In der Entscheidung Moskaus vom 24. Februar 2022, erneut in die Ukraine einzumarschieren, kulminiert der seit 2008 zu beobachtende Trend zur Militarisierung der russischen Außenpolitik. Zugleich legt der Krieg die Schwächen der 2008 gestarteten Streitkräftereform offen. Die hohen Verluste der Armee begrenzen die militärischen Machtprojektionsfähigkeiten Russlands zum Beispiel in Syrien und in anderen Konflikten. Zudem setzen militärische Rückschläge und Teilmobilmachung einen wichtigen Pfeiler der Regimelegitimation unter Druck.
Seit 2008 lässt sich ein Bedeutungsgewinn militärischer Mittel im außenpolitischen Instrumentenkasten Russlands feststellen. Die erfolgreiche Durchsetzung nationaler Interessen ist zunehmend mit der glaubhaften Drohung mit militärischer Gewaltanwendung (»Zwangsdiplomatie«) oder dem Einsatz militärischer Macht verbunden. Davon zeugen der Krieg gegen Georgien (2008), die erzwungene Annexion der Krim (2014) sowie die Destabilisierung des Donbas, die Intervention in Syrien (2015) und der Einsatz von Söldnergruppen in Libyen, Mali und der Zentralafrikanischen Republik. Infolge dieser Operationen konnte Moskau nicht nur Interessen gegen die betroffenen Länder oder in ihnen durchsetzen, sondern auch seinen Einfluss im Nahen und Mittleren Osten und in Afrika ausbauen. Ferner ließ sich über die glaubwürdige Drohung mit militärischer Eskalation abschreckende Wirkung erzielen, zum Beispiel hinsichtlich der Nato-Ambitionen Georgiens und der Ukraine.
Die Militarisierung der Außenpolitik spiegelt sich auch in der Innenpolitik wider. So stieg der Anteil von Verteidigungs- und Rüstungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt von 3,1% im Jahr 2008 auf 4,1% im Jahr 2021. Mit einem Anteil von 10,6% am Gesamtbudget (2020) genießt die militärische Modernisierung eindeutig Priorität vor Sozialausgaben, etwa für Bildung und Gesundheit. Außerdem spielt die Militarisierung der Bildungs- und Geschichtspolitik eine wichtige Rolle bei der Legitimierung des autoritären Systems.
Russlands Militärreform im Realitätscheck
Der erneute Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar 2022 setzte den Trend zur Militarisierung der Außenpolitik fort, stellte darin aber zugleich eine qualitativ neue Stufe dar. Denn bis dahin waren alle Militärinterventionen Russlands begrenzt gewesen – entweder zeitlich wie der Fünf-Tage-Krieg gegen Georgien oder funktional wie die Intervention in Syrien, die sich auf Luftwaffe und Militärpolizei sowie Söldnergruppen beschränkte. Dagegen handelte es sich beim Angriff auf die Ukraine vom Februar 2022 um den ersten vollumfänglichen Kriegseinsatz Russlands gegen ein großes Land.
Gerade deshalb ist dieser der erste wirkliche Realitätscheck für Russlands militärisches Modernisierungsprogramm. Dabei offenbaren sich nicht nur Defizite bei Planung und Durchführung der Invasion, sondern auch strukturelle Schwächen des militärischen Reformprogramms.
Dieses war 2008 nach dem Georgienkrieg gestartet worden und zielte darauf ab, die russischen Streitkräfte von der veralteten, traditionellen Mobilisierungs- in eine moderne Einsatzarmee umzuwandeln. Sie sollte die ganze Bandbreite möglicher Militäroperationen abdecken, von der Bekämpfung transnationaler Bedrohungen bis hin zur regionalen Kriegsführung.
Die Reform war eingebettet in die seit den frühen 2000er Jahren geführte Debatte darüber, wodurch sich moderne Kriege auszeichnen und auf welche Art von Kriegsführung sich Russland vorbereiten müsse. Dabei standen, vereinfacht gesprochen, zwei miteinander verbundene Leitbilder moderner Kriegsführung im Vordergrund.
