Die globale Gesundheitsstrategie der Europäischen Union (EU) von November 2022 zielt auf eine offene strategische Autonomie im Arzneimittelsektor. Dies wird zwangsläufig zu einer Neugestaltung sowohl der Liefer- und Wertschöpfungsketten der EU als auch ihrer Handelsbeziehungen führen. Das Streben der Union nach Diversifizierung wirft die Frage nach geeigneten, vertrauenswürdigen Handelspartnern im Pharmabereich auf. Potenzial hat eine Kooperation mit dem südamerikanischen Handelsblock Mercosur – Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay –, der beiden Seiten Chancen für einen gedeihlichen Handel bietet.
Bestimmend für die interregionale Beziehung zwischen der EU und dem Mercosur war in den letzten Jahren das ungewisse Schicksal des bilateralen Freihandelsabkommens, das noch immer nicht unterzeichnet worden ist. Ungeachtet dessen sollten die EU und Deutschland das Beste aus dieser Partnerschaft machen, indem sie Gesundheit und Handel nach den Grundsätzen der Gegenseitigkeit und Kooperation zusammenführen und den Ausbau der pharmazeutischen Kapazitäten in den Mercosur-Ländern unterstützen. Unabhängig vom EU-Mercosur-Abkommen lässt sich ein Rahmen für eine Erhöhung der ausländischen Direktinvestitionen in der Region schaffen, mit Schwerpunkten auf Forschung und Entwicklung (F&E) und der Zusammenarbeit bei der Regulierung medizinischer Produkte. Die EU sollte den Aufbau neuer Produktionskapazitäten in den Mercosur-Ländern erleichtern, auch wenn dies auf Kosten ihrer eigenen Kapazitäten gehen könnte.
Die EU ist dabei, eine neue globale Gesundheitsstrategie umzusetzen und die Importabhängigkeit im Arzneimittelsektor zu verringern. Mit der Einrichtung der Health Emergency Preparedness and Response Authority (HERA) im Jahr 2021 will die Union ihre »offene strategische Autonomie« stärken. Das erfordert unter anderem, Abhängigkeiten zu identifizieren, Strategien zu deren Überwindung zu entwickeln und diese Strategien in die globale Gesundheitsgovernance einzubinden. Die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA) hat kürzlich eine Liste von mehr als 300 kritischen Arzneimitteln veröffentlicht. Die Forderungen nach einer Diversifizierung des Handels und nach einer Verlagerung der Produktion in vertrauenswürdige Länder (friend-shoring) haben in diesem Kontext an Bedeutung gewonnen.
Die wirtschaftlichen Auswirkungen des neuen EU-Ansatzes, die Verfügbarkeit von Arzneimitteln innerhalb der EU-Mitgliedstaaten sicherzustellen, sind noch unklar. Die globale Gesundheitsstrategie berührt wichtige Pfeiler der Handelsagenda, wie den Zugang zu Arzneimitteln, Rechte an geistigem Eigentum und das öffentliche Beschaffungswesen. Sie hat auch geopolitische Auswirkungen, da sie eine Neubewertung der Beziehungen der EU zu den weltweit größten Lieferanten medizinischer Güter – China und Indien – und den Aufbau neuer Beziehungen fordert.
Angesichts der wachsenden strategischen Bedeutung Lateinamerikas für die Außenpolitik der EU – die auf dem High-Level Summit zwischen der Gemeinschaft der lateinamerikanischen und karibischen Staaten (CELAC) und der EU im Juli 2023 zum Ausdruck kam – müssen die Herausforderungen und Chancen dieser bilateralen Handelsbeziehung für die globale Gesundheitspolitik und die Arzneimittelversorgung genauer betrachtet werden.
EU-Mercosur-Beziehungen und Kapazitäten im Pharmabereich
Die EU hat bei den Pharmazeutika im Vergleich zu Lateinamerika und der Karibik deutliche Vorteile. Während die EU als weltweit größter Exporteur pharmazeutischer Produkte hervorsticht, sind die Exporte aus den lateinamerikanischen Ländern marginal und machen nur ein Prozent ihrer gesamten Exporte aus.
