Im Jahr 2017 haben Deutschland und Frankreich eine mögliche Weiterentwicklung des Kampfhubschraubers »Tiger« in Aussicht gestellt. Dieses Projekt ist Teil einer größeren deutsch-französischen Initiative, mit der Paris und Berlin ihr gemeinsames Engagement im Dienste einer Stärkung der militärischen Handlungsfähigkeit Europas unterstreichen wollen. Ende Dezember 2021 haben sich Frankreich und Spanien auf eine gemeinsame Weiterentwicklung geeinigt und Deutschland eingeladen, bis Mitte 2022 zu gleichen Bedingungen beizutreten. Diese Entscheidung zeigt, dass Frankreich jetzt bereit ist, Rüstungsprojekte ohne Deutschland voranzubringen. Damit steigt der Druck auf die Bundesregierung. Sollte sich Berlin aus dem Vorhaben zurückziehen wollen, könnte dies Auswirkungen auf die gesamte deutsch-französische Rüstungskooperation haben. Drei Reaktionsmöglichkeiten sind vorstellbar: ein Beitritt und damit der Beginn der Modernisierung des Tigers, der Kauf US-amerikanischer Maschinen und eine Ergänzungs- bzw. Übergangslösung aus europäischer Produktion. Die neue Bundesregierung sollte für sich zügig entscheiden, wo im Spannungsfeld zwischen politischen Zielen, finanziellen Herausforderungen und industriellen Interessen die Prioritäten liegen, um die militärischen Fähigkeiten zumindest zu erhalten.
Die Zeichen verdichten sich, dass die deutsche Beteiligung am Kampfhubschrauber-Projekt »Tiger« vor dem Ende steht.
Der Kampfhubschrauber Tiger ist mittlerweile ein altes Modell. Der Beginn der Planungen für den ersten Prototyp geht bereits auf das Jahr 1984 zurück. Die Technik im Inneren der Maschine entspricht heute nicht mehr dem aktuellen Stand und Ersatzteile werden rar. Eine umfassende Modernisierung – geplant unter dem Programmnamen »Tiger Mk III« – ist notwendig, um die Maschine auch nur in die Nähe eines Waffensystems zu bekommen, das auf einem Gefechtsfeld der Zukunft bestehen könnte. Erschwerend kommt im Hinblick auf die Weiterentwicklung hinzu, dass die bestehenden Modelle stark variieren. Deutschland (Kampfhubschrauber Tiger [KHT]), Frankreich (Unterstützungs- und Begleithubschrauber [HAP]/Unterstützungs- und Kampfhubschrauber [HAD]) und Spanien (HAD/HAP) betreiben unterschiedliche Ausführungen für unterschiedliche taktische Zwecke. Das internationale Interesse am Tiger, der von Airbus gebaut wird, ist gering und Skaleneffekte daher kaum zu erwarten. Derzeit bleiben nur Deutschland, Frankreich und Spanien als Betreiber. Australien als bisher einziger weiterer Nutzer beschafft voraussichtlich amerikanische AH-64-Apache-Kampfhubschrauber. Auch Deutschland liebäugelt mit den amerikanischen Produkten. Der US-Konzern Boeing hat unlängst bestätigt, dass die Bundeswehr Informationen zu seinem AH-64-Helicopter in der neuesten Variante AH-64E Apache Guardian eingeholt hat.
In ihrem Koalitionsvertrag beteuert die neue Bundesregierung ihre Absicht, »Ersatzbeschaffungen und marktverfügbare Systeme […] bei der Beschaffung zu priorisieren, um Fähigkeitslücken zu vermeiden«. Zudem wird die Weiterentwicklung wegen der geringen Produktzahlen und der unterschiedlichen Ausrüstung sehr wahrscheinlich weit mehr kosten als die 846 Millionen Euro, die im 13. Bericht des Bundesministeriums der Verteidigung zu Rüstungsangelegenheiten (2021) veranschlagt wurden. Sie wird wahrscheinlich sogar die ursprünglichen Anschaffungskosten überschreiten. Spanien hat rund 1,2 Milliarden Euro für die Weiterentwicklung seiner Tiger-Flotte (ca. 18 Maschinen) bereitgestellt, Frankreich wird etwa 4,8 Milliarden Euro in seine Flotte (ca. 67 Maschinen) investieren. Nicht klar ist derzeit, ob tatsächlich die ganze Flotte oder nur ein Teil erneuert werden wird. Die 68 Maschinen, die Deutschland im Laufe der Jahre übernommen hat, kosteten ungefähr 3,55 Milliarden Euro. Das macht eine mögliche Weiterentwicklung unattraktiv für die Bundeswehr, auch weil der Nachholbedarf überall in den Streitkräften groß und die Finanzierung schwierig ist.