Der »Krieg neuen Typs« basiert auf einem holistischen Verständnis von Krieg. In den frühen, nichtmilitärischen Phasen geht es darum, den Gegner durch »aktive Maßnahmen« wie Desinformation und Subversion im Sinne »mentaler Kriegsführung« zu schwächen. Sobald der Krieg in die militärische Phase übergeht, werden nicht nur reguläre Soldaten eingesetzt, sondern es wird auch auf irreguläre Gewaltakteure zurückgegriffen, die in enger Koordination mit der Militärführung agieren. In der Folge baute Moskau seinen Pool dieser sogenannten Proxys beträchtlich aus. Zu ihnen gehören neben Freiwilligenverbänden vor allem die bis heute formal illegalen privaten Militärfirmen wie »Wagner«.
Das zweite Leitbild der russischen Militärreform ist der »Krieg der 6. Generation«, auch »kontaktlose Kriegsführung« genannt, der auch die Debatte zu den militärischen Endphasen des Krieges neuen Typs dominiert. Dahinter steht die Vorstellung, dass künftig militärische Operationen – wie schon die US-Intervention im Irak 2003 – über lange Distanzen unter besonderer Nutzung modernster, vor allem luft- und weltraumbasierter Systeme ausgetragen werden.
Im Sinne des Krieges neuen Typs lässt sich der Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar 2022 als Folge des Scheiterns nichtmilitärischer Mittel der Einflussnahme im Vorfeld begreifen. Versuche, Teile der ukrainischen Streitkräfte und Bevölkerung mit Desinformation und Subversion auf Russlands Seite zu ziehen, waren weitgehend erfolglos geblieben. Als die Entscheidung zum erneuten, diesmal offenen und massiven militärischen Eingreifen getroffen wurde, beruhten die Planungen offensichtlich auf einer fehlerhaften strategischen Aufklärung. Sie ging davon aus, dass die ukrainischen Streitkräfte schwach seien und die politische Führung in Kyjiw rasch kollabieren werde.
Im Verlauf des Krieges zeigte sich indes, dass Russlands Streitkräfte enorme Schwierigkeiten hatten, Kernelemente des Krieges der 6. Generation umzusetzen. Zwar waren der Anteil »moderner« Waffen am Gesamtarsenal 2020 offiziell mit über 70% angegeben sowie auf Rüstungsmessen und Paraden medienwirksam Modernisierungserfolge präsentiert worden. Nicht wenige der neuen Systeme, etwa der T-14-Armata-Kampfpanzer und das Su‑57-Kampfflugzeug, sind aber noch nicht in die Massenfertigung gegangen. Problematischer als Verzögerungen bei der Produktion einzelner Systeme ist der unzureichende Grad an Digitalisierung von Führungs-, Aufklärungs- und Kommunikationssystemen in den russischen Streitkräften. Berichte von der Front zeigen, dass russische Soldaten anstelle digitaler Karten Straßenatlanten aus der Sowjetzeit benutzten oder mangels verschlüsselter Nachrichtensysteme auf offene Handyverbindungen zurückgreifen mussten. In verlassenen Panzern fehlten wichtige elekronische Komponenten. Das dürfte auch eine Folge der endemischen Korruption in den Streitkräften sein.
Die geringe digitale Vernetzung in den russischen Streitkräften erschwert das koordinierte Zusammenwirken von Luftwaffe, Luftabwehr, Artillerie- und Infanterieeinheiten. In der Folge gelang es den russischen Streitkräften nicht, den Luftraum in der Ukraine zu kontrollieren, wie es das Konzept des Krieges der 6. Generation vorsieht. Dazu kommen Koordinationsprobleme zwischen den regulären Streitkräften und den Proxys. Da es den nur zu 75% bemannten Bataillonskampfgruppen vor allem an Infanterieeinheiten fehlte, übernahmen oftmals Söldnergruppen und Nationalgardisten deren Aufgabe. Zu Letzteren gehören die sogenannten Kadyrowzy, eine Art Privatarmee des tschetschenischen Machthabers Ramsan Kadyrow, wenngleich formal der Nationalgarde unterstellt.
