Die Corona-Krise überschattet politische und sozialökonomische Entwicklungen im Kaukasus. Im Südkaukasus, der zum Raum der Östlichen Partnerschaft der Europäischen Union (EU) gehört, verläuft die Infektionsdynamik höchst unterschiedlich. Während Armenien zu einem Epizentrum der Pandemie im Kaukasus geworden ist, zählt Georgien weltweit zu den Ländern mit den geringsten Covid‑19-Infektions- und ‑Todesraten. Selbst wenn es für frühzeitige und konsequente Maßnahmen zur Eindämmung der Infektionsausbreitung gelobt wird, sind die wirtschaftlichen Folgen auch für Georgien erheblich. Die Pandemie trifft im Südkaukasus auf Länder mit schwachen Sozial- und Wirtschaftssystemen, hoher Armut und Arbeitslosigkeit sowie einer großen »informellen Wirtschaft«. Sie zwingt die Regierungen zu anspruchsvollen Anti-Krisen-Plänen. In der Nachbarschaft des Südkaukasus liegt ein weiteres Epizentrum der Infektion: Russland. Dessen kaukasische Peripherie, der Nordkaukasus, stellt dabei eine besondere Problemregion dar.
Bis Ende Mai 2020 blieb die Gesamtzahl der im Südkaukasus registrierten Covid‑19-Fälle niedriger als in den meisten europäischen Staaten, wenn man sie im Verhältnis zur Bevölkerungsgröße betrachtet. Dies galt auch im Vergleich zu Osteuropa, zum nördlichen Teil des Raumes der Östlichen Partnerschaft der EU: Zu diesem Zeitpunkt überschritt in Belarus, dessen Präsident Alexandr Lukaschenko die Pandemie verharmlost, die Zahl der Infektionsfälle 40 000 (bei circa 9,5 Millionen Einwohnern). Im Südkaukasus hingegen, dem südlichen Abschnitt dieses Partnerschaftsraumes, belief sie sich auf rund 15 000 (bei rund 17 Millionen Einwohnern).
Dabei klafften allerdings die Fallzahlen zwischen Georgien und Armenien weit auseinander. In Armenien lagen sie um mehr als das Zehnfache höher als in dem Nachbarland. Und im Juni nahm die Infektionsdynamik in Armenien noch dramatisch zu – mit Hunderten Neuinfektionen täglich. Am 30. Juni verzeichnete das Land bereits über 25 000 Infizierte und 443 Verstorbene; Aserbaidschan, das mit 10 Millionen Einwohnern größte Land in der Region, zählte über 17 000 Infizierte und 213 Verstorbene. In Georgien indes waren die Zahlen immer noch niedrig: 928 Infektions-, 15 Todesfälle.
In den Sezessionsterritorien Abchasien und Südossetien lagen die Zahlen im zweistelligen Bereich, in Berg-Karabach gab es 118 Infektionen. Doch darf man an der Verlässlichkeit der Daten aus den De‑facto-Staaten zweifeln, da Testkapazität und Transparenz in diesen international isolierten Territorien zu wünschen übrig lassen. In dem zu Russland gehörenden Nordkaukasus betrug die Infektionszahl Ende Juni rund 37 000.
Staatliche Maßnahmen im Südkaukasus
Als am 26. Februar der erste Covid‑19-Fall in Georgien gemeldet wurde, bildete die Regierung eine Task-Force aus Medizinern und Regierungsvertretern. Nachdem schon im Januar der Flugverkehr mit China eingestellt worden war, wurden im März weitere Ein- und Ausreiseverbote verhängt, der öffentliche Nah- und Fernverkehr eingestellt, die Wirtschaft heruntergefahren, Ausgangsbeschränkungen erweitert und der Notstand ausgerufen. Aus der Georgischen Orthodoxen Kirche kam zwar Widerspruch gegen Einschränkungen bei Gottesdiensten, doch die Bevölkerung stellte sich mehrheitlich hinter die Lockdown-Regeln. Am 27. Mai präsentierte Regierungschef Giorgi Gacharia vor dem Parlament Georgien als das Land mit der niedrigsten Covid‑19-Todesrate in Relation zur Bevölkerungszahl unter 49 europäischen Ländern. Mit seiner Infektionszahl rangiere es weltweit an 123. Stelle.
