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Das Virus und die Weltmacht

Mögliche Folgen der Corona-Pandemie für die US-amerikanische Sicherheits- und Verteidigungspolitik

SWP-Aktuell 2020/A 44, 04.06.2020, 8 Seiten

doi:10.18449/2020A44

Forschungsgebiete

Die Corona-Krise wird in den USA aller Voraussicht nach finanzielle Kürzungen im Bereich Sicherheit und Verteidigung nach sich ziehen. Einiges spricht dafür, dass diese Einschnitte zumindest mittelfristig – in den kommenden vier bis sechs Jahren – verhältnismäßig moderat ausfallen und die damit verbundenen Prioritätenverschiebungen eher graduell als grundlegend sein werden. Die politischen Beharrungskräfte in Washington zugunsten hoher Verteidigungsausgaben bleiben einflussreich. Zudem haben die USA viel mehr Spielraum als andere Länder, Schulden zu machen. Schließlich gibt es weiterhin einen breiten politischen Konsens in den USA, dass Amerika im Wettbewerb gegen China und andere Großmächte bestehen muss. Lang­fristig könnten die wirtschaftlichen Folgen der Covid‑19-Pandemie allerdings die gesellschaft­liche Unter­stützung für kostspielige internationale Engagements weiter ero­dieren lassen.

Folgendes Szenario erscheint auf den ersten Blick plausibel: Die wirtschaftlichen Folgen der Viruspandemie werden die USA zu massiven Ausgaben-Einsparungen zwingen. Tra­ditionelle militärische Bedrohungen treten für das Land in den Hintergrund, wäh­rend innenpolitische Fragen Priorität erhalten. In der Folge werden sich die USA weiter aus internationalen Ver­pflich­tungen, Bündnissen und Kooperationen zurückziehen.

Eine Reihe von Faktoren sowie die Erfah­rungen aus der letzten großen Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008/2009 sprechen dagegen eher für ein anderes Szenario: Es ist gekennzeich­net durch ein hohes Maß an Kontinuität bei zentralen Leitlinien ame­rikanischer Sicher­heitspolitik in den kom­menden Jahren und durch graduelle Ver­änderungen bei deren Umsetzung. Dreh- und Angelpunkt sind dabei Bedrohungswahrnehmungen in den USA – und nicht die wirtschaftlichen Folgen von Covid‑19.

Das Nachdenken über solche Szenarien kann freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass Aussagen über die Auswirkungen der Pandemie mit zahlreichen Unsicherheiten behaftet sind. Das betrifft nicht zuletzt auch die Frage, wie sich die Krankheit auf die Ergebnisse der bevorstehenden US-Präsidentschafts- und -Kongresswahlen im Novem­ber 2020 auswirken wird.

Wirtschaftliche und budgetäre Konsequenzen aus der Krise

Die Corona-Krise hat weitreichende nega­tive Konsequenzen für die amerikanische Wirtschaft und für die öffentlichen Haus­halte auf Landes- und Bundesebene. So prognostiziert der Internationale Währungs­fonds (IWF) für 2020 für die USA einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts (BIP) um fast 6 Prozent.

Um die wirtschaftlichen Folgen der Pan­demie abzufedern, haben die Trump-Admi­nis­tration und der Kongress bereits vier umfangreiche Konjunkturpakete beschlossen, die insgesamt ein Volumen von fast 3 Bil­lionen US-Dollar haben. Damit könnte das Defizit des Bundeshaushalts auf 3,7 Bil­lio­nen US-Dollar anwachsen – nahezu 18 Prozent des amerikanischen BIP. Dies wäre das größte Haus­haltsdefizit der USA seit dem Zweiten Welt­krieg. Zum Vergleich: Nach der glo­balen Finanz- und Wirtschaftskrise waren es 2009 »nur« knapp 10 Prozent (bzw. 1,4 Billionen US-Dollar).