Der Krieg offenbarte zudem, dass der reale Trainings- und Professionalisierungsstand der russischen Streitkräfte deutlich geringer war als auf dem Papier. Zwar hatten Russlands Streitkräfte seit 2008 Zahl, Frequenz, Umfang und Komplexität größerer Militärübungen massiv ausgeweitet. In der Ukraine eingesetzte Soldaten berichten jedoch, dass besonders in den Bataillonskampfgruppen zu wenig, zu kurz oder manchmal nur für Fotozwecke trainiert wurde. Dies unterminiert auch die auf den ersten Blick erfolgreichen Professionalisierungsbemühungen der russischen Streitkräfte. Hatte das Verteidigungsministerium 2008 mit 124.000 Vertragssoldaten, sogenannten Kontraktniki, geplant, waren es nach offiziellen Angaben 2020 bereits 405.000. Die bloße Zahl besitzt aber wenig Aussagekraft für den tatsächlichen Pool an gut ausgebildeten, einsetzbaren Zeitsoldaten, die nicht nur für das Bedienen komplexer Waffensysteme, sondern in westlichen Armeen als Unteroffiziere auch essentiell für die Aufrechterhaltung der Disziplin sind. Das russische Programm zur Ausbildung professioneller Unteroffiziere war an der Persistenz der traditionellen Militärkultur gescheitert, die nicht auf das Delegieren militärischer Führungsaufgaben jenseits des Offizierskorps ausgerichtet ist. In der Folge war die Invasion in der Ukraine oftmals mehr durch Chaos (»bardak«) und Schludrigkeit (»rasgildiatstwo«) gekennzeichnet statt durch effiziente Umsetzung moderner Konzepte von Kriegsführung.
Materielle Verluste und Kompensationsstrategien
Inwieweit Russlands Führung zur Durchsetzung außenpolitischer Interessen auch künftig glaubhaft auf militärische Drohungen bzw. Machtanwendung setzen kann, wird entscheidend davon abhängen, ob es ihr gelingt, die materiellen und personellen Verluste der Streitkräfte des Landes auszugleichen. Dies gilt umso mehr, als sich der Krieg gegen die Ukraine zum längeren Abnutzungskrieg entwickelt.
Nach Angaben der unabhängigen Analysewebsite Oryx, die nur durch Bildmaterial dokumentierte Verluste bei schweren Waffenkategorien zählt, verlor Russlands Militär bis zum 6. Dezember 2022 1.541 Kampfpanzer, 1.814 Schützenpanzer, 66 Kampfflugzeuge, 72 Helikopter und 12 Schiffe. Die Zahlen des ukrainischen Verteidigungsministeriums für denselben Zeitraum liegen deutlich darüber.
Die materiellen Verluste wiegen unterschiedlich schwer. Hardware in manchen Kategorien lässt sich rasch ersetzen, da entweder die industriellen Produktionskapazitäten nicht durch Sanktionen betroffen oder Lagerbestände vorhanden sind. Das trifft besonders auf Artilleriesysteme und ‑munition sowie gepanzerte Fahrzeuge zu. Schwieriger sind moderne Systeme zu ersetzen, deren Produktion und Wartung auf Komponenten angewiesen ist, deren Ausfuhr von EU und USA sanktioniert wurden. Moskaus Führung setzt nun auf eine Mischung aus Importsubstitution, ökonomischer Mobilisierung und Sanktionsumgehung. Ersteres stellt aufgrund der wenig innovationsfreundlichen Industriebasis Russlands den schwächsten Teil der Kompensationsstrategie dar. Bereits nach 2014 war es Moskau nur in sieben von 127 Güterkategorien gelungen, diese Güter erfolgreich zu substituieren. Daran kann auch die zunehmende Mobilisierung der Wirtschaft zugunsten der Rüstungsindustrie nichts Grundlegendes ändern, auch wenn die Produzenten von Waffen und militärischer Ausrüstung nun prioritären Zugriff auf rare Güterkategorien erhalten. Die Möglichkeiten, aus dem Ausland Rüstungsgüter zu beziehen, sind durch die westlichen Sanktionen und die Zurückhaltung möglicher Lieferländer wie etwa China begrenzt. Die einzigen Ausnahmen bilden bislang Belarus und der Iran, der Russland Drohnen liefert.