Der Tiger ist nicht sofort am Ende seiner Leistungsfähigkeit. Die Rolle eines Kampfhubschraubers innerhalb von Einsätzen wird er möglicherweise noch bis ins Jahr 2035 erfüllen können. Doch das Beispiel des Schweren Transporthubschraubers zeigt, dass bei einer Neubeschaffung absolut keine Zeit verloren werden sollte, da das damit verbundene Verfahren Jahrzehnte dauern kann.
Kampfhubschrauber sind unverzichtbar
Kampfhubschrauber erfüllen militärische Fähigkeitsprofile, die nicht einfach durch den Umbau ziviler Maschinen abgedeckt werden können.
Sie sind speziell für die Bekämpfung von gepanzerten und ungepanzerten Bodenzielen konzipiert worden. Ihnen gegenüber stehen (leichte) Unterstützungshubschrauber. Dabei handelt es sich um (zivile) Hubschrauber, die entsprechend angepasst, also beispielsweise mit Raketenabschussvorrichtungen bestückt wurden, um die genannten Aufgaben zu erfüllen. Kampfhubschrauber eignen sich besser für den bewaffneten Einsatz als Unterstützungshubschrauber, weil ihre Gesamtkonstruktion aerodynamisch so abgestimmt ist, dass weniger fliegerische »Nachteile« entstehen und taktische Vorteile gewonnen werden können.
Die Fähigkeiten von Kampfhubschraubern werden auch in Zukunft in Szenarien der Landes- und Bündnisverteidigung (LV/BV) und des Internationalen Krisenmanagements (IKM), das heißt in Auslandseinsätzen, gebraucht werden. Kampfhubschrauber können aufklären und Räume überwachen, Geleitschutz für Kolonnen am Boden und in der Luft bieten, den Feind direkt bekämpfen oder als Sensor das Feuer anderer Plattformen leiten.
Von den 30 Nato-Partnern verfügen 15 über Kampfhubschrauber. Lediglich sechs davon (Deutschland, Frankreich, Italien, Türkei, Vereinigtes Königreich, Vereinigte Staaten) besitzen eine Flotte mit mehr als 30 Maschinen. Der Rest hat zwischen sechs und 28 Kampfhubschrauber im Bestand, darunter auch veraltete Fluggeräte aus russischer Produktion. Es liegt daher auch in der Verantwortung wirtschaftlich stärkerer Nationen wie Deutschland, die mit diesen Hubschraubern verknüpften Fähigkeiten solidarisch zu stellen. Auch deswegen kann keine der verbliebenen drei Tiger-Nationen auf den Gefechtswert dieser Schlüsselfähigkeit verzichten, was Frankreich und Spanien mit ihrer Entscheidung zur Zusammenarbeit deutlich gemacht haben.
Dilemmata für die neue Bundesregierung
Die Probleme des Tiger-Projekts stehen exemplarisch für die Zielkonflikte in der deutschen Rüstungspolitik. Die Bundesregierung muss teils widerstrebende Absichten und Vorsätze abwägen und entscheiden, wo im Spannungsfeld zwischen politischen Zielen, finanziellen Herausforderungen und industriellen Interessen die Prioritäten liegen, um die militärischen Fähigkeiten zu erhalten. Eine vertragliche Vereinbarung mit Airbus besteht auf Seiten der Bundesrepublik derzeit nicht. Daher scheidet eine rechtliche Dimension als Faktor aus.
