Die Corona-Krise wird in den USA aller Voraussicht nach finanzielle Kürzungen im Bereich Sicherheit und Verteidigung nach sich ziehen. Einiges spricht dafür, dass diese Einschnitte zumindest mittelfristig – in den kommenden vier bis sechs Jahren – verhältnismäßig moderat ausfallen und die damit verbundenen Prioritätenverschiebungen eher graduell als grundlegend sein werden. Die politischen Beharrungskräfte in Washington zugunsten hoher Verteidigungsausgaben bleiben einflussreich. Zudem haben die USA viel mehr Spielraum als andere Länder, Schulden zu machen. Schließlich gibt es weiterhin einen breiten politischen Konsens in den USA, dass Amerika im Wettbewerb gegen China und andere Großmächte bestehen muss. Langfristig könnten die wirtschaftlichen Folgen der Covid‑19-Pandemie allerdings die gesellschaftliche Unterstützung für kostspielige internationale Engagements weiter erodieren lassen.
Folgendes Szenario erscheint auf den ersten Blick plausibel: Die wirtschaftlichen Folgen der Viruspandemie werden die USA zu massiven Ausgaben-Einsparungen zwingen. Traditionelle militärische Bedrohungen treten für das Land in den Hintergrund, während innenpolitische Fragen Priorität erhalten. In der Folge werden sich die USA weiter aus internationalen Verpflichtungen, Bündnissen und Kooperationen zurückziehen.
Eine Reihe von Faktoren sowie die Erfahrungen aus der letzten großen Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008/2009 sprechen dagegen eher für ein anderes Szenario: Es ist gekennzeichnet durch ein hohes Maß an Kontinuität bei zentralen Leitlinien amerikanischer Sicherheitspolitik in den kommenden Jahren und durch graduelle Veränderungen bei deren Umsetzung. Dreh- und Angelpunkt sind dabei Bedrohungswahrnehmungen in den USA – und nicht die wirtschaftlichen Folgen von Covid‑19.
Das Nachdenken über solche Szenarien kann freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass Aussagen über die Auswirkungen der Pandemie mit zahlreichen Unsicherheiten behaftet sind. Das betrifft nicht zuletzt auch die Frage, wie sich die Krankheit auf die Ergebnisse der bevorstehenden US-Präsidentschafts- und -Kongresswahlen im November 2020 auswirken wird.
Wirtschaftliche und budgetäre Konsequenzen aus der Krise
Die Corona-Krise hat weitreichende negative Konsequenzen für die amerikanische Wirtschaft und für die öffentlichen Haushalte auf Landes- und Bundesebene. So prognostiziert der Internationale Währungsfonds (IWF) für 2020 für die USA einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts (BIP) um fast 6 Prozent.
Um die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie abzufedern, haben die Trump-Administration und der Kongress bereits vier umfangreiche Konjunkturpakete beschlossen, die insgesamt ein Volumen von fast 3 Billionen US-Dollar haben. Damit könnte das Defizit des Bundeshaushalts auf 3,7 Billionen US-Dollar anwachsen – nahezu 18 Prozent des amerikanischen BIP. Dies wäre das größte Haushaltsdefizit der USA seit dem Zweiten Weltkrieg. Zum Vergleich: Nach der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise waren es 2009 »nur« knapp 10 Prozent (bzw. 1,4 Billionen US-Dollar).
Die heutige Situation wird dadurch verschärft, dass dieses enorme Haushaltsdefizit auf einen historisch hohen Schuldenstand trifft. 2009 lag der Anteil der öffentlichen Schulden der USA (nur auf Bundesebene) noch bei 52 Prozent des BIP, 2019 waren es schon 79 Prozent. Laut Prognosen der Haushaltsbehörde des US-Kongresses (Congressional Budget Office, CBO) könnte der Wert 2020 auf 108 Prozent hochschnellen – das wäre der höchste Schuldenstand in der amerikanischen Geschichte (siehe Grafik 1). Vor der Corona-Krise gingen Beobachter noch davon aus, dass der Schuldenstand der USA die Einhundert-Prozent-Marke erst Ende der 2020er Jahre »knacken« würde.