Von der »stillen Mobilisierung« zur Teilmobilmachung
Hoch sind auch die personellen Verluste der russischen Streitkräfte. Verteidigungsminister Sergej Schojgu gab am 21. September 2022 bekannt, es seien 5.937 russische Soldaten gefallen. Doch bis zum 25. November 2022 haben der russische Dienst der BBC und das unabhängige russische Medienunternehmen Mediazona bereits 9.311 gefallene russische Soldaten namentlich identifiziert. Dabei gehen sie von doppelt so hohen Gefallenenzahlen aus – also etwa 20.000 – und von insgesamt 84.000 gefallenen, verwundeten und in Kriegsgefangenschaft befindlichen russischen Soldaten. Das entspräche einer Ausfallquote von 44% der Invasionstruppe, die im Februar 2022 rund 190.000 Soldaten umfasste, bzw. von ungefähr 10% der gesamten russischen Streitkräfte.
Um die personellen Lücken zu füllen, versuchte Russlands Führung ab dem späten Frühjahr 2022 zunächst »still« zu mobilisieren, das heißt Soldaten und Söldner über kurzfristige Zeitverträge mittels hoher monetärer Anreize anzuwerben. Dazu bediente sich der Kreml sowohl der regionalen Führungen als auch der Proxys. So wurden die Föderationssubjekte angewiesen, jeweils ein regionales »Freiwilligenbataillon« aus ungefähr 400 Mann aufzustellen. Darüber hinaus rekrutierten private Militärfirmen wie Wagner oder Redout gezielt Männer mit Kampferfahrung. Stellenanzeigen, die in Telegram-Kanälen geteilt wurden, boten dabei das Mehrfache des regulären Soldes. Wie hoch der Personalbedarf in den russischen Streitkräften ist, lässt sich an einer Reihe von Indizien ablesen. So wurde im Sommer 2022 die Altersgrenze für Zeitsoldaten über das bis dahin geltende Höchstalter von 40 Jahren bis zum Ende des Erwerbsalters erhöht. Zudem wurde es dem Unternehmen Wagner gestattet, selbst in Gefängnissen »Freiwillige« anzuwerben. Ferner wurde für ausländische Kontraktniki, die mindestens ein Jahr in den russischen Streitkräften dienen, im September 2022 die Möglichkeit des beschleunigten Erwerbs der russischen Staatsbürgerschaft als Anreiz gesetzt. Letzteres richtet sich vor allem an Migranten aus Zentralasien.
Die erfolgreiche ukrainische Gegenoffensive im Nordosten bei Charkiw im August 2022 demonstrierte dann eindrücklich, dass die stille Mobilisierung allein nicht ausreicht, um die Personallücken zu füllen. In der Folge rief Präsident Putin am 21. September 2022 die Teilmobilmachung aus. Bevor diese am 31. Oktober 2022 suspendiert wurde, sollen nach offiziellen Angaben 318.000 Reservisten eingezogen worden sein. Nach der parallel zur Teilmobilmachung von Moskau proklamierten Annexion der vier ukrainischen Oblaste Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson können seitdem auch Wehrpflichtige zu deren »Verteidigung« in der Ukraine eingesetzt werden. Dabei umfasst der Begriff Verteidigung sowohl die Abwehr ukrainischer Befreiungsversuche als auch die offensive Einnahme der noch nicht von Russland eroberten Teile der vier Gebiete.
Weder der nun mögliche Einsatz von Wehrpflichtigen noch die Mobilisierung von Reservisten werden kurzfristig die Kampfkraft der russischen Streitkräfte erhöhen. Zwar steht diesen theoretisch ein Reservoir von rund 1,6 Millionen Männern zur Verfügung, die in den vergangenen fünf Jahren als Wehrpflichtige und Zeitsoldaten gedient haben oder über »militärische Erfahrung« verfügen, da sie beispielsweise paramilitärische Kurse absolviert haben. Doch dies ist nicht mit einer aktiven Reserve gleichzusetzen, in der die Reservisten regelmäßig an Übungen teilnehmen. In den fünf Jahren nach ihrem Ausscheiden aus den Streitkräften erhalten nur 10% der einstmaligen Wehrpflichtigen ein Auffrischungstraining. Für die ab September 2022 eingezogenen Reservisten war laut geleakten Informationen nur ein dreiwöchiger Kurs vorgesehen, der nicht selten viel kürzer ausfiel.