Politische Dimension
Das Ziel der Rüstung sind einsatzbereite Streitkräfte, die zur Verteidigung der Bundesrepublik geeignet sind und in Einsätzen im Rahmen der Nato, der EU oder der Vereinten Nationen (VN) entsandt werden können. Deutschland beschafft seine Rüstungsgüter vor allem in Europa, wobei bestimmte sogenannte Schlüsseltechnologien im Inland produziert werden müssen. Es will ein verlässlicher Bündnispartner in der Nato sein und die Verteidigungsfähigkeit der EU erhöhen. Theoretisch widersprechen sich diese beiden Anliegen nicht, geht eine Stärkung der Bundeswehr doch mit positiven Effekten für die Nato und die EU einher.
Die Maßgabe der Beschaffung in Europa erfordert aus technischen und finanziellen Gründen zunehmend eine innereuropäische rüstungspolitische Zusammenarbeit. Die Festigung der rüstungsindustriellen Basis in den Mitgliedstaaten der EU qua Kooperation ist ein besonderes Anliegen Frankreichs, Deutschlands engstem Partner in Europa. Gemeinsame europäische Projekte erhöhen zwar die Integrationsfähigkeit der daran teilnehmenden Staaten und sind oft Ausgangspunkt einer Vertiefung der militärischen Kooperation unter ihnen. Aber die Partikularinteressen der Beteiligten erschweren die Einigung. Die Beschaffung von Rüstungsgütern im Bündnis ist außerdem nicht immer die finanziell günstigste Variante.
Finanzielle Dimension
Die finanziellen Auswirkungen der Covid-19-Pandemie sind noch nicht klar absehbar. Bisher gilt die mittelfristige Finanzplanung der vorherigen Bundesregierung, das heißt, dass der Einzelplan 14 ab 2023 kleiner ausfallen wird als zuvor. Rüstungspolitische Entscheidungen stehen daher noch stärker unter einem Finanzierungsvorbehalt. Die Bundesregierung muss also Rüstung und Beschaffung kostengünstig möglich machen.
Industrielle Dimension
Die Verteidigungsfähigkeit der EU zu stärken, bedeutet, die industriellen Kapazitäten innerhalb der Union zu entwickeln und in die gemeinsamen Programme der Mitgliedstaaten (PESCO) zu investieren. Diese Strategie dient einer größtmöglichen Unabhängigkeit von außereuropäischen Anbietern. Der europäische Markt bietet aber nicht alle Plattformen für die militärisch benötigten Fähigkeiten an. Er muss sie also neu entwickeln.
Neuentwicklungen sind wesentlich teurer als marktverfügbare Lösungen, auf die bereits viele Kunden zurückgreifen. Hohe Kosten ziehen hohe Preise und damit geringere Absatzmengen nach sich. Wenn die europäischen Produkte kaum Abnehmer finden, wird die Rüstungsindustrie des Kontinents zwar unterstützt, die Stärke der Verteidigung nimmt aber nicht zu.
Militärische Dimension
Zu wenig oder veraltetes Material zu besitzen bedeutet, über eine geringe militärische Durchhaltefähigkeit zu verfügen. Damit stellt sich die Frage nach der Verlässlichkeit der Streitkräfte, ganz abgesehen von der Verringerung der abschreckenden Wirkung, die von ihnen ausgeht.
Für das Militär ist die Verfügbarkeit adäquaten Materials in ausreichendem Umfang das entscheidende Kriterium für die Erfüllung ihres Auftrags, sei es die Verteidigung oder das Krisenmanagement. In dem zur Nutzung bereitgestellten Material drückt sich zum einen die Wertschätzung des militärischen Dienstes von Seiten des ausrüstenden Staates aus, zum anderen erhöht es die Überlebensfähigkeit und damit die Moral der Truppe.
Der Kern der Entscheidung für oder gegen eine deutsche Beteiligung an der weiteren Nutzung des Tigers ist eine Abwägung zwischen politischen und industriestrategischen Faktoren auf der einen und finanziellen Faktoren sowie dem Aspekt der Einsatzbereitschaft auf der anderen Seite.
Die Option, aus dem Tiger-Projekt auszusteigen, ist für die Bundesrepublik möglicherweise rüstungs- und außenpolitisch riskant. Über die industrielle Zusammenarbeit hinaus sind die deutsch-französischen Beziehungen im Bereich Sicherheits- und Verteidigungspolitik seit Jahren kompliziert und teilweise angespannt. Die Divergenzen in den politischen Zielen werden immer deutlicher, was sich auch negativ auf die praktische Kooperation niederschlägt. In der Frage, wie Deutschland mit dem Projekt weiter verfahren soll, ergeben sich für die Bundesregierung grundsätzlich drei Möglichkeiten.