Die heutige Situation wird dadurch ver­schärft, dass dieses enorme Haus­halts­defizit auf einen historisch hohen Schuldenstand trifft. 2009 lag der Anteil der öffentlichen Schulden der USA (nur auf Bundesebene) noch bei 52 Prozent des BIP, 2019 waren es schon 79 Prozent. Laut Prognosen der Haus­haltsbehörde des US-Kongresses (Congressional Budget Office, CBO) könnte der Wert 2020 auf 108 Prozent hochschnellen – das wäre der höch­ste Schuldenstand in der amerikanischen Geschichte (siehe Grafik 1). Vor der Corona-Krise gingen Beobach­ter noch davon aus, dass der Schuldenstand der USA die Einhundert-Prozent-Marke erst Ende der 2020er Jahre »knacken« würde.

Aufgrund der weiterhin einmaligen Stel­lung des Dollar als weltweit wichtigste Reservewährung haben die USA viel grö­ßere Spielräume beim Schuldenmachen als andere Länder. Eine amerikanische Finanz­krise als Folge der Schulden erscheint sehr unwahrscheinlich. Ökonomen weisen zu­dem darauf hin, dass es keinen vorab iden­tifizierbaren »Kipppunkt« bei der Höhe des tragfähigen Schuldenstands der amerika­nischen öffentlichen Hand gebe. Letztendlich hängt diese Schwelle vom Vertrauen der Anleger und von der Verfügbarkeit alternativer Anlageformen ab.

Dennoch ist zu erwarten, dass der his­torisch hohe Schuldenstand den innen­politischen Spielraum in den USA für neue Schulden schrumpfen lässt. Der US-Kon­gress kann nämlich Obergrenzen für die Verschuldung der öffentlichen Hand fest­legen, die die Exekutive zumindest mittel­bar dazu zwingen, entweder die Steuer­einnahmen zu erhöhen oder die Ausgaben zu kürzen.

Zwar wurden diese Obergrenzen seit 2013 immer wieder ausgesetzt – wie zu­letzt bis Juli 2021 geschehen. Die Aus­sicht auf einen öffentlichen Schuldenstand, der größer ist als die gesamte Wirtschafts­leistung der USA, dürfte aber den Druck auf Regierung und Kongress erheblich wach­sen lassen, den Schuldenberg zu begrenzen – und in beiden politischen Parteien die Argumente der Fiskalkonservativen stärken. Schließlich steigen die Kosten für das Bedienen der Schulden ebenso und redu­zieren somit den Handlungsspielraum für andere staatliche Ausgaben, nicht zuletzt auch für Sicherheit und Verteidigung.

Auswirkungen auf den US‑Verteidigungshaushalt

Die wirtschaftlichen und budgetären Folgen der Pandemie könnten also durchaus dras­tisch sein. Die Erfahrungen mit den Nach­wirkungen der globa­len Finanz- und Wirt­schaftskrise von 2008/2009 haben indes verdeutlicht, dass wirtschaftliche Einbrüche, Haushaltsdefizite und ein steigender Schulden­stand sich nicht automatisch in große Ressourcenkürzungen im Bereich Sicher­heit und Verteidigung übersetzen. Selbst wenn es zu Mittelkürzungen kommt, ist keinesfalls ausgemacht, wo und wie sie umgesetzt werden. All dies sind politische Entscheidungen, die von einer Reihe von Faktoren beeinflusst werden.

Historisch betrachtet hing es nämlich weniger von der wirtschaftlichen Lage der USA ab, welchen Umfang der US-Ver­teidi­gungs­haushalt hatte, als vom jeweiligen sicherheitspolitischen Umfeld. Bestimmend waren also die jeweils dominanten Bedro­hungswahrnehmungen der politischen Entscheidungsträger. Besonders hoch waren die Ausgaben in Zeiten internationaler Spannungen und Kriege, in die Ame­rika verwickelt war: während des Zweiten Welt­kriegs, des Korea-Kriegs, des Vietnam-Kriegs und zuletzt während der Kriege in Irak und Afghanistan (siehe Grafik 2).

Grafik 1

Die Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008/2009 hat auch gezeigt, wie stark die politischen Beharrungs­kräfte in den USA zugunsten hoher Militärausgaben sind. Denn trotz der da­maligen Krise blieb das Militär von tiefen Einschnitten weitgehend verschont. Daran ändert auch nichts, dass Verteidigungs­falken in Washington das Kaputtsparen des Militärs in den Folge­jahren laut beklagt haben.