Internationale Organisationen lobten Georgien für ein frühzeitiges und konsequentes Handeln zur Eindämmung der Infektion. In einer Analyse über Risiken der Pandemie für die Schwarzmeer-Region schreibt David J. Kramer, ein prominenter amerikanischer Experte für den postsowjetischen Raum und Regierungsberater, den »rechtzeitigen Maßnahmen durch die Regierung Georgiens und der verantwortungsbewussten Haltung auf Seiten der Gesellschaft« hohe Bedeutung zu, vor allem im Vergleich zu Nachbarstaaten wie Russland und Armenien, wo sich die Infektion stark ausbreite. Allerdings gibt er einen bedenklichen Ausblick auf das zweite Halbjahr 2020, weil im Oktober Parlamentswahlen in Georgien anstehen und politische Spannungen zunehmen könnten.
Auch die armenische Regierung reagierte früh auf erste Infektionsfälle und führte Anfang März weitreichende Einschränkungen für die Wirtschaft ein, lockerte sie aber sechs Wochen später für strategische Wirtschaftssektoren wie die Textilbranche, Rohstoffminen und den Bausektor. Mitte März rief sie den Notstand aus und verabschiedete Programme zur Unterstützung von Familien und Unternehmen in Höhe von 700 Millionen Euro oder 5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Doch der Versuch, gesundheitspolitische und sozialökonomische Herausforderungen auszubalancieren, hat nicht zum gewünschten Erfolg geführt. Offenbar waren auch Disziplin und Eigenverantwortung in der Bevölkerung unbefriedigend. Regierungschef Nikol Paschinjan, selbst mit dem Coronavirus infiziert, brachte seine Sorge über die Infektionsdynamik zum Ausdruck: Armenien hole Frankreich und Italien ein, was die Infektionszahlen pro einer Million Einwohner angeht. Gesundheitsminister Arsen Torosjan warnte vor einer Überforderung der Kliniken, da kaum noch Betten für weitere schwere Infektionsfälle zur Verfügung stünden.
In Aserbaidschan verhängte die Corona-Task-Force der Regierung Ende März einen totalen Lockdown, der im Mai wieder gelockert wurde. Mitte Juni stiegen die Neuinfektionen innerhalb von zwei Wochen um 50 Prozent an. Daraufhin stellte die Regierung sieben Städte und Regionen wieder unter strikte Quarantäne. Präsident Ilham Alijew rief die Bevölkerung zu mehr Disziplin und Eigenverantwortung auf. Die Armee unterstützte die Polizei bei Kontrollmaßnahmen. In sozialen Medien mehrte sich einerseits Protest gegen diese Maßnahmen, andererseits Kritik am medizinischen Management: Es gebe Todesfälle, die angeblich auf nicht rechtzeitige und nicht angemessene Behandlung zurückzuführen seien. Die Regierung hat ein Paket wirtschaftlicher Hilfsmaßnahmen zur Unterstützung kleiner und mittlerer Unternehmen im Umfang von 1,5 Milliarden Euro oder 3 Prozent des BIP auf den Weg gebracht.
Die Weltgesundheitsorganisation äußerte sich am 26. Juni besorgt über den steilen Anstieg der Infektionszahlen in 11 europäischen Ländern einschließlich Armeniens und Aserbaidschans. Dagegen ist für Brüssel Georgien einer von 15 Drittstaaten, deren Bürger wieder in die EU einreisen dürfen, weil die Infektionsausbreitung erfolgreich eingedämmt wurde.
Sozialökonomische Herausforderungen
Die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung schätzt die Wirtschaftsschrumpfung für 2020 in Aserbaidschan auf 3 Prozent, in Armenien auf 3,5 Prozent und in Georgien auf rund 5 Prozent. Das liegt unter der coronabedingten Rezession in großen Volkswirtschaften Europas oder den USA. Jedoch trifft die akute Krise im Kaukasus Länder mit schwachen Sozial- und Gesundheitssystemen und mit einer breiten Schattenwirtschaft.