Möglichkeit A: Modernisierung des Tigers (Tiger Mk III)
Politische Dimension
Die Rüstungskooperation ist nicht die einzige Möglichkeit, die »strategische Souveränität« Europas und die deutsch-französische Verbindung zu stärken. Allerdings ist für Frankreich die Festigung der verteidigungstechnologischen und -industriellen Basis Europas (EDTIB) ein wesentlicher Bestandteil der europäischen Souveränität. Zudem ist die Modernisierung des Tigers seit 2018 auch ein PESCO-Projekt, ein Zeichen für den hohen Stellenwert, den die Zusammenarbeit bei der Hubschrauberproduktion als Ausdruck einer gemeinsamen europäischen Anstrengung hat.
Würde Berlin an der Weiterentwicklung des Tigers wie 2017 geplant festhalten, bliebe zumindest der Status quo der deutsch-französischen Kooperation erhalten. Da es sich um eine der ersten rüstungspolitischen Entscheidungen der neuen Bundesregierung handeln könnte, würde damit auch ein positives Signal in Richtung der Projekte FCAS (Future Combat Air System: Kampfflugzeug) und MGCS (Main Ground Combat System: Kampfpanzer) ausgesendet.
Sollten weniger Maschinen modernisiert werden können, etwa durch steigende Kosten, wird dies Auswirkungen auf Deutschlands Beitrag in der Nato haben. Dieses Defizit müsste anderweitig kompensiert werden, um politische Auseinandersetzungen innerhalb des Bündnisses zu vermeiden. Im Hinblick auf das aggressive russische Verhalten in Europa könnte von einem solchen Beschluss ein falsches Zeichen an die Partner ausgehen.
Finanzielle Dimension
Mehr Abnehmer für den Tiger und damit Teilnehmer für das entsprechende PESCO-Projekt sind nicht zu erwarten. Weil Skaleneffekte ausbleiben, werden die Kosten pro Stück im Vergleich zur Beschaffung einer Alternative höher sein. Es muss daher der Wille bestehen, im Zweifel mehr zu zahlen, um eine Reduktion der Kampfkraft zu vermeiden.
Industrielle Dimension
Durch den Verbleib im Projekt könnte zwar die industrielle Basis in Europa gestärkt werden; die damit verbundenen Kosten für den deutschen Steuerzahler stünden aber sehr wahrscheinlich in einem schlechten Verhältnis zum Output. Darüber hinaus bleibt die Frage der langfristigen Perspektive des Tiger-Projekts offen. Gelingt es nicht, die Produktionsumfänge zu erhöhen, das heißt, Kunden zu gewinnen, wird die Industrie stets zusätzlich alimentiert werden müssen.
Militärische Dimension
Ausgangspunkt der Überlegungen sollte auch hier die Erhaltung des Status quo sein. Ob mit der Weiterentwicklung eine Verbesserung der Einsatzbereitschaft einhergeht, ist fraglich. Eine größere Anzahl an Maschinen wird nicht beschafft werden können. Es ist nicht auszuschließen, dass aufgrund steigender Kosten erneut eine Verringerung des Flottenumfangs bevorsteht. Damit bleibt die Durchhaltefähigkeit unverändert oder sinkt langfristig sogar ab.
Möglichkeit B: Amerikanische Alternative kaufen
Es gibt keine europäischen Kampfhubschrauber-Alternativen. Die Beschaffung einer russischen Maschine verbietet sich aufgrund der Zugehörigkeit der drei »Tiger«-Nationen zur Nato und der geopolitischen Lage. Der amerikanische Kampfhubschrauber AH-64 der Firma Boeing ist daher die naheliegende Wahl. Es ist ein erprobtes, marktverfügbares Modell, das viele Nationen bereits nutzen.