Das zeigt, dass Russlands Führung momentan vor allem bestrebt ist, die Personallücken rein quantitativ zu füllen, damit die russischen Streitkräfte in der Ukraine nicht weiter zurückgedrängt werden. Als Notmaßnahme in diesem Sinne ist auch das im Teilmobilmachungs-Dekret verankerte Verbot für Kontraktniki zu sehen, ihre Verträge vor Vollendung der »militärischen Spezialoperation« zu kündigen. Zwar wird dadurch sichergestellt, dass genau diejenigen Soldaten, die als Spezialisten für das Bedienen komplexer Waffensysteme nur schwer zu ersetzen sind, unbegrenzt eingesetzt werden können. Nach Monaten im Kampfeinsatz dürfte ihre Einsatzbereitschaft aber erheblich gesunken sein.
Der militärische Nutzen von Putins Dekret ist daher kurzfristig gering, das Risiko militärischer Folgekosten dagegen hoch. So dürfte es künftig deutlich schwerer werden, neue Kontraktniki zu rekrutieren oder in Dienst stehende Zeitsoldaten zur Verlängerung ihres Vertrags zu bewegen. Auch dürften Moral, Kohäsion und Einsatzbereitschaft der eilig durch Reservisten verstärkten Einheiten gering bleiben. Es ist fraglich, ob sich bei einer neuen Einberufungswelle – wie sie der ukrainische Generalstab für Januar/Februar 2023 erwartet – die Probleme der hastig und vielfach improvisierten ersten Mobilmachungsrunde überwinden ließen. Denn es fehlen die organisatorischen und personellen Grundlagen, also Trainingseinrichtungen und Ausbilder, für eine längere Ausbildung der Reservisten, oder sie sind durch den Kriegseinsatz gebunden. Die Mitte Oktober 2022 vereinbarte Nutzung belarussischer Trainingseinrichtungen fällt bislang kaum ins Gewicht. Daher ist zu erwarten, dass die Invasion in der Ukraine noch stärker als bisher mit veralteten, hauptsächlich auf Masse beruhenden Konzepten von Kriegsführung fortgesetzt wird. Damit verlöre das Reformprojekt von 2008 weiter an praktischer Relevanz.
Begrenzter militärischer Handlungsspielraum nach außen
Die materiellen und personellen Verluste Russlands und die Schwierigkeiten, diese auszugleichen, begrenzen kurz- bis mittelfristig die Fähigkeiten des Kremls, außenpolitische Interessen wie bisher durch die Drohung mit militärischer Gewalt oder den Einsatz konventioneller Streitkräfte sowie über den Anreiz einer Militärkooperation durchzusetzen. Probleme dürfte Moskau vor allem damit haben, neue personal- und hardwareintensive Einsätze zu realisieren sowie Operationen durchzuführen, die auf schnell einsatzbereite Einheiten oder die Schwarzmeerflotte angewiesen sind. Nach amerikanischen Angaben sind mittlerweile mehr als 85% der einsatzbereiten Einheiten in der Ukraine gebunden, wobei vor allem Luftlandetruppen und Marineinfanterie überproportional hohe Verluste verzeichneten. Die Schwarzmeerflotte wiederum hat mehrere Schiffe, darunter den Raketenkreuzer »Moskwa«, verloren und hat wegen des beschränkten Zugangs durch die Dardanellen auch kaum mehr Manövrierraum außerhalb des Schwarzen Meeres.
Dies dürfte Moskaus Machtprojektionsfähigkeiten im Nahen und Mittleren Osten und in Nordafrika (MENA) reduzieren. Zwar ist zu erwarten, dass Russland seinen Einsatz in Syrien fortführt. Zugleich muss es versuchen, eine Eskalation zu vermeiden und mit reduziertem Personal, gerade auch Proxys, die Präsenz aufrechtzuerhalten. Der Krieg unterminiert zudem Moskaus Bemühungen, über Ausbildungshilfe und Rüstungsverkäufe in der MENA-Region, Afrika und Asien seinen politischen Einfluss auszubauen. Nicht nur sinkt das Vertrauen in die Effektivität russischer Waffensysteme, sondern auch in die Verlässlichkeit der Lieferungen angesichts hohen russischen Eigenbedarfs. Davon zeugt, dass Russlands Waffenexporte von 2021 auf 2022 um geschätzt 40% schrumpfen dürften.