Die EU ist außerdem Hauptquelle für Waren und ausländische Direktinvestitionen in Lateinamerika. Zwischen 2003 und 2021 waren EU-Unternehmen für die Hälfte aller angekündigten ausländischen Direktinvestitionen in der Region – durch die mindestens zehn Prozent der Stimmrechte in einer lokalen Firma erlangt werden – verantwortlich. Beim Verkauf in der lateinamerikanischen Region dominieren EU-Unternehmen den Markt, da 60 Prozent der Umsätze von den Top 20 transnationalen Unternehmen aus der EU stammen. Dieses Muster zeigt sich auch im Pharmazeutikahandel zwischen der EU und dem Mercosur: Nahezu die Hälfte der Importe in den Mercosur-Markt kommen aus der EU. Die EU ist überdies eine der Hauptlieferanten pharmazeutischer Wirkstoffe (APIs) für den Endproduktionsprozess; nach China hält sie mit 20 Prozent den zweitgrößten Marktanteil, gefolgt von Indien mit 14 Prozent. Obwohl der Anteil der API-Exporte aus dem Mercosur in die EU geringfügig höher ist als jener der pharmazeutischen Endprodukte, ist er im Vergleich zum Gesamtexportvolumen der EU bemerkenswert niedrig (siehe Abbildung).
Obwohl den Mercosur-Ländern noch ein langer Weg bevorsteht, bis sie einen komparativen Vorteil auf dem globalen Pharmamarkt erzielen werden, stärken sie schon jetzt ihren gesundheitsökonomisch-industriellen Komplex. Der Marktanteil Mercosurs in Lateinamerika ist mit 37 Prozent bedeutend, was sich insbesondere auf die Beteiligung Brasiliens und Argentiniens zurückzuführen lässt (siehe Abbildung). Diese beiden Länder dominieren auch die Wirkstoffexporte und steuern drei Viertel der gesamten regionalen Ausfuhren aus Lateinamerika und der Karibik bei.
Trotz der beträchtlichen Herstellungskapazitäten gibt es noch Wachstumspotenzial. Pharmazeutische Konzerne aus Argentinien verfügen mit einem Anteil von 68 Prozent und solche aus Brasilien mit 59 Prozent bereits über eine starke Präsenz im inländischen Markt (siehe Abbildung). In Brasilien gibt es 43 Produktionsstätten, von denen jedoch nur 13 eine Zulassung der Europäischen Arzneimittel-Agentur haben. Das stetige, von steigender Nachfrage getriebene Wachstum des Marktes gab in der Vergangenheit Anlass zu gezielten Maßnahmen, die die regionale Produktion nationaler Unternehmen stärken sollte, einschließlich Steuererleichterungen. Diese Maßnahmen bieten auch der EU Ansatzpunkte für eine Diversifizierung, da die Produktionsstätten in der Regel nach den Grundsätzen der »Good Manufacturing Practices« arbeiten, die für die Gewährleistung der Produktqualität von entscheidender Bedeutung sind.
Argentinien präsentiert sich trotz wirtschaftlicher Herausforderungen als ähnlich robuster Markt. Hier produzieren mehrere einheimische Unternehmen spezialisierte Wirkstoffe und Biosimilars. Obwohl Brasilien und Argentinien im Mercosur als wichtigste Standorte für pharmazeutische Innovation und Produktion gelten, sollte die EU auch Uruguay und Paraguay nicht aus dem Auge verlieren. Beide Länder besitzen beträchtliche Produktionskapazitäten, beliefert werden derzeit aber hauptsächlich die heimischen Märkte.
Die pharmazeutische Industrie Uruguays, hauptsächlich getragen von multinationalen Unternehmen, die zusammen die Uruguay Pharma HUB Group bilden, deckt einen beachtlichen Anteil von 42 Prozent des Inlandsmarktes ab. Zusammen mit Unternehmen in Argentinien, Brasilien und Kolumbien ist sie für den größten Teil der pharmazeutischen Exporte nach Südamerika verantwortlich. Uruguay ist gemessen an seiner Bevölkerung ein starker Akteur in pharmazeutischer Produktion und bei F&E. Derzeit befinden sich zahlreiche synthetische und biologische Produkte im Entstehungsprozess. Die relative wirtschaftliche und politische Stabilität des Landes macht es zu einem attraktiven Ziel für Investitionen.
Die ebenfalls stetig wachsende pharmazeutische Industrie in Paraguay zieht Unternehmen aus den Nachbarländern und insbesondere aus Argentinien an. Seit über einem Jahrzehnt arbeiten mehrere lokale Pharmaunternehmen nach den Grundsätzen der »Good Manufacturing Practices«; der Markt für rezeptfreie Produkte, der sich kontinuierlich ausdehnt, bietet Möglichkeiten für eine Zusammenarbeit.
