus unter Beweis gestellt haben, dass sie den Jihadismus tatsächlich hinter sich gelassen haben, also friedliche Außenbeziehungen pflegen, einen inklusi­ven Transitionsprozess umsetzen, sich auf eine transparente Übergangsjustiz verpflichten und die Menschenrechte achten.

Deutschland und die EU sollten keine schnelle Rückkehr der geflüchteten Syrerin­nen und Syrer forcieren, die sich in Europa aufhalten. Nicht nur gilt das Prinzip einer freiwilligen, sicheren und würdevollen Rückkehr. Auch muss das Land zunächst stabilisiert werden, damit es überhaupt die Kapazitäten hat, um Rückkehrer aufzunehmen. Im Vordergrund deutscher und europäischer Politik sollte stehen, einen konstruktiven und nachhaltigen Beitrag syrischer Flüchtlinge zum Wiederaufbau zu ermöglichen. Dieser kann durchaus auch von Europa aus erfolgen. Gleichzeitig sollte Deutschland den UNHCR dabei unterstützen, eine freiwillige Rückkehr zu erleichtern. Erforderlich ist hier (so die abweichende Meinung von Guido Steinberg und Margarete Klein) ein Mittelweg zwischen dem deutschen Interesse an einer Stabilisierung Syriens und dem Interesse daran, vor allem Terroristen und Kriminelle, aber auch andere Syrer abschieben zu können.

Die neue syrische Armee müsste auch Verantwortung im Kampf gegen den IS übernehmen, wie sie dies etwa Anfang Feb­ruar bereits mit der Türkei, dem Irak und Jordanien verabredet hat. Prospektiv ist auch an eine Rolle Syriens in der Globalen Anti-IS-Koalition zu denken. In der Pflicht steht Damaskus zudem, was den Umgang mit den Haftanstalten und Lagern betrifft, in denen IS-Kämpfer und deren Angehörige einsitzen. Deutschland und die EU sollten darauf drängen, dass die USA weiterhin dazu beitragen, gegen den IS vorzugehen und die Gefangeneneinrichtungen zu finanzieren. Gleichzeitig gilt es, die ver­bliebenen Kämpfer mit europäischen Staatsangehörigkeiten von dort zurückzuholen und in der Heimat vor Gericht zu stellen.

Aktiv unterstützen sollten Deutschland und EU die Bildung einer inklusiven Regie­rung und die Ausarbeitung einer Verfassung, die der ethnisch-religiösen Vielfalt des Landes gerecht wird. Dies wäre nicht nur für einen gelungenen Übergang wich­tig; es würde auch verhindern, dass Iran konfessionelle und ethnische Spannungen in Syrien instrumentalisieren kann, um seinen Einfluss dort zurückzugewinnen. Historisch gesehen hat Teheran von ent­sprechenden Konflikten profitiert. Nicht zuletzt deshalb sollte es eine zentrale euro­päische Priorität sein, zur gesellschaftlich-politischen Aussöhnung in Syrien beizu­tragen.

Dr. Sinem Adar ist Wissenschaftlerin im Centrum für angewandte Türkeistudien (CATS). Dr. Muriel Asseburg ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Afrika und Mittlerer Osten. Dr. Hamidreza Azizi ist Gastwissenschaftler in der Forschungsgruppe Afrika und Mittlerer Osten. Dr. Margarete Klein ist Leiterin der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien. Dr. Guido Steinberg ist Wissen­schaftler in der Forschungsgruppe Afrika und Mittlerer Osten.

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