Lediglich Aserbaidschan, das einen Großteil der Wirtschaftsleistung der Region erbringt, verfügt über nennenswerte eigene Ressourcen für finanzielle Hilfspakete. Aber auch seine Wirtschaft ist bedroht, betrifft die Pandemie doch den für seine Einnahmen ausschlaggebenden Energiesektor, der durch sinkende Preise auf dem Weltmarkt schon zuvor belastet war. Wirtschaftsminister Mikayil Jabbarow bezifferte am 25. April die wirtschaftlichen Kosten der Pandemie auf 70 bis 88 Millionen US-Dollar pro Tag.
Kaum einzuschätzen ist der Umfang notwendiger sozialökonomischer Hilfsmaßnahmen für Armenien, dem Epizentrum der Corona-Krise im Kaukasus. Zwar hatte die Regierung Mitte April einige strategische Wirtschaftssektoren wieder geöffnet. Ende Mai aber machte Ministerpräsident Paschinjan für drei Viertel der neuen Infektionsfälle Unternehmen verantwortlich, die nach der Wiederaufnahme des Betriebs die Schutzregeln nicht beachtet hätten. Als Folge wurden Hunderte Unternehmen vorübergehend wieder geschlossen.
In Georgien sank die Wirtschaftsleistung im März um knapp 3 Prozent, im April um knapp 17 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Besonders von der Krise betroffen waren die Sektoren Handel, Transport, Bauwesen und Gastronomie. Überweisungen aus der Diaspora im Ausland fielen um die Hälfte geringer aus als im selben Zeitraum 2019. Und die Landeswährung sank auf den tiefsten Stand im Verhältnis zu Dollar und Euro – allein von März bis April um 14 Prozent. Gleichzeitig stiegen die Lebensmittelpreise an, was die Akzeptanz der Lockdown-Maßnahmen in der Bevölkerung schmälert, zumal die Armuts- und die Arbeitslosenquote schon zuvor hoch waren.
Die Regierung hat Mitte März einen Anti-Krisen-Plan ins Leben gerufen, der die Wirtschaft stützen soll. Vor allem bemüht sie sich darum, die Beschränkungen im Tourismus zurückzunehmen, trägt dieser doch mit einer erheblichen Rate – 2019 rund 20 Prozent – zur Wirtschaftsleistung bei. Zunächst wurde nach mehr als zweimonatiger Unterbrechung ab Mitte Juni der inländische Bahn- und Flugverkehr wieder aufgenommen, Hotels und Gaststätten unter strengen sanitären Auflagen wieder geöffnet. Aber entscheidend für diesen Sektor sind ausländische Touristen; viele von ihnen kamen in den letzten Jahren aus den Nachbarländern Russland und Armenien, die aktuell zu den Risikogebieten zählen.
Die staatlichen Hilfsmaßnahmen bilden einen Kontrast zur bisherigen neoliberalen Wirtschaftspolitik: so zum Beispiel eine Preiskontrolle für Grundnahrungsmittel und die Zahlung von 60 Euro pro Monat an Arbeitslose für ein halbes Jahr. Am 9. Juni präsentierte Ministerpräsident Gacharia dem Parlament ein Budget für die Krisenbekämpfung 2020. Rund 1 Milliarde Euro sollen mobilisiert werden, was das Haushaltsdefizit auf 8 Prozent erhöhen wird. Gacharia bezeichnete dabei die Unvorhersehbarkeit als die größte Herausforderung für die Weltwirtschaft und erst recht »für Georgiens kleine und extrem offene Wirtschaft«. »Extrem offen« meint hier eine hohe Abhängigkeit von externen Faktoren, von ausländischen Direktinvestitionen, ausländischen Touristen etc.
Das erfordert für die Zeit nach der Corona-Pandemie, dass Wirtschaftssektoren, die weniger von auswärtigen Faktoren abhängig sind, stärker unterstützt werden. Dazu gehört etwa die Landwirtschaft, in der bis zu 40 Prozent der georgischen Bevölkerung beschäftigt sind – zu einem großen Teil unter den prekären Bedingungen von Subsistenzwirtschaft.