Die Bedeutung dieser Kapazitäten veranschaulichen die Anstrengungen während der Covid-19-Pandemie. Am 27. Juni 2020 gab die brasilianische Regierung bekannt, dass sie eine Vereinbarung mit AstraZeneca über die lokale Herstellung ihres Impfstoffs schließen werde. Das brasilianische Forschungszentrum Instituto Butantan ging eine Kooperation mit dem chinesischen Unternehmen Sinovac Life Sciences ein, um Impfstoffe herzustellen. BioNTech und Pfizer teilten am 26. August 2021 mit, dass sie die Herstellung ihrer für Lateinamerika bestimmten Impfstoffe an Eurofarma in São Paulo auslagern würden.
In Argentinien schloss AstraZeneca mit mAbxience eine Technologietransfer-Vereinbarung über die Herstellung des Wirkstoffs für ihren Impfstoff; die fertigen Dosen stellte Liomont in Mexiko her. Das argentinische Unternehmen Laboratorios Richmond begann mit der Produktion von Komponenten des russischen SputnikV-Impfstoffs, dessen Wirkstoff es gleichzeitig importierte.
All diese Vereinbarungen und Kooperationen waren nur dank der seit langem bestehenden institutionellen Kapazitäten möglich. Mit Blick auf die Zukunft gibt es dennoch Handlungsbedarf, wie der CELAC-Plan zur Selbstversorgung im Gesundheitsbereich verdeutlicht. In diesem Sinne unterstützte das brasilianische Gesundheitsministerium die Oswaldo-Cruz-Stiftung (Fiocruz) dabei, ein Zentrum der Weltgesundheitsorganisation für mRNA-Impfstoffe zu werden. Diese und andere Initiativen berühren Themen, die für den bilateralen Handel zwischen der EU und dem Mercosur von entscheidender Bedeutung sind.
Das Handelsabkommen und darüber hinaus
Noch ist nicht abzusehen, ob die EU und die Mercosur-Länder in der Lage sein werden, die Blockade zu überwinden, die sie an der Unterzeichnung ihres Freihandelsabkommens hindert. Würde das Abkommen in seiner jetzigen Form unterzeichnet, könnte es sich auf die Kosten, das Angebot, die Vielfalt und die Sicherheit pharmazeutischer Erzeugnisse auswirken und die Kapazität der lokalen Produktion beeinträchtigen. Insbesondere die Auswirkungen auf die geistigen Eigentumsrechte, die Regeln für das öffentliche Beschaffungswesen und die technischen Vorschriften sollten genauer betrachtet werden. Die derzeit geltenden Bestimmungen lassen bereits erkennen, welche Vorkehrungen für eine verstärkte interregionale Zusammenarbeit zu treffen sind.
Im Entwurf des EU-Mercosur-Abkommens wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die öffentliche Gesundheit ein geschützter Bereich sei, der nicht durch die Verpflichtungen eingeschränkt werden könne, die aus den Rechten des geistigen Eigentums im Rahmen des Abkommens resultieren. Den Mercosur-Ländern ist es gelungen, die TRIPS-plus-Bestimmungen aus dem Text herauszuhalten, der sich insofern von anderen EU-Freihandelsabkommen unterscheidet. Diese Bestimmungen, die sich auf das TRIPS-Abkommen beziehen (Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums), verlängern in der Regel die Patentlaufzeit beispielsweise von pharmazeutischen Produkten, die nicht notwendigerweise innovativ sind. Auch akzeptierten die Mercosur-Länder keine zusätzlichen Mechanismen für die Durchsetzung des Patentschutzes, die über die derzeit in ihren nationalen Rechtsvorschriften vorgesehenen Mechanismen hinausgehen. Schließlich enthält das Abkommen bisher auch keine Bestimmungen zur Datenexklusivität. Solche Bestimmungen ermöglichen gewöhnlich die Verwendung von Daten aus klinischen Tests, die ein Originalhersteller den Gesundheitsbehörden für die Zulassung generischer Arzneimittel vorlegt. Da klinische Tests in der Regel zeitaufwändig und kostspielig sind, begünstigt das Fehlen derartiger Bestimmungen die Herstellung von Generika durch die Mercosur-Länder.