Aufgrund der weiterhin einmaligen Stellung des Dollar als weltweit wichtigste Reservewährung haben die USA viel größere Spielräume beim Schuldenmachen als andere Länder. Eine amerikanische Finanzkrise als Folge der Schulden erscheint sehr unwahrscheinlich. Ökonomen weisen zudem darauf hin, dass es keinen vorab identifizierbaren »Kipppunkt« bei der Höhe des tragfähigen Schuldenstands der amerikanischen öffentlichen Hand gebe. Letztendlich hängt diese Schwelle vom Vertrauen der Anleger und von der Verfügbarkeit alternativer Anlageformen ab.
Dennoch ist zu erwarten, dass der historisch hohe Schuldenstand den innenpolitischen Spielraum in den USA für neue Schulden schrumpfen lässt. Der US-Kongress kann nämlich Obergrenzen für die Verschuldung der öffentlichen Hand festlegen, die die Exekutive zumindest mittelbar dazu zwingen, entweder die Steuereinnahmen zu erhöhen oder die Ausgaben zu kürzen.
Zwar wurden diese Obergrenzen seit 2013 immer wieder ausgesetzt – wie zuletzt bis Juli 2021 geschehen. Die Aussicht auf einen öffentlichen Schuldenstand, der größer ist als die gesamte Wirtschaftsleistung der USA, dürfte aber den Druck auf Regierung und Kongress erheblich wachsen lassen, den Schuldenberg zu begrenzen – und in beiden politischen Parteien die Argumente der Fiskalkonservativen stärken. Schließlich steigen die Kosten für das Bedienen der Schulden ebenso und reduzieren somit den Handlungsspielraum für andere staatliche Ausgaben, nicht zuletzt auch für Sicherheit und Verteidigung.
Auswirkungen auf den US‑Verteidigungshaushalt
Die wirtschaftlichen und budgetären Folgen der Pandemie könnten also durchaus drastisch sein. Die Erfahrungen mit den Nachwirkungen der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008/2009 haben indes verdeutlicht, dass wirtschaftliche Einbrüche, Haushaltsdefizite und ein steigender Schuldenstand sich nicht automatisch in große Ressourcenkürzungen im Bereich Sicherheit und Verteidigung übersetzen. Selbst wenn es zu Mittelkürzungen kommt, ist keinesfalls ausgemacht, wo und wie sie umgesetzt werden. All dies sind politische Entscheidungen, die von einer Reihe von Faktoren beeinflusst werden.
Historisch betrachtet hing es nämlich weniger von der wirtschaftlichen Lage der USA ab, welchen Umfang der US-Verteidigungshaushalt hatte, als vom jeweiligen sicherheitspolitischen Umfeld. Bestimmend waren also die jeweils dominanten Bedrohungswahrnehmungen der politischen Entscheidungsträger. Besonders hoch waren die Ausgaben in Zeiten internationaler Spannungen und Kriege, in die Amerika verwickelt war: während des Zweiten Weltkriegs, des Korea-Kriegs, des Vietnam-Kriegs und zuletzt während der Kriege in Irak und Afghanistan (siehe Grafik 2).
Die Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008/2009 hat auch gezeigt, wie stark die politischen Beharrungskräfte in den USA zugunsten hoher Militärausgaben sind. Denn trotz der damaligen Krise blieb das Militär von tiefen Einschnitten weitgehend verschont. Daran ändert auch nichts, dass Verteidigungsfalken in Washington das Kaputtsparen des Militärs in den Folgejahren laut beklagt haben.
Sie verweisen dabei häufig auf ein Gesetz zur Kontrolle des Haushalts – den Budget Control Act (BCA). Der BCA wurde 2011 vom US-Kongress verabschiedet, um dem wachsenden Haushaltsdefizit und der Verschuldung Herr zu werden. Das Gesetz definiert Ausgaben-Obergrenzen. Wegen temporärer Haushaltskompromisse zwischen beiden Parteien griffen die Kürzungsvorgaben des BCA für das Militär jedoch erst 2013. Mit einem Volumen in Höhe von 37 Milliarden US-Dollar waren sie durchaus beträchtlich. Wirklich schmerzhaft waren die Kürzungen für das Pentagon aber vor allem, weil sie nach dem »Rasenmäherprinzip« vorgenommen wurden und daher viele Arbeitsbereiche des Militärs (sowie nichtmilitärische Bereiche) gleichzeitig trafen. Überdies trug das Pentagon selbst zu der Malaise bei, da es sich lange Zeit weigerte, auf die drohenden Einsparungen mit einem eigenen Plan zu reagieren.