Finanzielle Unterstützung für ihre Anti-Krisen-Programme erhalten die südkaukasischen Länder aus Brüssel und Washington. Finanzhilfen für gesundheitspolitische Maßnahmen wurden besonders Georgien gewährt, um die dort konsequent durchgeführte Infektionseindämmung zu fördern. Internationaler Währungsfonds, Weltbank, EU und andere Organisationen steuerten dazu insgesamt 1,5 Milliarden US‑Dollar bei. Jedoch ist es vor allem Armenien, das medizinischer Unterstützung bedarf, da die Eindämmung von Covid‑19 zu einer gewaltigen Herausforderung für das Land geworden ist.
Politische Entwicklungen im Kontext der Corona-Pandemie
Vor der Pandemie haben im Südkaukasus einige signifikante politische Entwicklungen begonnen, die in der Corona-Krise nun mit einer ungeahnt neuen Situation konfrontiert sind.
In Armenien wurden nach dem als »Samtene Revolution« bezeichneten Machtwechsel im Frühjahr 2018 Reformprozesse angestoßen. Sie zielten auf Korruptionsbekämpfung, Justizreformen, Beseitigung von Wirtschaftsmonopolen und anderen Missständen, die sich unter der zwanzigjährigen Herrschaft der »alten Machtelite« im Umfeld der Republikanischen Partei herausgebildet hatten. Bereits 2019 verzeichnete die neue Führung unter Ministerpräsident Nikol Paschinjan und seiner im Parlament dominierenden Parteiallianz »Mein Schritt« wirtschaftliche und finanzielle Erfolge des Neustarts, zum Beispiel steigende Steuereinnahmen und eine Verbesserung des Investitionsklimas.
Diese Fortschritte prallen aktuell auf hohe coronabedingte Hindernisse und Herausforderungen. Die Auseinandersetzung zwischen der neuen Führung und Oppositionsparteien verschärft sich, wobei die Corona-Krise politisiert wird. Ging die neue Führung politisch und juristisch zuvor in erster Linie gegen Oligarchen aus dem Umfeld der Republikanischen Partei vor, wie die Ex-Präsidenten Robert Kotscharjan und Sersch Sargsjan, hat sich das gegnerische Spektrum nun ausgeweitet. Oppositionspolitiker aus anderen Parteien beschuldigten die Regierung, bei der Eindämmung der Infektion versagt zu haben. Paschinjan erwiderte die Kritik, indem er von einem mit dem Coronavirus einhergehenden »politischen Virus« sprach, das die Opposition verbreite. Ein Gesetz sollte »fake news« unterbinden und Nachrichten über die Corona-Pandemie auf staatliche Quellen beschränken, wurde aber als Eingriff in die Meinungsfreiheit beanstandet und abgeschwächt.
Im Juni spitzte sich mit den rasant ansteigenden Infektionszahlen der Streit zu. Der Oligarch Gagik Tsarukjan, Führer der Partei »Prosperierendes Armenien«, der zweitstärksten im Parlament, warf der Regierung Versagen im Kampf gegen Covid‑19 und auf anderen Handlungsfeldern vor und forderte ihren Rücktritt. Kurz darauf erhob der Nationale Sicherheitsdienst Anklagen gegen ihn, unter anderem wegen Bestechungsversuchen im Parlamentswahlkampf von 2017. Seine Immunität als Parlamentsmitglied wurde aufgehoben. Paschinjan schlug vor, die Partei Tsarukjans aus dem Parlament zu verbannen. Dieses Vorgehen rief international Kritik hervor, beispielsweise äußerte sich Donald Tusk, ehemaliger Präsident des Europäischen Rates, besorgt über »demokratische Rückschritte« in Armenien. Ein Gericht in Eriwan wies den Haftbefehl gegen Tsarukjan zurück.
Mehrere Oppositionsparteien verlangten eine parlamentarische Untersuchung zur Reaktion der Behörden auf die Pandemie. In Armenien zeichnet sich mehr und mehr ab, wie sehr die Infektionsdynamik den zuvor von breiten Teilen der Bevölkerung unterstützten Neustart belastet. Gleichwohl vertraut die Bevölkerung laut einer im Juli 2020 veröffentlichten Umfrage der Regierung unter Nikol Paschinjan immer noch mehr als der Opposition.