Nach der aktuellen Fassung des Freihandelsabkommens würden EU-Unternehmen an Ausschreibungen öffentlicher Aufträge zu den gleichen Bedingungen teilnehmen wie lokale südamerikanische Unternehmen. Da Brasilien und Argentinien jedoch ihre nationalen Pharmaindustrien ausbauen wollen, befürchten sie, dass diese Regelung der einheimischen Produktion schaden würde. Beide Länder haben Programme aufgelegt, die dazu dienen sollen, die lokale Produktion mit öffentlichen Mitteln zu unterstützen. Im Rahmen des Abkommens könnten die EU-Partner diese Programme in Frage stellen, was den politischen Spielraum der Mercosur-Staaten einschränken würde.
Das Abkommens-Kapitel zu »technischen Handelshemmnissen« (TBT) geht über die Bestimmungen der Welthandelsorganisation hinaus, indem es »TBT-plus«-Standards festlegt und dabei »gute regulatorische Praktiken« einbezieht. Die Mercosur-Länder erkennen zwar an, dass diese Bestimmungen die Verbraucher:innen schützen, sie fürchten aber auch, dass sie unnötige einseitige Handelshemmnisse für sie schaffen könnten. Die EU hat ein »Vorsorgeprinzip« in das Abkommen aufgenommen, das Behörden das Recht gibt, zum Schutz der Gesundheit von Menschen, Tieren, Pflanzen oder der Umwelt zu handeln. Obwohl dieses Prinzip ein schnelles Eingreifen in Notfällen im Zusammenhang mit Landwirtschaft und Lebensmitteln gewährleisten soll, könnten auch andere biologische Produkte (wie z.B. einige Pharmazeutika) betroffen sein. Die EU griff vor kurzem in den Verhandlungsprozess ein, indem sie neue Anforderungen für entwaldungsfreie Lieferketten geltend machte. Unklar ist, inwieweit die Reform des EU-Arzneimittelrechts für den Handel zwischen den beiden Regionen auch neue Sorgfaltspflichten mit sich bringen wird.
Herausforderungen und Chancen für einen gesunden Handel
In Anbetracht der vorherrschenden Handels- und Investitionsmuster sowie der lokalen Kapazitäten bietet Mercosur eine große Chance für die EU, ihre globale Gesundheitsstrategie voranzubringen. Die Steigerung der Produktion in den Mercosur-Ländern hätte diverse Vorteile: (1) Förderung der pharmazeutischen Autonomie in der Region, (2) stärkere Diversifizierung der Lieferungen von Arzneimitteln nach Europa und in den Rest der Welt und (3) Förderung der Innovation und Einführung neuer Arzneimittel unter Berücksichtigung der lokalen biologischen Vielfalt.
Um die Produktion in diesem Sinne zu steigern, sollte die EU die Mercosur-Länder dabei unterstützen, ihre Kapazitäten zu stärken, und zwar durch: (1) Neugestaltung der Strategien für globale Wertschöpfungsketten mit dem Schwerpunkt auf F&E, (2) Intensivierung der bilateralen Zusammenarbeit als Teil der Global-Gateway-Strategie der EU, (3) Ermöglichung des Zugangs zu Innovationen durch flexible Regeln zum Schutz des geistigen Eigentums und (4) Unterstützung des lokalen öffentlichen Beschaffungswesens.
Liefer- und Wertschöpfungsketten neu gestalten
Die angestrebte Neugestaltung der Liefer- und Wertschöpfungsketten erfordert einen umfassenden Ansatz der EU und des Mercosur, um die Potenziale optimal zu nutzen. Die CELAC hat den ehrgeizigen Plan, Selbstversorgung im Gesundheitsbereich zu erreichen, und will dafür den Pharmasektor stärken; konkret ist vorgesehen, ausländische Direktinvestitionen anzuziehen, die F&E zu erleichtern und lokale Produktionsketten zu unterstützen.
In diesem Kontext fördern die Mercosur-Länder aktiv internationale Investitionen und öffentlich-private Partnerschaften, um gemeinsame Projekte zur Stärkung der lokalen Kapazitäten zu realisieren. Dabei ist besonders wichtig, den Technologietransfer zu begünstigen und auf regionaler Ebene eine Integration in globale Wertschöpfungsketten zu erreichen. Dies betrifft alle drei Hauptabschnitte der pharmazeutischen Versorgungskette: F&E, Produktherstellung und ‑vermarktung. Während F&E in der Regel in großen Pharmaunternehmen in den USA und Europa angesiedelt ist, erfolgt die Produktion oft in wettbewerbsfähigen Ländern wie China und Indien.