Der Vergleich der Budgetzahlen über mehrere Jahre deutet darauf hin, dass die Einschnitte für das Militär nach der Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008/2009 keineswegs so dramatisch waren. Denn die Ausgaben für »nationale Verteidigung« wuchsen noch bis einschließlich 2010 weiter auf ein historisches Rekordniveau von 724 Milliarden US-Dollar. Zwischen 2011 und 2015 sanken sie auf bis zu 573 Milliarden US-Dollar, allerdings hing dieser Abwärtstrend wesentlich mit dem Rückzug der USA aus Irak und später aus Afghanistan zusammen. Im historischen Vergleich blieben die Ausgaben nichtsdestotrotz auf hohem Niveau – und begannen in den ersten beiden Amtsjahren Donald Trumps wieder, deutlich zuzulegen.
Gemessen als Anteil am BIP haben die USA über die Jahre hinweg immer weniger für ihre Verteidigung ausgegeben. Aber auch dieser Trend muss im längerfristigen Kontext bewertet werden, weil er nur bedingt etwas über die außen- und sicherheitspolitische Gestaltungskraft aussagt. In den 1990er Jahren, also während des »unipolaren Moments«, als Amerika den Zenit seiner außenpolitischen Macht erlebte, betrugen die Aufwendungen für Verteidigung lediglich zwischen 3 und 5 Prozent des BIP. Nach der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009 stiegen die relativen Verteidigungsausgaben – angesichts der sinkenden Wirtschaftskraft wenig überraschend – sogar leicht und lagen bereits 2012 in etwa wieder auf demselben Niveau wie vor der Krise.
Ob die USA »zu viel« oder »zu wenig« für Verteidigung ausgeben, hängt von den jeweiligen sicherheitspolitischen Prioritäten ab, denn diese bilden den Bewertungsmaßstab. So kam beispielsweise eine vom Kongress eingesetzte, überparteiliche Expertenkommission 2018 zu dem Schluss, dass sich die USA am Rande der »strategischen Insolvenz« befänden. Die Schlussfolgerungen der Kommission basierten auf der Annahme, die US-Streitkräfte müssten verteidigungspolitisch alles können: Die militärische Überlegenheit der USA in allen Weltregionen sei elementar, Einschnitte dürfe es weder bei der Größe der Streitkräfte noch bei deren Einsatzfähigkeit oder Modernisierung geben. Zudem müssten sich die USA auf die Kriegsführung im Welt- und Cyberraum besser einstellen. Das Atomwaffenarsenal solle ebenso modernisiert werden wie die konventionellen Waffensysteme.
Die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie dürften künftig die Einsicht in der Administration und im Kongress fördern, dass die USA sicherheits- und verteidigungspolitisch nicht mehr alles machen können und entsprechend Prioritäten setzen müssen – zumal dann, wenn der Ausweg über hohe Haushaltsdefizite und Schuldenstände nicht mehr im gleichen Maße offensteht wie in früheren Zeiten.
Sicherheitspolitische Prioritäten nach Corona
Die Nationale Sicherheitsstrategie der Trump-Administration vom Dezember 2017 spiegelt drei zentrale Leitlinien wider: Nationale Souveränität hat höchsten Stellenwert; internationale Politik ist im Kern ein mehrdimensionaler Wettbewerb zwischen Großmächten; Amerika strebt danach, seine globale militärische Überlegenheit zu wahren.
Unter dem Schlagwort des principled realism hebt die Trump-Administration die Bedeutung nationaler Souveränität starker, unabhängiger Staaten hervor. Der Unilateralismus ist seit Jahrzehnten – mehr in der Republikanischen als in der Demokratischen Partei – eine einflussreiche Strömung in der US-Außenpolitik. Jedoch hat Donald Trump das Souveränitätsdenken und den Nationalismus zu einer zentralen Kategorie in der Außenpolitik erhoben. Diese Sichtweise schlägt sich auch in der Corona-Krise im Verhalten der USA deutlich nieder. So hat Washington früher als Europa und andere mit nationalen Abschottungsmaßnahmen auf die Krise reagiert, multilaterale Institutionen wie die Weltgesundheitsorganisation (WHO) offen in Frage gestellt und sich auch ansonsten internationalen Initiativen zur Bewältigung der Krise weitgehend entzogen.