Sie verweisen dabei häufig auf ein Gesetz zur Kontrolle des Haushalts – den Budget Control Act (BCA). Der BCA wurde 2011 vom US-Kongress verabschiedet, um dem wachsenden Haushaltsdefizit und der Ver­schuldung Herr zu werden. Das Gesetz defi­niert Ausgaben-Obergrenzen. Wegen tem­po­rärer Haushaltskompromisse zwischen beiden Parteien griffen die Kürzungsvorgaben des BCA für das Militär jedoch erst 2013. Mit einem Volumen in Höhe von 37 Milliarden US-Dollar waren sie durch­aus beträchtlich. Wirklich schmerzhaft waren die Kürzungen für das Pentagon aber vor allem, weil sie nach dem »Rasenmäher­prinzip« vorgenommen wurden und daher viele Arbeitsbereiche des Militärs (sowie nichtmilitärische Bereiche) gleich­zeitig trafen. Überdies trug das Penta­gon selbst zu der Malaise bei, da es sich lange Zeit wei­gerte, auf die drohenden Einsparungen mit einem eigenen Plan zu reagieren.

Der Vergleich der Budgetzahlen über mehrere Jahre deutet darauf hin, dass die Einschnitte für das Militär nach der Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008/2009 keines­wegs so dra­matisch waren. Denn die Aus­gaben für »nationale Verteidigung« wuch­sen noch bis einschließlich 2010 weiter auf ein historisches Rekordniveau von 724 Mil­liarden US-Dollar. Zwischen 2011 und 2015 sanken sie auf bis zu 573 Milliarden US-Dollar, aller­dings hing dieser Abwärtstrend wesentlich mit dem Rückzug der USA aus Irak und später aus Afghanistan zusam­men. Im historischen Vergleich blieben die Ausgaben nichtsdestotrotz auf hohem Niveau – und begannen in den ersten beiden Amtsjahren Donald Trumps wieder, deut­lich zuzulegen.

Grafik 2

Gemessen als Anteil am BIP haben die USA über die Jahre hinweg immer weniger für ihre Verteidigung ausgegeben. Aber auch dieser Trend muss im längerfristigen Kontext bewer­tet werden, weil er nur bedingt etwas über die außen- und sicher­heitspolitische Gestaltungskraft aussagt. In den 1990er Jahren, also während des »unipolaren Moments«, als Amerika den Zenit seiner außenpolitischen Macht erlebte, betrugen die Aufwendungen für Vertei­digung lediglich zwischen 3 und 5 Prozent des BIP. Nach der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009 stiegen die relativen Verteidigungsausgaben – ange­sichts der sinkenden Wirtschaftskraft wenig überraschend – sogar leicht und lagen bereits 2012 in etwa wieder auf demselben Niveau wie vor der Krise.

Ob die USA »zu viel« oder »zu wenig« für Verteidigung ausgeben, hängt von den jeweiligen sicherheitspolitischen Prioritäten ab, denn diese bilden den Bewertungsmaßstab. So kam bei­spielsweise eine vom Kon­gress eingesetzte, überparteiliche Expertenkommission 2018 zu dem Schluss, dass sich die USA am Rande der »strategischen Insol­venz« befän­den. Die Schlussfolgerungen der Kommis­sion basierten auf der Annahme, die US-Streitkräfte müssten verteidigungspolitisch alles können: Die militärische Überlegenheit der USA in allen Weltregionen sei elementar, Einschnitte dürfe es weder bei der Größe der Streitkräfte noch bei deren Ein­satzfähigkeit oder Modernisierung geben. Zudem müssten sich die USA auf die Kriegsführung im Welt- und Cyber­raum besser einstellen. Das Atomwaffen­arsenal solle ebenso modernisiert werden wie die konventionellen Waffensysteme.

Die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie dürften künftig die Einsicht in der Administration und im Kongress för­dern, dass die USA sicherheits- und ver­tei­di­gungs­politisch nicht mehr alles machen können und entsprechend Priori­täten setzen müs­sen – zumal dann, wenn der Ausweg über hohe Haushaltsdefizite und Schuldenstände nicht mehr im gleichen Maße offensteht wie in früheren Zeiten.

Sicherheitspolitische Prioritäten nach Corona

Die Nationale Sicherheitsstrategie der Trump-Administration vom Dezember 2017 spie­gelt drei zentrale Leitlinien wider: Natio­nale Souveränität hat höchsten Stel­len­wert; internationale Politik ist im Kern ein mehr­dimen­sionaler Wettbewerb zwischen Groß­mächten; Amerika strebt danach, seine glo­bale militärische Über­legenheit zu wahren.