Um die Abhängigkeit der EU von diesen beiden Lieferländern zu verringern, ist eine langfristige Zusammenarbeit zwischen Drittstaaten und Unternehmen erforderlich, um Kapazitäten in neuen Partnerländern aufzubauen.
Die meisten ausländischen Direktinvestitionen in Lateinamerika flossen bisher in Produktion und Marketing, in F&E wurde dagegen weniger als ein Prozent investiert. Die vorhandenen Innovationskapazitäten sollten genutzt und ausgebaut werden, um hochwertige Investitionen im pharmazeutischen Sektor der Mercosur-Länder anzuziehen. Dadurch kann die Region ihre Vulnerabilität gegenüber externen Faktoren verringern und möglicherweise zu einer neuen Produktionsstätte von Wirkstoffen werden. Die EU könnte dies direkt durch Zuschüsse im Rahmen ihres Förderprogramms für Forschung und Innovation »Horizon Europe« unterstützen. Es gibt auch Potenzial für Vereinbarungen über gemeinsame Forschung im Gesundheitssektor, die sich durch Kofinanzierungsmechanismen flankieren ließen.
Während neue Konstellationen von EU-Mercosur-Lieferketten für Arzneimittel beiden Seiten Vorteile bringen könnten, gilt zu bedenken, dass die Neugestaltung dieser Lieferketten nicht allein von akuten geopolitischen Spannungen motiviert sein sollte, die auf Gesundheitsbelange übergreifen könnten. Die Pharmaunternehmen haben wirtschaftliche Interessen, die ihnen ausreichend Anreiz bieten, um sich durch finanzielle Verpflichtungen an der Schaffung neuer Liefer- und Wertschöpfungsketten zu beteiligen. Die EU und ihre Mitgliedstaaten müssen neue Institutionen und Förderprogramme schaffen, um Unternehmen bei ihrer strategischen Diversifizierung zu unterstützen, einschließlich des Technologietransfers und Kapazitätsaufbaus sowohl im Bereich Wissen als auch bei Personal und Infrastruktur.
Bilaterale Kooperation stärken
Mit ihrer Global-Gateway-Initiative hat sich die EU unter anderem das Ziel gesetzt, die weltweiten Gesundheitskapazitäten zur Bekämpfung von Krankheiten zu fördern, insbesondere durch Stärkung lokaler Produktionskapazitäten. Die CELAC und die EU gingen 2021 eine Partnerschaft ein, um die gesundheitliche Resilienz zu stärken und ihre beiderseitige Kooperation auszubauen. So wurde etwa 2023 ein Austausch zwischen Pharmaunternehmen beider Regionen ermöglicht, um Investitionen in den Sektor zu mobilisieren.
Der CELAC-Plan sieht vor, in der Region die Entwicklung und den Ausbau von Kapazitäten in allen Phasen der Arzneimittelproduktion zu unterstützen. Mercosur-Länder sollten den Plan nutzen, um nationale Initiativen und regionale Agenden zur Förderung des Pharmamarktes in der gesamten Region zu entwickeln. Die EU könnte im Rahmen ihrer Global-Gateway-Strategie die Zusammenarbeit mit den Mercosur-Ländern und ihren Pharmamärkten vorantreiben.
Bisher lag der Hauptfokus der bilateralen Zusammenarbeit auf dem Umweltschutz im Amazonasgebiet. Die Tatsache, dass sich Gesundheit und Umwelt überlappen, gewinnt zusehends an politischer Bedeutung. Im Sinne des One-Health-Ansatzes ließe sich die bilaterale Zusammenarbeit darum auch auf Bereiche wie biologische Vielfalt und Biosicherheit ausweiten. Brasilien und Deutschland haben kürzlich ein Abkommen über die Einrichtung des »NB4« unterzeichnet, eines Labors nach Standards biologischer Höchstsicherheit, das die Erforschung von Pathogenen ermöglichen soll, die schwere und übertragbare Krankheiten hervorrufen können. Solche Initiativen sollten verstärkt werden, um die bilaterale Zusammenarbeit im Gesundheitssektor auszubauen.