Die Corona-Krise könnte in Washington insofern ein Umdenken bewirken, als nichtmilitärische, globale Bedrohungen wie Pandemien stärker in den Fokus rücken. In der Trump-Administration gibt es keine Anzeichen dafür, dass dies auch zu einer größeren Wertschätzung multilateraler Zusammenarbeit führen wird. Eine Wende hin zu mehr internationaler Kooperation bei der Bewältigung globaler Gefahren (vor allem in puncto Klima, Gesundheit) wäre daher wohl nur im Falle eines Machtwechsels im Weißen Haus zu erwarten. Der demokratische Herausforderer Trumps, Joe Biden, verspricht in der Außenpolitik »mehr Offenheit, mehr Kooperation und mehr Allianzen« als Gegenentwurf zu derjenigen Trumps.
Das zweite Leitmotiv der gegenwärtigen amerikanischen Sicherheitspolitik, die Großmächtekonkurrenz, betrifft in erster Linie China. Dabei erscheint ein Kurswechsel im Zuge der Corona-Krise hin zu einem kooperativeren Verhältnis unwahrscheinlich. Bislang ist eher das genaue Gegenteil zu beobachten.
Die Pandemie hat zunächst zu einer Propaganda- und Deutungsschlacht zwischen Peking und Washington geführt: Im Zentrum steht die Frage, wer für die Krise verantwortlich ist und wie sie überwunden werden kann. Präsident Trump versucht dabei, sowohl China als auch die innenpolitischen Kritiker seines Krisenmanagements in die Defensive zu drängen, indem er Peking für den Ausbruch des neuartigen Virus verantwortlich macht.
Republikanische Senatoren wie Josh Hawley (Missouri) und Tom Cotton (Arkansas) teilen die Auffassung ihres Präsidenten und des Pentagon, China wolle die Corona-Pandemie nutzen, um die USA in der Welt zu schwächen und um seinen eigenen expansiven außenpolitischen Kurs fortzusetzen. Solche Befürchtungen werden gestützt durch Berichte, nach denen China auch während der Pandemie seinen aggressiven Kurs im Südchinesischen Meer weiterverfolgt sowie die Öl- und Gas-Exploration anderer Staaten in der Region behindert. Außerdem verkündete die chinesische Führung, dass sie trotz der Corona-Krise im laufenden Jahr ihre Ausgaben für Verteidigung um 6,6 Prozent steigern wolle – weniger Zuwachs als im letzten Jahr, aber immer noch beträchtlich.
Das amerikanische Verteidigungsministerium fordert zusätzliche Mittel, um China militärisch einzudämmen und abzuschrecken. Nach Wunsch des Pentagon soll dieser Nachtrag zum Haushalt mehr als 20 Milliarden US-Dollar für die Jahre 2021–2026 umfassen und unter anderem zusätzliche Raketensysteme und Militärübungen im indopazifischen Raum finanzieren. Republikanische sowie demokratische Kongressmitglieder zeigten sich jüngst offen für diese Forderungen des amerikanischen Militärs nach mehr Geld – ungeachtet der durch die Corona-Pandemie verursachten Kosten.
Selbst dann, wenn sich die Machtverhältnisse im Weißen Haus und im US‑Senat nach den bevorstehenden Wahlen im November 2020 zugunsten der Demokraten verändern, ist nicht mit einer Entspannung im chinesisch-amerikanischen Verhältnis zu rechnen. Auch Biden betont, er wolle »tough with China« sein, er beklagt den »Technologieraub« durch das Land und dessen »schimpfliches« (abusive) außenpolitisches Verhalten. Die Ergebnisse einer kürzlich durchgeführten Umfrage des Pew Research Center zeigen: Auch unter den Anhängern der Demokraten haben die negativen Sichtweisen gegenüber China während der Corona-Krise zugenommen, wenngleich weniger deutlich als bei den Anhängern der Republikaner. Insgesamt scheint sich der Anti-China-Konsens sowohl unter den außenpolitischen Eliten als auch in großen Teilen der Bevölkerung im Verlauf der Pandemie weiter gefestigt zu haben.