Unter dem Schlagwort des principled realism hebt die Trump-Administration die Bedeutung nationaler Souveränität starker, unabhängiger Staaten hervor. Der Unilateralismus ist seit Jahr­zehnten – mehr in der Republikanischen als in der Demokratischen Partei – eine einflussreiche Strö­mung in der US-Außen­politik. Jedoch hat Donald Trump das Souveränitätsdenken und den Nationalismus zu einer zentralen Kategorie in der Außenpolitik erhoben. Diese Sicht­weise schlägt sich auch in der Corona-Krise im Verhalten der USA deutlich nieder. So hat Washington früher als Europa und andere mit natio­nalen Abschottungsmaßnahmen auf die Krise reagiert, multilaterale Institutionen wie die Weltgesundheits­organisation (WHO) offen in Frage gestellt und sich auch ansonsten internatio­nalen Initiativen zur Bewältigung der Krise weit­gehend entzogen.

Die Corona-Krise könnte in Washington insofern ein Umdenken bewirken, als nicht­militärische, globale Bedrohungen wie Pandemien stärker in den Fokus rü­cken. In der Trump-Administration gibt es keine Anzeichen dafür, dass dies auch zu einer größeren Wertschätzung multilateraler Zusammenarbeit führen wird. Eine Wende hin zu mehr internationaler Kooperation bei der Bewältigung globaler Gefahren (vor allem in puncto Klima, Gesundheit) wäre daher wohl nur im Falle eines Macht­wechsels im Weißen Haus zu erwarten. Der demokratische Herausforderer Trumps, Joe Biden, verspricht in der Außenpolitik »mehr Offenheit, mehr Kooperation und mehr Allianzen« als Gegenentwurf zu der­jenigen Trumps.

Das zweite Leitmotiv der gegenwärtigen amerikanischen Sicherheitspolitik, die Großmächtekonkurrenz, betrifft in erster Linie China. Dabei erscheint ein Kurswechsel im Zuge der Corona-Krise hin zu einem kooperativeren Verhältnis unwahrscheinlich. Bislang ist eher das genaue Gegenteil zu beobachten.

Die Pandemie hat zunächst zu einer Propaganda- und Deutungsschlacht zwischen Peking und Washington geführt: Im Zentrum steht die Frage, wer für die Krise ver­antwortlich ist und wie sie über­wunden werden kann. Präsident Trump versucht dabei, sowohl China als auch die innenpolitischen Kritiker seines Krisen­managements in die Defensive zu drängen, indem er Peking für den Ausbruch des neuartigen Virus verant­wortlich macht.

Republikanische Senatoren wie Josh Hawley (Missouri) und Tom Cotton (Arkan­sas) teilen die Auffassung ihres Präsidenten und des Pentagon, China wolle die Corona-Pandemie nutzen, um die USA in der Welt zu schwächen und um seinen eigenen expansiven außenpolitischen Kurs fortzu­setzen. Solche Befürchtungen werden gestützt durch Berichte, nach denen China auch während der Pandemie seinen aggres­siven Kurs im Süd­chinesischen Meer weiter­ver­folgt sowie die Öl- und Gas-Exploration anderer Staaten in der Region behindert. Außerdem verkündete die chine­sische Führung, dass sie trotz der Corona-Krise im laufenden Jahr ihre Ausgaben für Verteidigung um 6,6 Prozent steigern wolle – weniger Zuwachs als im letzten Jahr, aber immer noch beträchtlich.

Das amerikanische Verteidigungsministerium fordert zusätzliche Mittel, um China militärisch einzudämmen und abzuschrecken. Nach Wunsch des Pentagon soll dieser Nachtrag zum Haushalt mehr als 20 Milliarden US-Dollar für die Jahre 2021–2026 umfassen und unter anderem zusätz­liche Raketensysteme und Militär­übungen im indopazifischen Raum finan­zieren. Republikanische sowie demokratische Kongressmitglieder zeig­ten sich jüngst offen für diese Forderungen des amerika­nischen Militärs nach mehr Geld – unge­achtet der durch die Corona-Pandemie verursachten Kosten.