Ein Strecken der Tiger-Nutzung im Sinne einer einfachen Erhaltung, das heißt ohne Weiterentwicklung oder Ergänzungen in der Einsatzfähigkeit bis zum Jahr 2035, könnte sogar die Möglichkeit eröffnen, direkt zur nächsten Generation Hubschrauber überzugehen. Die US Army entwickelt im »Future Vertical Lift«-Programm (FVL) eine völlig neue Art von Hubschraubern, um die Modelle, die ihre Ursprünge zum Teil in den 1960er Jahren haben, abzulösen. Sie sollen 2035 zur Verfügung stehen.
Dieses Vorgehen ist indes nicht ohne Risiko. Eine Verzögerung des Programms könnte zu einer Fähigkeitslücke bei den deutschen Streitkräften führen. Die Beschaffungskosten sind unklar. Fällt die Nachfrage gering aus, könnten die Maschinen für die Bundesrepublik unerschwinglich werden oder nur in zu geringer Stückzahl zu erwerben sein. Die Analyse bezieht sich daher auf die Beschaffung von AH-64E Apache Guardian.
Politische Dimension
Einer der engsten Kooperationspartner Deutschlands, die Niederlande, betreibt bereits AH-64. Hier würde sich also eine Option eröffnen für gemeinsame Schulungen, Trainings und Einsätze. Für eine Vertiefung der Zusammenarbeit mit dem Nachbarn wäre dies vorteilhaft. Darüber hinaus sind weitere positive politische Effekte denkbar: die Vertiefung der transatlantischen Beziehungen und die Stärkung von Deutschlands Position in der Nato. Letzteres insbesondere dann, wenn eine größere Anzahl an Maschinen beschafft werden würde. Fragen würden sich indes im Hinblick auf die weitere Rüstungskooperation mit Frankreich stellen.
Frankreich ist der Treiber im Bereich der Stärkung der EU-Verteidigungsfähigkeit, die jedoch ebenfalls im deutschen wie im US-amerikanischen Interesse liegt. Die deutsch-französische Partnerschaft ist ein wesentlicher Bestandteil der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik. Das ist zuletzt im Vertrag von Aachen 2019 untermauert worden. Wenn die Rüstungskooperation als Anker der deutsch-französischen Zusammenarbeit im Bereich der Verteidigungspolitik endet, könnte dies einen starken Rückschlag für die europäische Rüstungsindustrie – und damit für die europäische Handlungsfähigkeit – bedeuten.
Die französisch-spanische Vereinbarung über eine gemeinsame Weiterentwicklung des Tigers mit oder ohne Deutschland kann als Fanal für weitere Projekte interpretiert werden. Das Einladen Deutschlands zur Mitarbeit an der Fortentwicklung des Tigers zu Konditionen, die sie bereits festgelegt haben, zeigt, dass Paris und Madrid sich von Berlin eine schnelle Entscheidung wünschen. Aus Sicht der beiden Partner ist die Bundesrepublik eine Bremse in der Zusammenarbeit. Deutschland war als einzige Nation unzufrieden mit dem ursprünglichen Angebot von Airbus. In Paris will man sich nicht länger hinhalten lassen und setzt daher Anreize.
Ein finaler deutscher Ausstieg könnte daher auch Folgen für die weiteren deutsch-französischen Rüstungsprogramme und darüber hinaus auf die bilaterale Verteidigungskooperation haben. Frankreich betrachtet die Projekte, deren Entwicklung bzw. Weiterentwicklung 2017 auf höchster politischer Ebene beschlossen wurde, als ein Ganzes. Die Programme MGCS, FCAS, MAWS (Maritime Airbone Warfare System: Seeaufklärungssystem), MALE (Medium Altitude Long Endurance: Eurodrohne) und Tiger Mark III sind für Paris miteinander verknüpft. Im Aachener Vertrag, der 2020 in Kraft getreten ist, haben darüber hinaus beide Partner ihren Willen zu gemeinsamen Projekten bekräftigt und die Bedeutung der »verteidigungstechnologischen und ‑industriellen Basis« hervorgehoben.