Die kritische Sicht auf China wird flankiert durch die im Pentagon und in beiden politischen Parteien verbreitete Erwartung, dass auch andere Antagonisten wie Russland, Iran oder Nordkorea die Covid‑19-Pandemie als Möglichkeit zur Schwächung der USA betrachten. Die Tatsache, dass beide politischen Lager die USA weiterhin in einem existentiellen Wettbewerb sehen, dürfte einer Abkehr vom dritten Leitmotiv entgegenstehen, der Wahrung militärischer Überlegenheit der USA.
Diese Leitlinie prägt die amerikanische Sicherheitspolitik seit Jahrzehnten; die Trump-Administration hält ebenfalls an ihr fest. Die Nationale Verteidigungsstrategie von 2018 nennt an vorderster Stelle das Ziel, für die USA vorteilhafte Kräftegleichgewichte zu erhalten, und definiert die US-geführten Allianzsysteme als Kräftemultiplikatoren zugunsten Amerikas, die es zu bewahren gelte. Auch mit Blick auf ihre operativen Schwerpunkte und Ressourcenzuweisungen haben sich die USA unter der Präsidentschaft Trumps, allen Anfeindungen des Präsidenten zum Trotz, ihren Bündnissen eher zu- als abgewendet.
Die Zukunft der Bündnisse
So erscheint es zumindest kurz- und mittelfristig – in den kommenden vier bis sechs Jahren – wenig plausibel, dass sich die USA in der Folge der Corona-Krise von ihren verteidigungspolitischen Bündnissen in Asien und Europa distanzieren oder sogar trennen. Ferner werden sie ihren Anspruch auf militärische Überlegenheit voraussichtlich nicht aufgeben. Denn beides, das Festhalten an den Bündnissen wie das Streben nach Suprematie, ist weiterhin tief verwurzelt im bürokratischen Apparat, in beiden politischen Parteien des US-Kongresses sowie in der als Ideengeber fungierenden Think-Tank-Landschaft des Landes. Die Isolationisten im US-Kongress waren vor der Pandemie in der Minderheit und es gibt bislang keine Anhaltspunkte dafür, dass sich daran durch die aktuelle Krise etwas ändert.
Das bedeutet allerdings nicht, dass die Bündnisbeziehungen der USA von der Corona-Pandemie unberührt bleiben werden. So rechnet US-Verteidigungsminister Mark Esper bereits jetzt mit Sparvorgaben in der Nach-Corona-Zeit. Überlegungen im Pentagon gehen dahin, die Zahl der dauerhaft im Ausland stationierten US-Truppen zu reduzieren und stattdessen auf schneller aus amerikanischen Stützpunkten verlegefähige Verbände zu setzen. Im Ausland stationierte Truppen kommen die amerikanischen Steuerzahler zwar meist günstiger zu stehen, als wenn sie sich in den USA befinden. Politisch jedoch ist es insbesondere in wirtschaftlichen Krisenzeiten leichter, Basen im Ausland zu schließen als in den Wahlbezirken der Kongressabgeordneten.
Außerdem ist zu erwarten, dass die Konflikte über Lasten- und Kostenteilung mit den Bündnispartnern, nicht zuletzt mit Deutschland, noch offener und heftiger ausgetragen werden – und zwar auch dann, wenn der nächste US-Präsident Joe Biden heißt. Denn die europäischen Nato-Staaten ebenso wie die Bündnispartner Japan und Südkorea werden durch die Pandemie unter enormem Druck stehen, ihre eigenen Ausgaben für Verteidigung zu reduzieren, desgleichen ihre Kostenbeteiligung an der Stationierung der US-Truppen.
Im Zuge der Bewältigung der Krise wird schließlich der Druck auf den nächsten Präsidenten wachsen, US-Truppen aus den Konfliktgebieten im Mittleren Osten und aus Afrika herauszuziehen bzw. herauszuhalten. Mit Blick auf den Mittleren Osten zeigen die jüngeren Entwicklungen seit Anfang 2019 indes einmal mehr: Ein gesichtswahrender Rückzug der USA aus dieser Weltregion ist nur möglich, wenn es zu einer Entspannung im Verhältnis der USA sowie seiner arabischen Verbündeten mit dem Iran kommt. Insofern könnte die Corona-Pandemie im Falle eines Machtwechsels im Weißen Haus nach den November-Wahlen einen Schwenk in der amerikanischen Iran-Politik begünstigen.