Innovationen ermöglichen
Bei F&E haben die Mercosur-Länder Nachholbedarf. Daher ist die Förderung des Zugangs zu neuen Technologien und Patentinformationen durch Zusammenarbeit mit Unternehmen von entscheidender Bedeutung für die Entwicklung der technologischen Kapazitäten. Die Covid-19-Pandemie hat eine Debatte über die Flexibilisierung von Ansätzen für die Rechte des geistigen Eigentums angestoßen. Unabhängig von ihrem Ausgang wurden im Zuge der Debatte neue Rahmenbedingungen für den freiwilligen Technologietransfer und den Marktzugang für Generika geschaffen.
Generika spielen eine bedeutende Rolle in der Region und ermöglichen den preisgünstigen Zugang zu Medikamenten. Die Zahl der Arzneimittel, deren Patentschutz ausläuft, wird sich in den kommenden Jahren vermutlich verdoppeln, was Chancen für lokale Herstellung eröffnet. Ein Abbau von Hürden, die dem freiwilligen Technologietransfer entgegenstehen, könnte die lokale Produktion beschleunigen, und dies auch von Wirkstoffen. Das ist insofern besonders wichtig, als die Produktion von Wirkstoffen große Kapazitäten erfordert, aber nur begrenzte Erträge generiert. Die Region könnte die Entwicklung anderer Marktsegmente wie Generika und Qualitätspräparate nutzen, um die nachgelagerte Integration zu verbessern und gleichzeitig die Produktionskapazitäten für komplexe Wirkstoffe aufzustocken. In diesem Szenario könnte die EU diese Möglichkeiten nutzen und neue schaffen, indem sie einschlägige Vorschriften zum geistigen Eigentum flexibler gestaltet. Dies würde zusätzliche finanzielle Anreize für den Technologietransfer erfordern.
Öffentliches Beschaffungswesen unterstützen
Das öffentliche Beschaffungswesen wurde vor allem zur Förderung der lokalen Produktion genutzt. In Brasilien hat das Gesundheitsministerium »Productive Development Partnerships« eingeführt, um die einheimische Produktion zu unterstützen. Dabei verpflichtet sich das Ministerium, ein Produkt über einen Zeitraum von bis zu zehn Jahren zu kaufen; im Gegenzug übertragen private Unternehmen die Produktionstechnologie an ein nationales öffentliches Labor. Während des Technologietransfers versorgen die Privatunternehmen das Gesundheitssystem mit dem Produkt. Derzeit überarbeitet der brasilianische Bundesrechnungshof dieses Konzept unter anderem mit dem Ziel, die Einbindung einheimischer privater Labore und die Verbindung mit regionalen Lieferketten zu verbessern.
Initiativen wie diese könnten der EU eine Gelegenheit bieten, die von ihr angestrebte Diversifizierung der Lieferketten und die Öffnung der Märkte voranzutreiben, ohne die lokale Produktion in Südamerika zu beeinträchtigen. Durch Produktentwicklungspartnerschaften würde der Zugang zum Mercosur-Markt ‒ im Rahmen langfristiger öffentlicher Verträge ‒ mögliche private Verluste ausgleichen, die mit dem Technologietransfer verbunden sind. Allerdings könnten solche »Buy National«-Programme im Rahmen des Freihandelsabkommens zwischen der EU und dem Mercosur unzulässig werden.
Regulatorische Zusammenarbeit fördern
Die Mercosur-Länder und die EU könnten durch eine engere Zusammenarbeit in Gesundheitsbelangen Synergieeffekte erzielen, ohne sich ausschließlich auf das Freihandelsabkommen zu stützen. Optionen dafür wären rechtlich nicht bindende bilaterale Abkommen und die Förderung von Investitionen europäischer Unternehmen in den Mercosur-Ländern. Interne Reformen in den Mercosur-Ländern können eine solche Zusammenarbeit ermöglichen. Ein Beispiel dafür sind die in Brasilien bereits praktizierten beschleunigten Zulassungsverfahren für Unternehmen, die einheimische Wirkstoffe verwenden. Die Zulassung neuer medizinischer Produkte ist Sache der einzelnen Ländern, sie erfolgt nicht auf Ebene des Mercosur. Daher könnte die EU neue Partnerschaften mit den Mercosur-Ländern eingehen, um zum einen die Zulassungsverfahren für neue Arzneimittel zu vereinfachen und zum anderen das Äquivalenzverfahren für Generika einzuführen; mit diesem Verfahren wird eine mit dem Originalpräparat vergleichbare Sicherheit und Wirksamkeit rechtlich anerkannt. Damit könnte die EU ihre Pharmaprodukte schneller in diese Länder exportieren.