In Aserbaidschan forderte Präsident Alijew Ende 2019 Reformen, nahm umfangreiche Personalwechsel an der Machtspitze vor, die auf Verjüngung und mehr Fachkompetenz abzielten, sagte der Korruption und Schattenwirtschaft den Kampf an. Es wurde sogar schon von einem »Tauwetter« in dem autoritär regierten Land gesprochen. Auswärtige Beobachter interpretierten diese Entwicklung zwar nicht als grundlegenden politischen Systemwandel, aber als ein Anzeichen für eine vorsichtige Öffnung des autoritären Herrschaftssystems. Diese Hoffnung wurde allerdings schon bei den Parlamentswahlen im Februar 2020 enttäuscht.
In der Corona-Krise bezeichnete Präsident Alijew regimekritische zivilgesellschaftliche Gruppen und Oppositionskräfte als »fünfte Kolonne«, von deren Vertretern sich das Land reinigen müsse. Er beschuldigte sie, sich den Lockdown-Maßnahmen zu widersetzen und »fake news« zu verbreiten. In der Folgezeit wurden Dutzende Aktivisten verhaftet. Des Weiteren wurden digitale Kontrollmaßnahmen ausgebaut, die sich gegen regimekritische Kräfte richten. Dies stellt die vorherigen Reformsignale in Frage; Kritik kam vom Europarat und von internationalen Menschenrechtsorganisationen.
In Georgien spitzte sich 2019 die Auseinandersetzung zwischen dem Regierungs- und dem Oppositionslager zu. Westliche Partner des im Assoziierungsprozess mit der EU stehenden Landes äußerten die Befürchtung, Georgiens bisherige Reformbilanz könne durch wachsenden politischen Tumult gefährdet werden. Im Streit über Verfassungsänderungen, insbesondere über eine Reform hin zu einem überwiegend proportionalen Wahlsystem, traten sie als Vermittler auf. Die Botschafter der EU, Deutschlands und der USA setzten sich dafür ein.
Eine Zielscheibe innen- und außenpolitischer Auseinandersetzungen war der reichste Mann des Landes und Leiter der Regierungspartei »Georgischer Traum«, Bidzina Iwanischwili. Er galt als die Verkörperung von »informal rule«, als der Strippenzieher, ohne dessen Einwilligung keine relevanten Entscheidungen getroffen werden. Gegen ihn verbündeten sich Oppositionsparteien und zivilgesellschaftliche Gruppen.
Angesichts der coronabedingten Herausforderungen an Staat und Gesellschaft ist der politische Streit eher zurückgetreten; die Corona-Krise wird in Georgien zumindest nicht von der Verstärkung einer politischen Systemkrise begleitet. Die Bürger klagen hier weniger als in vielen anderen Ländern über mangelnde Transparenz, was die Kommunikation der Regierung über die Infektionszahlen und die Eindämmungsmaßnahmen anbelangt. Das gesundheitspolitische Krisenmanagement obliegt Epidemiologen und medizinischen Experten des Nationalen Zentrums für Krankheitskontrolle und Öffentliche Gesundheit, dessen Leiter Amiran Gamkrelidze zum Star aufgestiegen ist. Im Unterschied zu einigen Regierungsvertretern unterliegt dieser Personenkreis nicht dem Verdacht, von Bidzina Iwanischwili abhängig zu sein.
Auch der Streit um die Person und politische Rolle des Multimilliardärs ist in den Medien etwas in den Hintergrund getreten, selbst wenn er in Anbetracht der für Oktober angesetzten Parlamentswahlen gewiss nicht beendet ist. Iwanischwili spendete 25,5 Millionen US-Dollar für den Kampf gegen Covid‑19 in seinem Land.