Selbst dann, wenn sich die Machtver­hältnisse im Weißen Haus und im US‑Senat nach den bevorstehenden Wahlen im November 2020 zugunsten der Demokraten verändern, ist nicht mit einer Ent­spannung im chi­nesisch-amerika­nischen Verhältnis zu rechnen. Auch Biden betont, er wolle »tough with China« sein, er beklagt den »Technologieraub« durch das Land und dessen »schimpfliches« (abusive) außen­poli­tisches Verhalten. Die Ergebnisse einer kürz­lich durchgeführten Umfrage des Pew Research Center zeigen: Auch unter den Anhängern der Demokraten haben die nega­tiven Sicht­weisen gegenüber China während der Corona-Krise zugenommen, wenngleich weniger deutlich als bei den Anhängern der Republikaner. Ins­gesamt scheint sich der Anti-China-Kon­sens sowohl unter den außenpolitischen Eliten als auch in großen Teilen der Bevölkerung im Ver­lauf der Pandemie weiter gefestigt zu haben.

Die kritische Sicht auf China wird flankiert durch die im Pentagon und in beiden politischen Parteien verbreitete Erwartung, dass auch andere Antagonisten wie Russ­land, Iran oder Nordkorea die Covid‑19-Pandemie als Mög­lichkeit zur Schwächung der USA betrachten. Die Tatsache, dass beide politischen Lager die USA weiterhin in einem exis­tentiellen Wett­bewerb sehen, dürfte einer Abkehr vom dritten Leitmotiv entgegen­stehen, der Wah­rung militärischer Über­legenheit der USA.

Diese Leitlinie prägt die amerikanische Sicherheitspolitik seit Jahrzehnten; die Trump-Administration hält ebenfalls an ihr fest. Die Nationale Verteidigungsstrategie von 2018 nennt an vorderster Stelle das Ziel, für die USA vorteilhafte Kräftegleichgewichte zu erhalten, und definiert die US-geführten Allianzsysteme als Kräftemultiplikatoren zugunsten Amerikas, die es zu bewahren gelte. Auch mit Blick auf ihre operativen Schwerpunkte und Ressourcenzuweisungen haben sich die USA unter der Präsidentschaft Trumps, allen Anfein­dungen des Präsidenten zum Trotz, ihren Bündnissen eher zu- als abgewendet.

Die Zukunft der Bündnisse

So erscheint es zumindest kurz- und mittel­fristig – in den kommenden vier bis sechs Jahren – wenig plausibel, dass sich die USA in der Folge der Corona-Krise von ihren verteidigungspolitischen Bündnissen in Asien und Europa distanzieren oder sogar trennen. Ferner werden sie ihren Anspruch auf militärische Überlegenheit voraussichtlich nicht aufgeben. Denn beides, das Fest­halten an den Bündnissen wie das Streben nach Suprematie, ist weiterhin tief ver­wurzelt im bürokratischen Apparat, in bei­den politischen Parteien des US-Kon­gres­ses sowie in der als Ideengeber fungie­ren­den Think-Tank-Landschaft des Landes. Die Iso­la­tionisten im US-Kongress waren vor der Pandemie in der Minderheit und es gibt bis­lang keine Anhaltspunkte dafür, dass sich daran durch die aktuelle Krise etwas ändert.

Das bedeutet allerdings nicht, dass die Bündnisbeziehungen der USA von der Corona-Pandemie unberührt bleiben wer­den. So rechnet US-Verteidigungsminister Mark Esper bereits jetzt mit Sparvorgaben in der Nach-Corona-Zeit. Überlegungen im Pentagon gehen dahin, die Zahl der dauer­haft im Ausland stationierten US-Truppen zu reduzieren und stattdessen auf schneller aus amerikanischen Stützpunkten verlege­fähige Verbände zu setzen. Im Ausland stationierte Truppen kommen die amerikanischen Steuerzahler zwar meist günstiger zu stehen, als wenn sie sich in den USA befinden. Politisch jedoch ist es insbesondere in wirtschaftlichen Krisen­zeiten leichter, Basen im Ausland zu schließen als in den Wahl­bezirken der Kongressabgeordneten.