Auch im postsowjetischen Raum gerät das Militär als Pfeiler russischer Hegemonialpolitik unter Druck, das für den Kreml aufgrund schwindender ökonomischer Abhängigkeiten vieler Länder von Russland immer wichtiger wird. Moskau kann seine Truppenpräsenz in Armenien, Kirgisistan und Tadschikistan sowie den abtrünnigen Gebieten Abchasien, Südossetien, Transnistrien und Berg-Karabach nicht verringern, ohne den eigenen Anspruch zu konterkarieren, in der Region als Sicherheitsgarant zu wirken. Zugleich vermindern sich die Kapazitäten, auf Krisen zu reagieren. Noch im Januar 2022 hatte Moskau unter dem Dach der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) in Kasachstan interveniert. Als aber im September 2022 die Kämpfe zwischen Armenien und Aserbaidschan wieder aufflammten und kurz darauf die Spannungen zwischen Kirgisistan und Tadschikistan eskalierten, vermied der Kreml weiteres militärisches Engagement. Daher verliert die von Moskau dominierte OVKS rapide an Bedeutung.
Krieg und Regimelegitimität
Der Verlauf des Krieges begrenzt nicht nur den außenpolitischen Handlungsspielraum Russlands. Er droht auch die etablierte Legitimationsstrategie des Putinschen Regimes zu erodieren.
In den ersten beiden Amtszeiten Putins beruhte der ungeschriebene Gesellschaftsvertrag auf dem Versprechen von Stabilität und wirtschaftlicher Prosperität im Austausch für politische Loyalität oder Apathie. Als dieses Modell, beginnend mit der Wirtschafts- und Finanzkrise 2009, ins Wanken geriet, schwenkte der Kreml zum Zweck der Kompensation auf die Inszenierung russischer Großmachtpolitik um. Dabei nahm die Demonstration militärischer Erfolge eine Schlüsselrolle ein. Die Effekte zeigten sich eindrücklich nach der Krim-Annexion, als die Zustimmungswerte für Präsident Putin von 61% im November 2013 auf 88% im Oktober 2014 kletterten.
Parallel dazu wuchs das Prestige der Streitkräfte in der Bevölkerung, das in den 1990er Jahren aufgrund ausbleibender Soldzahlungen, materiellen Verfalls und hoher Personalverluste gerade unter Wehrpflichtigen in den Tschetschenienkriegen massiv gelitten hatte. So stieg der Anteil jener, die den Dienst eines Verwandten oder Freundes in den Streitkräften positiv beurteilen, von 20% im Jahr 2002 auf 52% im Jahr 2020. In der letzten Dekade gehörten die Streitkräfte zudem stets zu jenen drei Institutionen neben Präsident und orthodoxer Kirche, denen die Befragten am meisten vertrauen. Dabei ist der Popularitätszuwachs der Streitkräfte Teil eines breiteren Trends zur Militarisierung des Bewusstseins in der russischen Gesellschaft. Abzulesen ist er an der Inkorporation militärisch-patriotischer Elemente in die Bildungs- und Geschichtspolitik sowie am breiten Raum militärischer Siege im staatlichen Feiertagskalender.
Vor diesem Hintergrund birgt die Möglichkeit einer militärischen Niederlage in der Ukraine das Risiko, dass ein zentraler Pfeiler der Putinschen Legitimationsstrategie unterminiert wird. Zwar ist die Aussagekraft von Meinungsumfragen beschränkt, aufgrund der seit Februar 2022 weiter verschärften Repressionen und des fast völligen Verschwindens freier Medien. Dennoch lassen sich Trends erkennen. Während die Umfragen weiterhin hohe Unterstützung für die Aktivitäten der russischen Streitkräfte in der Ukraine ausweisen, sinkt diese bereits – von 80% im März 2022 auf 74% im November 2022. Vor allem aber glauben immer weniger Befragte an einen erfolgreichen Abschluss der sogenannten militärischen Spezialoperation – anstelle von 68% im April 2022 nur mehr 54% im November 2022. Besonders auffällig ist, dass seit der Entscheidung zur Teilmobilmachung negative Gefühle und individuelle Betroffenheit deutlich zugenommen haben. Lediglich 23% der Befragten sahen im Oktober 2022 mit Stolz auf die Entwicklung des letzten Monats, während 47% der Befragten Angst, Furcht und Horror, 23% Schock und 13% Wut und Empörung äußerten. Dies trifft vor allem auf die jüngeren Befragten zu. 58% der 18- bis 24-Jährigen lehnen die Teilmobilmachung ab.