Allerdings haben sich in Georgien in der Corona-Krise zwei Problemfelder aufgetan: das Verhalten kirchlicher Kreise und der Umgang mit Minderheiten. Weltweit forderten die Infektionsdynamik und die Maßnahmen zu ihrer Eindämmung Kirche und Staat heraus, fielen sie doch in eine Periode hoher religiöser Festtage wie Ostern und Ramadan. Vor allem in einigen Ländern der christlich-orthodoxen Welt provozierte die Verpflichtung, Abstand zu halten, den Widerstand einiger Kleriker gegen Einschränkungen in Gottesdiensten. Im Kaukasus war dies in Georgien der Fall. Entgegen den staatlichen Vorsichtsregeln blieben einige Kirchen geöffnet. Abstands- und Hygienegebote wurden zum Beispiel durch die Erteilung der Kommunion mit dem traditionellen Gemeinschaftslöffel verletzt. Selbst wenn dies die Infektionszahlen nicht hochschnellen ließ, äußerten Opposition und zivilgesellschaftliche Gruppen Kritik daran, dass die Regierung dem nicht entschieden genug entgegengetreten ist. Sie hielten ihr Abhängigkeit von der Kirche vor, die in Georgien erheblichen Einfluss hat. In islamischen Gebieten kooperierten Religionsführer bei den Vorsichtsmaßnahmen weitgehend mit den staatlichen Stellen – so in Aserbaidschan. Auch die Armenische Apostolische Kirche folgte den staatlichen Anweisungen.
Innerhalb Georgiens war ein Landesteil besonders von Covid‑19 betroffen, in dem der Anteil der aserbaidschanischen Minderheit hoch ist. Hier wurden Städte und Distrikte wie Bolnisi und Marneuli abgesperrt. In sozialen Medien tauchten Hasskommentare gegen Aserbaidschaner auf, ultranationalistische Gruppen verbreiteten fremdenfeindliche Parolen. Die georgischen Sicherheitsdienste leiteten Ermittlungen gegen solche Aktivitäten ein, fällt die Minderheitenfrage in Georgien doch ins Gewicht: Es ist das Land mit dem höchsten Anteil ethnischer und religiöser Minderheiten an der Bevölkerung (etwa 16 Prozent) unter den drei südkaukasischen Staaten.
Die Corona-Krise im Nordkaukasus
Die Russische Föderation ist ein Epizentrum der Coronavirus-Infektionen – an vierter Stelle hinter den USA, Brasilien und Indien. Wurde Präsident Wladimir Putin in den letzten zehn Jahren mit Rezentralisierung und der Errichtung einer »föderalen Machtvertikale« identifiziert, hat er nun die Infektionsbekämpfung an Gouverneure und Republikhäupter delegiert, um nicht mit unpopulären Isolationsmaßnahmen in Verbindung gebracht zu werden. In Russland war schon vom »Corona-Föderalismus« die Rede.
Unter den 85 »Föderationssubjekten« haben 10 besonders strenge Isolationsmaßnahmen ergriffen – dazu gehören die beiden nordkaukasischen Teilrepubliken Dagestan und Nordossetien. Im Nordkaukasus liegen die Infektionszahlen höher als in vielen anderen Regionen der Russischen Föderation, allerdings noch deutlich unter denen im Großraum Moskau. Der Föderalbezirk Nordkaukasus mit einer Bevölkerungszahl von knapp 10 Millionen Menschen umfasst sechs Teilrepubliken von Karatschai-Tscherkessien im Westen bis Tschetschenien und Dagestan im Osten sowie die Region Stawropol. Hinzu kommen die Region Krasnodar mit 5,3 Millionen und die Republik Adygeja mit 440 000 Einwohnern, die geographisch ebenfalls zum Nordkaukasus gezählt werden.
Diese kaukasische Peripherie Russlands verzeichnete Ende Juni über 37 000 Infizierte und knapp 800 an Covid‑19 Verstorbene, wobei die Zahlenangaben zur Todesrate hier wie im übrigen Russland als zu niedrig und als intransparent gelten. Unter den kaukasischen Teilrepubliken weist Dagestan, mit 3 Millionen Einwohnern die größte, die höchste Rate auf: mehr als die Hälfte der coronabedingten Todesfälle im gesamten Nordkaukasus. Russland stellte knapp 70 Millionen US-Dollar für den Kampf gegen Covid‑19 in dieser Republik zur Verfügung.