Die Zusammenarbeit ließe sich beispielsweise durch eine Erweiterung des geltenden Vertraulichkeitsabkommens zwischen der EMA und der brasilianischen Agência Nacional de Vigilância Sanitária auf die Zulassungsbehörden der anderen Mercosur-Ländern vertiefen. Dies ermöglichte den Austausch vertraulicher Informationen über medizinische Produkte. Ein solche engere regulatorische Zusammenarbeit würde Geschäftsentscheidungen vorhersehbarer machen und die technischen Hürden für EU-Unternehmen senken. Da die Mercosur-Länder diese Maßnahme jedoch als einseitig ansehen könnten, wäre zu erwägen, alternativ den Informationsaustausch mit der EU zu Arzneimitteln zu verbessern. Dabei ginge es darum, eine schnellere Bewertung von Zulassungsdaten zu ermöglichen; die endgültige Genehmigung verbliebe bei den nationalen Behörden.
Fazit und Empfehlungen
Die Möglichkeiten, das Thema Gesundheit auf die Agenda für die Handelsbeziehungen zwischen der EU und dem Mercosur zu setzen, sind vielfältig. Zugleich gibt es dafür aber auch viele Herausforderungen. Einerseits bietet die Mercosur-Region der EU eine wertvolle Gelegenheit, ihren Handelsaustausch zu diversifizieren. Andererseits wird der Marktwettbewerb, den das Handelsabkommen im Falle eines Abschlusses fördern wird, den Mercosur-Partnern unweigerlich schaden und die lokale Produktion drosseln. Die EU steht also vor der Wahl, entweder in den Aufbau neuer Kapazitäten in den Mercosur-Ländern zu investieren, um einen Diversifizierungseffekt zu erzielen, oder sich auf ihre eigenen Produktionskapazitäten zu konzentrieren.
Im ersten Szenario müsste die EU Anreize für den Technologietransfer und für ausländische Investitionen schaffen, einschließlich flexibler Regeln für geistiges Eigentum. Im zweiten Szenario würde die Diversifizierung durch strenge Vorgaben für den Schutz des geistigen Eigentums eingeschränkt. Es ist ungewiss, für welchen Weg sich die EU entscheiden wird. Derzeit arbeitet sie an einem neuen Pharmapaket, das sowohl die öffentliche Meinung als auch das Lager der politischen Unterstützer spaltet. Würden die Lehren aus Covid-19 ernst genommen, müsste die erste Option anvisiert werden: Ohne eine Änderung ihres Ansatzes, der für Handel und Investitionen im Arzneimittelsektor gilt, wird die EU kaum in der Lage sein, Fortschritte im Sinne ihrer globalen Gesundheitsstrategie zu erzielen. Im Gegenteil: Solange die Versorgungsketten asymmetrisch und stark auf einige wenige Unternehmen und Länder konzentriert bleiben, lässt sich nicht garantieren, dass der Bedarf an Medikamenten gedeckt wird, wie die Covid-19-Pandemie gezeigt hat. Darüber hinaus erfordert das Ziel der EU, eine offene strategische Autonomie zu erreichen, den Handel in wichtigen Bereichen jenseits der Rohstoffe, beispielsweise bei Arzneimitteln, stärker zu diversifizieren.
Fernanda Cimini ist Professorin an der Federal University of Minas Gerais (UFMG), Senior Researcher am Brasilianischen Zentrum für Internationale Beziehungen (CEBRI) und GIBSA Visiting Fellow in der Forschungsgruppe Globale Fragen der SWP. Michael Bayerlein ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe EU / Europa. Pedro A. Villarreal ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Globale Fragen. Franziska Schwebel ist Forschungsassistentin in der Forschungsgruppe EU / Europa. Michael Bayerlein, Pedro A. Villarreal und Franziska Schwebel arbeiten im Projekt »Globale und Europäische Gesundheitsgovernance in der Krise«, das vom Bundesministerium für Gesundheit (BMG) gefördert wird.
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DOI: 10.18449/2024A10
(Deutsche Übersetzung von SWP Comment 5/2024)