Außerdem ist zu erwarten, dass die Konflikte über Lasten- und Kostenteilung mit den Bünd­nispartnern, nicht zuletzt mit Deutschland, noch offener und heftiger ausgetragen werden – und zwar auch dann, wenn der nächste US-Präsident Joe Biden heißt. Denn die europäischen Nato-Staaten ebenso wie die Bündnispartner Japan und Süd­korea werden durch die Pan­demie unter enormem Druck stehen, ihre eigenen Ausgaben für Verteidigung zu reduzieren, desgleichen ihre Kostenbeteiligung an der Stationierung der US-Truppen.

Im Zuge der Bewältigung der Krise wird schließlich der Druck auf den nächsten Präsidenten wachsen, US-Truppen aus den Konfliktgebieten im Mittleren Osten und aus Afrika herauszuziehen bzw. heraus­zuhalten. Mit Blick auf den Mittleren Osten zeigen die jüngeren Entwicklungen seit Anfang 2019 indes einmal mehr: Ein gesichtswahrender Rückzug der USA aus dieser Weltregion ist nur möglich, wenn es zu einer Entspannung im Verhältnis der USA sowie seiner arabischen Verbündeten mit dem Iran kommt. Insofern könnte die Corona-Pandemie im Falle eines Machtwechsels im Weißen Haus nach den Novem­ber-Wahlen einen Schwenk in der amerikanischen Iran-Politik begünstigen.

Die drohende Erosion des Gesellschaftsvertrags

Die Beharrungskräfte im außen- und sicher­heitspolitischen Establishment der USA sprechen also gegen eine grundsätzliche Kurskorrektur der amerikanischen Politik – zumindest in den ersten Jahren nach der Pandemie.

Langfristig jedoch könnten die gesellschaftlichen Folgen der Corona-Krise einen Prozess beschleunigen, der sich bereits seit dem Ende des Kalten Krieges in den USA beobachten lässt. Die gesellschaftliche Zustimmung zu kostenträchtigen inter­natio­nalen Verpflichtungen und einem auf wirtschaftliche Öffnung ausgerichteten außen­politischen Narrativ ist nämlich nicht bedin­gungslos. Sie hing in den sieben Dekaden nach dem Ende des Zweiten Welt­kriegs ab von dem glaubwürdigen Ver­sprechen größerer wirtschaftlicher Inklu­sivität und Gleichheit innerhalb der ame­rikanischen Gesellschaft.

Politisch besonders brisant ist vor diesem Hintergrund der massive Einbruch des Arbeits­marktes in den USA. Im Zuge der Corona-Pandemie ist dieser Markt aus einer Situation, in der es nahezu Vollbeschäftigung gab, in einen tiefen Abgrund gestürzt. So könnte die Arbeitslosigkeit zumindest zeitweise bei über 15 Prozent liegen und im Jahresdurchschnitt für 2020 noch immer 12 Prozent erreichen. Die Arbeitslosigkeit in den USA wäre damit höher als zu jedem ande­ren Zeitpunkt seit den frühen 1930er Jahren während der Großen Depression.

Die Vereinten Nationen (VN) gehen davon aus, dass die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie auch in den entwickelten Industriestaaten die unteren Einkommensgruppen besonders hart treffen werden. Niedriglohnjobs drohen als erste wegzu­fallen. Darüber hinaus könnte nach Ein­schätzung der VN der Teufelskreis aus nied­rigem sozioökonomischem Status und Gesundheitsrisiken die wirtschaftliche Ungleichheit in vielen Ländern weiter ver­größern, darunter auch in den USA. Dort sind laut VN 40 Prozent der Haushalte derzeit nicht in der Lage, unvorhergesehene Aus­gaben in Höhe von mehr als 400 US-Dollar zu stemmen, ohne neue Schulden aufzunehmen oder einen Teil ihres Eigen­tums zu veräußern.

Die Wahrnehmung, die wirtschaft­liche Inklusivität funktioniere nur mangelhaft, hat in der Folge der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008/2009 schon Präsident Barack Obama dazu gezwungen, »Nation-Building at Home« stärker in den Vordergrund zu rücken und inter­natio­nale Mili­täreinsätze der USA in Frage zu stellen. Die Enttäuschung über fehlende wirt­schaftliche Inklusivität hat 2016 eben­falls den Weg Donald Trumps ins Weiße Haus geebnet.