Die kaukasische Peripherie ist ein in sozialökonomischer Hinsicht problematischer Teil der Russischen Föderation, Armut, Unterentwicklung und Korruption sind an der Tagesordnung. Die Budgets der dortigen Föderationssubjekte sind von Subventionen aus dem föderalen Haushalt abhängig, die aktuell rückläufig sind. Die Expertin für regionale Wirtschaftsentwicklung Natalja Subarjewitsch schätzt, dass Russlands Regionen 2020 mindestens 18 Milliarden US-Dollar an Einkünften im Vergleich zum Vorjahr verlieren werden. Die Unterfinanzierung der Infrastruktur betrifft auch den Gesundheitssektor. Berichten zufolge besteht in Russland generell eine Kluft zwischen dem Zentrum und einigen entlegeneren Regionen, was die Leistungsfähigkeit von Kliniken angeht. Vor allem im Nordkaukasus regten sich in Krankenhäusern Proteste über mangelnde Ausstattung und überdurchschnittlich viele Covid‑19-Todesfälle unter dem medizinischen Personal.
Während bewaffnete Aufstände und Terroraktivitäten durch Jihad-Netzwerke in den letzten fünf Jahren im Nordkaukasus zurückgegangen sind, könnte wachsende Frustration in der Bevölkerung zum Problem werden, wenn die Corona-Krise noch lange anhält. So kam eine der schärfsten Reaktionen auf die Lockdown-Maßnahmen in Russland aus Wladikawkas, der Hauptstadt Nordossetiens. Dort versammelten sich am 20. April bis zu 2 000 Demonstranten und verlangten die Aufhebung der Quarantäne ebenso wie den Rücktritt des Republikführers.
Die größte sozialökonomische Herausforderung für die Entwicklung nach der Corona-Pandemie sind Maßnahmen zum Wiederaufbau der geschrumpften Wirtschaft. Der föderale Haushalt ist durch die Krise zu stark unter Druck, als dass die Subventionen für die kaukasische Peripherie erhöht werden könnten. Zudem ist im letzten Jahrzehnt in der russischen Bevölkerung die Abneigung gegen Subventionen für die dortigen Föderationssubjekte gestiegen. Ausdruck dafür ist die Parole »Hört auf, den Kaukasus zu päppeln.«
In Tschetschenien tritt die Gewaltherrschaft des Republikführers Ramsan Kadyrow im Kontext der Corona-Pandemie verstärkt zutage. Anfangs verharmloste er die Pandemie, wie einige andere autoritäre Herrscher auch, und drohte »Panikmachern«. Nachdem strenge Isolationsmaßnahmen verhängt worden waren, verglich er Infizierte, die sich nicht an die Quarantäne halten, mit Terroristen, die liquidiert gehörten.
Konfliktentwicklungen und Geopolitik im Kontext der Corona-Krise
Die Situation im Südkaukasus ist vor allem durch bislang ungelöste ethnoterritoriale Konflikte geprägt. Innerregionale Barrieren wie die geschlossene Staatsgrenze zwischen Armenien und Aserbaidschan belasten die Region. Die EU optiert in ihrer Nachbarschaftspolitik für gute innerregionale Beziehungen in den Partnerregionen. Im Südkaukasus ist dieser Wunsch nicht aufgegangen.
Und die Corona-Pandemie hat wie im EU-Raum und in anderen Weltregionen auch hier zu weiteren Grenzschließungen geführt. Zu Beginn der Pandemie war der Iran ein Epizentrum der Corona-Ausbreitung im Umfeld des Kaukasus. Erste Infektionsfälle in kaukasischen Ländern betrafen Rückreisende aus dem Iran, zu dem man nun auf Distanz ging. In der Folgezeit schlossen angesichts der Infektionsdynamik in Armenien die Nachbarn ihre Grenzen zu dem schon zuvor isolierten Land. Sogar der tägliche Personenverkehr zwischen der Republik Armenien und dem von ihr protegierten Berg-Karabach wurde eingeschränkt. Damit verstärkt sich für Armenien die geoökonomische Isolation, in die es infolge der prekären Beziehungen zum Nachbarland Aserbaidschan geraten ist und durch die es von Transitprojekten zwischen dem Kaspischen Meer und Europa abgeschnitten wird.
Die ungelösten Konflikte treten hinter der Corona-Krise nicht zurück. Das gilt etwa für den Karabach-Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan. Im Frühjahr 2020 kam es wieder zu einzelnen Gewaltzwischenfällen an der Waffenstillstandslinie und zu gegenseitigen Drohungen. Zuvor waren seit 2018 unter internationaler Vermittlung die Kontakte zwischen den Präsidenten und Außenministern Armeniens und Aserbaidschans intensiviert worden, ebenso die Verhandlungen über eine schrittweise Konfliktlösung. Die Gegensätze zwischen den Positionen der Konfliktparteien konnten aber nicht überwunden werden.