Finanzielle Dimension
Neben, je nach Ausstattungspaket, wahrscheinlich geringeren Beschaffungskosten (Tiger zuletzt ca. 67 Millionen Euro / Stück, AH-64 ca. 40 bis 60 Millionen Euro / Stück; Weiterentwicklung spanischer Tiger ca. 65 Millionen Euro / Stück) könnte sich die Möglichkeit für weitere Synergien mit Partnern und damit zu Kosteneinsparungen ergeben. Eine direkte Beschaffung über das Foreign-Military-Sales-Programm der US-Armee könnte teure »Goldrandlösungen« gleich zu Beginn ausschließen, weil man sich auf bereits vorhandene Verträge zwischen der US-Armee und dem Hersteller stützen und auf eine eigene deutsche »Ausstattungswunschliste« verzichten könnte. Damit wäre eine Beschleunigung der Beschaffung durchaus möglich und der Tiger müsste nicht mehr bis 2035 betrieben werden. Die finanzielle Belastung des Verteidigungshaushalts wäre im Falle der Aufgabe des Tigers zugunsten des AH-64E daher wahrscheinlich geringer.
Industrielle Dimension
Ein Ende der deutschen Tiger-Beteiligung könnte zunächst den Verlust der industriellen Fähigkeiten im Bereich der Kampfhubschrauberherstellung in Deutschland bedeuten. Betroffen wäre nicht nur die Endmontage in Donauwörth. Die Entscheidung könnte sich auch auf den Triebwerksentwickler MTR in Hallbergmoos auswirken. Andererseits wäre es vorstellbar, die amerikanische Maschine durch die deutsche Industrie in Kooperation mit den amerikanischen Herstellern betreuen zu lassen. Dies könnte allerdings die Kosten erhöhen, wie das Beispiel der Beschaffung des Schweren Transporthubschraubers zeigt. Und noch weitere Folgen wären denkbar. Frankreichs Irritation über die deutsche Rüstungspolitik, die sich nach dem Kauf von US-amerikanischen P-8A-Poseidon-Seefernaufklärern nochmals verstärkt hat, führt in Paris bereits zu Überlegungen, ob man die Programme FCAS und MAWS nicht lieber ohne Deutschland entwickeln sollte. Der französische Generalstabschef des Heeres hat nun diese Möglichkeit auch für das MGCS-Programm formuliert. An der französischen Bereitschaft, diesen Weg einzuschlagen, wenn die Zusammenarbeit mit Deutschland blockiert ist, sollte nun kein Zweifel mehr bestehen.
Entwicklungsprojekte wie FCAS und MGCS sind in Europa in nationalem Rahmen aber kaum mehr zu stemmen. Eine Beendigung dieser Rüstungskooperationsformate könnte letztlich die Zukunftsfähigkeit der europäischen Verteidigungsindustrie in Zweifel ziehen und damit wachsende Abhängigkeit von Herstellern außerhalb der EU bedeuten. Alle drei Parteien müssten sich aber fragen, ob es tatsächlich alternative Partner und Abnehmer für die Waffensysteme in Europa geben könnte.
Militärische Dimension
Die operative Verfügbarkeit, die beim deutschen Tiger nicht gewährleistet ist, würde bei der amerikanischen Alternative verlässlicher. Beim Kauf eines US-Systems erscheint die Weiterentwicklung außerdem langfristig gesichert. Darüber hinaus handelt es sich, beispielsweise beim AH-64E, um eine Maschine, die bereits heute von ihrer Bewaffnung her besser auf die Herausforderungen des Gefechtsfelds eingestellt ist als der deutsche Tiger derzeit.
Die Einführung eines neuen Waffensystems ist mit Infrastrukturmaßnahmen verbunden, etwa dem Umbau von Simulatoren oder von Hangars. Zusätzlich müssten Fluglehrer und Fluggerätemechaniker zuvor ausgebildet werden. Die Umsetzung dieser Prozesse dauert ebenfalls Jahre.
Möglichkeit C: Ergänzung
Ein Kompromiss zwischen dem politischen Wunsch, mit Frankreich zu kooperieren und die europäische industrielle Basis zu stärken einerseits, und den finanziellen und operativen Erwägungen andererseits könnte die Ausrüstung mit leichten Airbus H145M oder H160M sein. Erstere sind bereits als Unterstützungshubschrauber der Spezialkräfte (LUH SOF) und als Search-and-Rescue-Maschinen (SAR) im Betrieb der Bundeswehr und könnten auch zur Panzerabwehr ausgerüstet werden. Des Weiteren könnten sie gemeinsam mit anderem Gerät, zum Beispiel mit Aufklärungsdrohnen, eingesetzt werden (Manned-Unmanned-Teaming, MUM-T).