Insofern ist es einerseits sehr gut denkbar, dass die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pan­demie das Vertrauen der ame­rikanischen Bevölkerung gegenüber poli­ti­schen Institutionen und multilate­ralen Organisationen weiter erodieren lassen. Andererseits würde dies die innen­politischen Grundlagen einer »internatio­nalistischen« US-Außen-, -Sicherheits- und ‑Verteidigungspolitik zusätzlich schwächen und könnte diese auf lange Sicht gänzlich unter­graben.

Ausblick

Vieles spricht dafür, dass die Corona-Pan­demie in den kommenden Jahren eher zu einem graduellen als zu einem abrupten und grundlegenden Wandel in der US-ameri­kanischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik führen wird. Und das trotz absehbarer Sparzwänge – zu groß sind die politischen Beharrungskräfte zugunsten einer Politik, die auf internationale Ein­fluss­nahme und mili­tärische Überlegen­heit ausgerichtet ist. Zudem betrachten Repub­likaner wie Demokraten die gegen­wärtige Krise durch die Brille der schon vor Corona dominanten sicherheitspolitischen Motive, nicht zuletzt des chinesisch-amerika­ni­schen Konflikts.

Auf längere Sicht jedoch – über die Spanne von zwei oder drei Präsidentschaften – könnte die Corona-Pandemie die gesell­schaftlichen Grundlagen für eine global ausgerichtete amerikanische Sicher­heitspolitik weiter schwächen; zumindest wenn es nicht gelingt, die sozioöko­no­mischen Ungleichheiten in den USA abzufedern.

Deutschland und andere Partner der USA müssen sich dar­auf einstellen, dass der Streit über sicher­heits­politische und militä­rische Lasten­teilung in der Nato an Heftig­keit und Virulenz gewinnt.

Es ist gut möglich, dass Washington auf­grund der wirtschaftlichen Pandemie-Folgen dauerhaft in Europa stationierte Truppen reduzieren und gegebenenfalls einzelne Standorte schließen wird. Der amerikanische Fokus würde sich noch mehr in Rich­tung China und den Indo-Pazifik ver­lagern – verbunden mit bereits bekann­ten Forderungen aus Washington, sich an die Seite der USA zu stellen, was alle rele­van­ten Konfliktpunkte mit Peking angeht.

Im März 2020 ist in Deutschland eine Debatte über die nukleare Teilhabe und damit indirekt auch über die Atomwaffenpolitik der USA ausgebrochen. Abrüstungsbefürworter hierzulande können nicht darauf hof­fen, dass Amerika in der Folge der Covid‑19-Pandemie weniger Geld in die Modernisierung und Flexibilisierung seines Atom­waffenarsenals investiert. Nuklear­waffen sind auch für die USA »asymmetrische Waffen«, die militärische und techno­logische Nachteile in ande­ren verteidigungs­politischen Bereichen kompensieren können. Nuklearwaffen behalten im Zuge der Großmachtkonkurrenz eine hohe Bedeutung – und diese nimmt eher zu, wenn teure kon­ventionelle Waffen­systeme, beispiels­weise Flugzeugträger, in Folge der Corona-Pandemie zusammen­gestrichen werden müssen.

Schließlich scheint die Annahme plau­sibel, dass die USA insbesondere dort ihr sicher­heitspolitisches Ambitionsniveau zurück­schrauben werden, wo die Konflikte mit China und anderen Großmächten von bislang sekundärer Bedeutung sind – und wo die USA bereits seit Jahren aus ihren »endlosen Kriegen« aussteigen wollen. Das betrifft vor allem den Mittleren Osten und Afrika.

Beide Regionen sind indes für Deutschland und Europa besonders relevant. Und so könnten Letztere in Zukunft dort noch mehr auf ihr eigenes sicherheitspolitisches Gewicht angewiesen sein.

Sofern die Corona-Krise langfristig tat­sächlich die gesellschaftliche Akzeptanz in den USA für eine international ausgerich­tete Sicherheits­politik und internationale Bündnisse untergräbt, bekommt die Idee einer größeren sicherheitspolitischen Eigen­ständigkeit Europas eine zusätzliche Bedeutung.

Dr. Marco Overhaus ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Amerika.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2020

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ISSN 1611-6364