Zwischen Georgien und Russland haben die Spannungen sogar zugenommen. Tiflis hat neuere Übergriffe aus den »okkupierten Gebieten« Abchasien und Südossetien beanstandet: Grenzpfähle und Stacheldrahtzäune seien von dort auf Gebietsteile in »Kerngeorgien« verlegt worden, ein Vorgehen, das unter der russischen Bezeichnung »borderisatsija« seit Langem beklagt wird. Georgiens westliche Partner und internationale Organisationen unterstützen diese Anklage.
Der Kreml hat seine Attacken gegen das Richard-Lugar-Labor in Tiflis verschärft, das er der Herstellung von Bio-Waffen bezichtigt. Das 2011 eröffnete, in Kooperation mit den USA gegründete Laboratorium wird seit 2018 vom georgischen Nationalen Zentrum für Krankheitskontrolle und Öffentliche Gesundheit geleitet. Es bildet derzeit ein Zentrum der epidemiologischen Forschung und der Testmaßnahmen zum Coronavirus in Georgien. Russische Medien und die Sprecherin des Außenministeriums in Moskau verbreiten die Theorie, »vom Pentagon kontrollierte US-Laboratorien in ehemaligen Sowjetrepubliken« seien für den Ausbruch von Covid‑19 in Russland verantwortlich. Das richtet sich in erster Linie gegen Georgien, aber auch gegen Labore, in denen das mit Russland in engeren Beziehungen stehende Armenien mit westlichen Partnern kooperiert. Moskau fordert die Inspektion des Lugar-Labors durch eine exklusiv russische Delegation, Tiflis würde ein internationales, nicht ausschließlich russisches Inspektionsteam akzeptieren. Darauf ist Moskau bisher nicht eingegangen.
Ausblick
Der georgische Regierungschef Gacharia bezeichnet Unvorhersehbarkeit als ein Hauptproblem für Wirtschaft und Politik im Umfeld der Pandemie. Das gilt wohl auch für die Frage, inwieweit externe Akteure, die von der Corona-Krise selbst stark betroffen sind, sich in einer Region wie dem Kaukasus wirtschaftlich und sicherheitspolitisch engagieren. Die Entwicklung im Südkaukasus tangiert zum Beispiel die Politik der Östlichen Partnerschaft der EU. Der Rat der EU hat im Mai Schlussfolgerungen für diese Politik für die Zeit nach 2020 erörtert und sich für einen »strategischeren, ehrgeizigeren, flexibleren und inklusiveren Rahmen für die Zusammenarbeit« ausgesprochen: Es gelte, gemeinsame Herausforderungen zu meistern, insbesondere in der durch Covid‑19 hervorgerufenen beispiellosen Situation.
Doch die größte wirtschaftliche Herausforderung in ihrer eigenen Geschichte sowie gewaltige finanzielle Aufwendungen für ein Wiederaufbauprogramm in ihren Mitgliedsländern werfen die Frage auf, inwieweit die EU diesen »ehrgeizigeren Rahmen« ausfüllen will und kann, auch wenn sie sich bereits an Hilfen für ärmere Länder bei der Corona-Bekämpfung maßgeblich beteiligt hat, etwa dem internationalen Spendenmarathon. Schon vor der Corona-Krise sind Zweifel daran geäußert worden, dass der Südkaukasus für alle EU-Staaten eine außen- und sicherheitspolitische Priorität darstellt.
Russland hat den Südkaukasus nach dem Krieg gegen Georgien 2008 zu seiner Einflusszone deklariert. Den Nordkaukasus betrachtet es als seine innere Angelegenheit, als eine Region, in der internationale Politik nichts zu suchen hat. Doch es scheint wenig wahrscheinlich, dass der föderale Haushalt höhere Subventionen für den Nordkaukasus bereitstellen wird, um dringliche Wiederaufbaumaßnahmen nach der Corona-Krise in die Wege zu leiten.
Dr. Uwe Halbach ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien.
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doi: 10.18449/2020A62