Frankreich hat im Dezember 2021 H160M bestellt. Sie sollen eine Reihe von verschiedenen Hubschraubertypen ablösen und damit die Flotte vereinheitlichen. Die Modelle wurden in Kooperation mit der französischen Armee entwickelt und sollen ab 2027 geliefert werden.
Für die »Ergänzungsvariante« wären theoretisch zwei weitere Optionen denkbar:
1. Erhaltung des Flottenumfangs der Kampfhubschrauber (KH) Tiger/AH-64 und zusätzliche Beschaffung von Unterstützungshubschraubern (UH). Diese Lösung würde zunächst höhere Beschaffungskosten, aber auch ein höheres Niveau an Flugstunden zu einem verhältnismäßig günstigen Preis bedeuten. Einsparungspotentiale ergäben sich damit nur sehr langfristig. Eine »solide« Bereitstellung der Kampfhubschrauber-Fähigkeit wäre gewährleistet.
2. Eine Verringerung der KH-Flotte Tiger/ AH-64 und der Aufbau einer umfangreicheren Flotte an bewaffneten UH könnte die Beschaffungskosten theoretisch auf gleichem Stand halten; realistisch wäre aber eine leichte Erhöhung. Allerdings würde die KH-Fähigkeit möglicherweise nur noch in sehr eingeschränktem Maße zur Verfügung stehen. Es ergäbe sich ein höheres Niveau an einsatzbereiten Piloten auf (unterschiedlichen) bewaffneten Plattformen zu günstigeren Preisen pro Flugstunde.
Politische Dimension
Zusätzliche europäische Militärmaschinen zu beschaffen ist Ausdruck des Willens, den Rüstungssektor in Europa zu stärken. Eine gemeinsame Ausbildung bliebe bei diesem Szenario darüber hinaus im Bereich des Möglichen. Dies würde den politischen Willen zur Zusammenarbeit unterstreichen. Dass die H145M in Deutschland und in Frankreich H160M betrieben werden (sollen), könnte eine Einigung indes erschweren. Eine Marinevariante könnte sich angesichts des Radlandewerks der H160M für Deutschland zwar anbieten; die Bereitschaft zu erzeugen, diesen Typ zusätzlich zu schon vorhandenen H145M zu beschaffen, dürfte aber einiger Überzeugungsarbeit bedürfen. Gleiches gilt umgekehrt für Frankreich.
Finanzielle Dimension
H145M wären für die Bundeswehr eine günstigere Ergänzung (ca. 13 Millionen Euro/Stück) dort, wo die Nutzung eines Kampfhubschraubers zu teuer wäre.
Beide oben beschriebenen Optionen werden sich mit einem Verbleib im Tiger-Projekt jedoch kaum realisieren lassen. Bei Option 1 wäre der hohe Entwicklungspreis hinderlich. Bei Option 2 bedeutet die Abnahme einer geringeren Menge eine Erhöhung des Stückpreises. Die Bundeswehr nahm statt der geplanten 80 nur 68 Maschinen ab. Der Stückpreis erhöhte sich dadurch von rund 47 auf etwa 67 Millionen Euro. Dies wäre beim US-amerikanischen AH-64 voraussichtlich nicht der Fall.
Industrielle Dimension
H145M und H160M werden von Airbus hergestellt und bieten daher die Möglichkeit, europäische Fähigkeiten, wenn auch in einem etwas anderen Segment, zu erhalten und die eigene (europäische) Rüstungsindustrie zu stärken. Die Maschinen müssten aber ebenfalls schnellstmöglich beschafft werden und würden den Haushalt daher zusätzlich strapazieren.
Militärische Dimension
H145M könnten als »Einstiegsmodell« zur Schulung für den Kampfhubschrauberbetrieb dienen. Sie würden damit geringere Flugstundenkosten produzieren. Die Fähigkeiten des UH könnten komplementär zu denen eines Kampfhubschraubers sein und wären im Zweifel geeignet, eine Lücke zu überbrücken und einem Fähigkeitsverlust vorzubeugen. Würde die Tiger-Nutzung bis 2035 gestreckt, würde sich diese Übergangslösung anbieten, weil die marktverfügbaren Maschinen schneller geliefert und in die Truppe integriert werden könnten.