Daraus ergibt sich noch keine unmittelbare Gefahr für die Stabilität des Putinschen Regimes. Die anfänglichen Proteste nach der Teilmobilmachung wurden von den Sicherheitsdiensten niedergeschlagen. Die Flucht von geschätzt bis zu 700.000 Russen erschwert zwar die Einberufung von Reservisten, bedeutet kurzfristig aber auch, dass potentiell protestbereite Personen das Land verlassen.
Dennoch geraten wesentliche Elemente der bisherigen Legitimationsstrategie des Kremls unter Druck. Die hohen Verluste und militärischen Rückschläge kratzen am Nimbus der erfolgreichen Wiedererrichtung der Großmacht Russland. Und mit der Einberufung von Reservisten bricht der Kreml das Versprechen des ungeschriebenen Gesellschaftsvertrags, wonach militärische Abenteuer sich nicht negativ auf das Alltagsleben der Bevölkerung auswirken.
Zugleich kann Putin die legitimatorischen Defizite nicht durch einen Rückgriff auf den Status quo ante überwinden – ganz im Gegenteil. Die westlichen Sanktionen und die Effekte der energiepolitischen Umorientierung europäischer Märkte weg von Russland unterhöhlen seine Möglichkeiten, wirtschaftliche Erfolge zu präsentieren. Daher wächst für den Kreml der Anreiz, den Krieg gegen die Ukraine fortzusetzen. Dieser bietet die Möglichkeit, sozioökonomische Härten und verstärkte politische Repression mit dem Verweis auf Kriegserfordernisse zu rechtfertigen. Aus der Forschung über autoritäre Systeme ist bekannt, dass diese selbst lange Kriege überstehen können; nur desaströse Niederlagen wirken regimegefährdend. Dass sich Russland auf einen längeren Krieg gegen die Ukraine vorbereitet, offenbart der Haushaltsentwurf für 2023 und 2024. Er sieht vor, die Ausgaben für Verteidigung und innere Sicherheit massiv, nämlich um 50% zu steigern. Darüber hinaus werden Vorbereitungen getroffen, die Wirtschaft für Kriegszwecke zu mobilisieren. Ukrainische Medien berichten außerdem, es sei eine möglicherweise weit umfangreichere zweite Mobilisierung von Reservisten in Planung. Um die mit einem längeren Krieg verbundenen Kosten zu rechtfertigen und die Risiken für die Regimestabilität zu reduzieren, baut der Kreml den Repressionsapparat aus und passt die Narrative an. So rahmen Präsident, Verteidigungsminister und staatliche gelenkte Medien den Krieg gegen die Ukraine zunehmend als existentielle und zugleich schicksalhafte Auseinandersetzung mit einem wesentlich größeren Gegner – dem »kollektiven Westen«. Auf diese Weise werden die bisherigen militärischen Schwierigkeiten erklärt und die Bevölkerung auf die Notwendigkeit eines langen, kostspieligen Krieges eingeschworen.
Herausforderungen für deutsche und europäische Politik
Die enge Wechselwirkung zwischen den nach innen und außen gerichteten Militarisierungsprozessen Russlands hat nicht nur Konsequenzen für dessen Krieg gegen die Ukraine. Sie birgt auch Risiken und Gefahren für deutsche und europäische Politik.
Im Gegensatz zu Russlands weiteren Militäreinsätzen wirkt sich der seit dem 24. Februar 2022 erneut geführte Krieg gegen die Ukraine auf Russlands Regimestabilität aus. Verliert Russland den Krieg, stehen nicht nur seine außenpolitische Rollenkonzeption als Großmacht und sein Anspruch auf eine hegemoniale Einflusszone im postsowjetischen Raum zur Disposition, sondern auch die bisherige Legitimationsstrategie nach innen.
Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass der Kreml nur dann zu ernsthaften Verhandlungen bereit sein wird, wenn er entweder eine desaströse Niederlage seiner Streitkräfte vermeiden oder der Ukraine einen Kapitulationsfrieden oktroyieren will. Substantielle Zugeständnisse dazwischen ergeben gemäß der Logik russischer Regimelegitimation keinen Sinn, aber sehr wohl taktisch motivierte Verhandlungsangebote, die bloß dazu dienen, den personell und materiell erschöpften russischen Streitkräften Zeit zur Umgruppierung und Verstärkung zu verschaffen.
Zu erwarten ist, dass Russland seine Kriegsführung nicht nur fortsetzt, sondern weiter brutalisiert, um den Druck auf die Ukraine zu erhöhen. Diesem Ziel dienen bereits die seit Herbst 2022 massiv verstärkten Angriffe auf deren zivile Infrastruktur. Flächenbombardierungen wie in Syrien wären ein weiterer Schritt. Zudem warnt Moskau vor einer Eskalation des Krieges über die Grenzen der Ukraine hinaus und droht auf diese Weise den EU- und Nato-Mitgliedern. Damit will der Kreml deren politische, wirtschaftliche, finanzielle und militärische Unterstützung für die Ukraine unterminieren. Während der Einsatz von Nuklearwaffen aufgrund hoher Folgekosten eher unwahrscheinlich ist, sind die Möglichkeiten hybrider Eskalation größer. Cyberangriffe, Täuschungsmanöver mit falscher Identität (»false flag attacks«) und verstärkte Subversionsbemühungen könnten dabei Bausteine sein. Darüber hinaus bestehen Anreize für Russland, Konflikte mit Spillover-Potential auf EU-Länder planvoll anzuheizen, zum Beispiel in Bosnien-Herzegowina, Libyen, Syrien oder Mali. Zwar ist der Kreml in internationalen Konflikten derzeit eher status-quo-orientiert, doch um bewusst Öl ins Feuer schwelender oder manifester Konflikte zu gießen, ist meist kein großes militärisches Engagement nötig.
In Anbetracht dieser Lage kommt es für deutsche und europäische Politik erstens darauf an, Resilienz gegen hybride russische Bedrohungen zu stärken sowie in Kapazitäten für militärische Rückversicherung und glaubhafte Abschreckung zu investieren. Dabei gilt es auch, Moskau die Kosten der nuklearen Eskalationsdrohungen klar zu kommunizieren.
Zweitens sollten die EU und ihre Mitgliedstaaten ihre wirtschaftlichen, finanziellen und zusammen mit der Nato auch militärischen Unterstützungsleistungen für die Ukraine auf Langfristigkeit ausrichten. Da Russlands Führung an ihren Maximalzielen gegenüber der Ukraine festhält, ist ein längerer Abnutzungskrieg zu befürchten. Dabei können sich Phasen intensiver Kriegsführung mit solchen reduzierter Intensität abwechseln, zum Beispiel wenn Russlands Streitkräfte eine Pause für Umgruppierungen oder zur Konsolidierung ihrer Besatzungsherrschaft benötigen. Deswegen sind für die Ukraine Hilfen zur Aufrechterhaltung staatlicher Funktionen ebenso essentiell wie verlässliches sicherheitspolitisches und militärisches Engagement. Dazu sollte ein ernsthafter Dialog über die Ausgestaltung möglicher Sicherheitsgarantien für die Ukraine geführt werden. Dringlich sind auch die weitere Lieferung von Waffensystemen und Ausrüstung sowie militärische Ausbildungsprogramme. Da sich der Kreml ohnehin im Krieg gegen den »kollektiven Westen« sieht, sollten sich Umfang und Qualität der Waffenlieferungen weniger an Moskaus Drohungen mit Gegenmaßnahmen orientieren, sondern vielmehr an den Erfordernissen der ukrainischen Streitkräfte bei ihrem Bestreben, Russlands militärische Aggression abzuwehren. Letztlich entscheidet sich in der Ukraine, ob die Militarisierung der russischen Außenpolitik gestärkt oder gebrochen wird.
Dr. Margarete Klein ist Leiterin der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien. Nils Holger Schreiber ist Masterstudent
an der London School of Economics & Political Science im Fach »Internationale Politische Ökonomie«.
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