Fazit
Das französisch-spanische Arrangement zeigt, dass beide Nationen auf den Tiger nicht verzichten wollen; auch Deutschland kann auf die Fähigkeiten eines Kampfhubschraubers nicht verzichten. Während die Effektivität des Tigers im Einsatz für alle drei Armeen hoch relevant ist, kommen insbesondere für Deutschland zwei wichtige Faktoren hinzu: Mit der Nutzung des Tigers signalisiert es seine Verlässlichkeit in der Nato und in der EU und festigt es die Glaubwürdigkeit der abschreckenden Wirkung konventioneller Kräfte. Alle drei Ziele hängen in hohem Maße von der Verfügbarkeit teurer Hochwertfähigkeiten ab, wie sie mit dem Hubschrauber verknüpft sind.
Für die neue Bundesregierung gilt es, die Entscheidung über eine Beteiligung an der Modernisierung des Tigers auf der Basis einer Priorisierung der genannten Faktoren zu treffen. Überwiegen die politischen und zugleich die industriestrategischen Gesichtspunkte, wäre eine Weiterentwicklung zu bevorzugen. Liegt der Schwerpunkt auf der finanziellen Komponente, müsste Deutschland von einer Weiterführung absehen. Eine spezielle Valenz hat die Frage, ob Berlin den politischen Willen hat, (weiter) in Kooperationsformaten mit Paris zusammenzuarbeiten. Schwindet dieser Wille, dann ist zu erwarten, dass sich die bereits bestehenden bilateralen Probleme intensivieren. Letztlich könnten damit weitere zentrale Kooperationsprojekte gefährdet werden. Damit stellt sich dann auch die Frage, welche Partner in der EU alternative Optionen darstellen könnten und welche Signale von einem solchen Umschwenken im Hinblick auf die Verteidigungsinitiativen der EU (PESCO, EDF) ausgehen würden.
Die Vereinbarung zwischen Paris und Madrid sendet hier eine Botschaft: Für Frankreich ist es kein politisches Tabu mehr, Rüstungsprojekte ohne Deutschland zu forcieren. Eine Gewichtsverlagerung in Richtung der Mittelmeernationen ist zu beobachten. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang die Ende September angekündigte französisch-griechische »strategische Partnerschaft« und vor allem der Ende November abgeschlossene Quirinal-Vertrag zwischen Paris und Rom. Beide Abkommen schließen auch gemeinsame Rüstungsprojekte ein. Der Quirinal-Vertrag sieht beispielsweise die Förderung der Zusammenarbeit zwischen den Verteidigungsindustrien Frankreichs und Italiens vor.
Aus militärischer Sicht ist vor allem eins entscheidend: Einsatzfähigkeit. Operative Voraussetzungen wie Verfügbarkeit, Überlebensfähigkeit auf dem Gefechtsfeld, eine zeitgemäße Bewaffnung und Aufklärungsmittel müssen am Ende in jedem Fall gegeben sein. Letztlich müssen Soldaten mit dem Gerät auf dem Gefechtsfeld bestehen können. Diese Prämisse sollte trotz aller politischen und finanziellen Argumente wesentlich in die Überlegungen einfließen.
Die Diskussion über die Zukunft des Tigers sollte ressortübergreifend geführt, die Entscheidung gemeinsam getroffen werden. Die militärfachliche Sicht gilt es besonders zu beachten. Die politische Akzeptanz sollte durch eine frühe Einbeziehung der entsprechenden Ausschüsse im Bundestag sichergestellt werden. Ein ausschussübergreifendes Format könnte dabei hilfreich sein.
Unabhängig vom Inhalt der politischen Entscheidung sollte Deutschland seine Absichten gegenüber Frankreich und Spanien zügig kommunizieren. Dies schafft Berechenbarkeit und damit Handlungsspielräume auf Seiten der Planer und Beschaffer. Die neue Bundesregierung sollte die Sachfrage daher oben auf ihrer Agenda platzieren.
Sven Arnold und Dr. Florian Schöne sind Gastwissenschaftler in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik.
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doi: 10.18449/2022A06