Die drohende Erosion des Gesellschaftsvertrags
Die Beharrungskräfte im außen- und sicherheitspolitischen Establishment der USA sprechen also gegen eine grundsätzliche Kurskorrektur der amerikanischen Politik – zumindest in den ersten Jahren nach der Pandemie.
Langfristig jedoch könnten die gesellschaftlichen Folgen der Corona-Krise einen Prozess beschleunigen, der sich bereits seit dem Ende des Kalten Krieges in den USA beobachten lässt. Die gesellschaftliche Zustimmung zu kostenträchtigen internationalen Verpflichtungen und einem auf wirtschaftliche Öffnung ausgerichteten außenpolitischen Narrativ ist nämlich nicht bedingungslos. Sie hing in den sieben Dekaden nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ab von dem glaubwürdigen Versprechen größerer wirtschaftlicher Inklusivität und Gleichheit innerhalb der amerikanischen Gesellschaft.
Politisch besonders brisant ist vor diesem Hintergrund der massive Einbruch des Arbeitsmarktes in den USA. Im Zuge der Corona-Pandemie ist dieser Markt aus einer Situation, in der es nahezu Vollbeschäftigung gab, in einen tiefen Abgrund gestürzt. So könnte die Arbeitslosigkeit zumindest zeitweise bei über 15 Prozent liegen und im Jahresdurchschnitt für 2020 noch immer 12 Prozent erreichen. Die Arbeitslosigkeit in den USA wäre damit höher als zu jedem anderen Zeitpunkt seit den frühen 1930er Jahren während der Großen Depression.
Die Vereinten Nationen (VN) gehen davon aus, dass die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie auch in den entwickelten Industriestaaten die unteren Einkommensgruppen besonders hart treffen werden. Niedriglohnjobs drohen als erste wegzufallen. Darüber hinaus könnte nach Einschätzung der VN der Teufelskreis aus niedrigem sozioökonomischem Status und Gesundheitsrisiken die wirtschaftliche Ungleichheit in vielen Ländern weiter vergrößern, darunter auch in den USA. Dort sind laut VN 40 Prozent der Haushalte derzeit nicht in der Lage, unvorhergesehene Ausgaben in Höhe von mehr als 400 US-Dollar zu stemmen, ohne neue Schulden aufzunehmen oder einen Teil ihres Eigentums zu veräußern.
Die Wahrnehmung, die wirtschaftliche Inklusivität funktioniere nur mangelhaft, hat in der Folge der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008/2009 schon Präsident Barack Obama dazu gezwungen, »Nation-Building at Home« stärker in den Vordergrund zu rücken und internationale Militäreinsätze der USA in Frage zu stellen. Die Enttäuschung über fehlende wirtschaftliche Inklusivität hat 2016 ebenfalls den Weg Donald Trumps ins Weiße Haus geebnet.
Insofern ist es einerseits sehr gut denkbar, dass die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie das Vertrauen der amerikanischen Bevölkerung gegenüber politischen Institutionen und multilateralen Organisationen weiter erodieren lassen. Andererseits würde dies die innenpolitischen Grundlagen einer »internationalistischen« US-Außen-, -Sicherheits- und ‑Verteidigungspolitik zusätzlich schwächen und könnte diese auf lange Sicht gänzlich untergraben.
Ausblick
Vieles spricht dafür, dass die Corona-Pandemie in den kommenden Jahren eher zu einem graduellen als zu einem abrupten und grundlegenden Wandel in der US-amerikanischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik führen wird. Und das trotz absehbarer Sparzwänge – zu groß sind die politischen Beharrungskräfte zugunsten einer Politik, die auf internationale Einflussnahme und militärische Überlegenheit ausgerichtet ist. Zudem betrachten Republikaner wie Demokraten die gegenwärtige Krise durch die Brille der schon vor Corona dominanten sicherheitspolitischen Motive, nicht zuletzt des chinesisch-amerikanischen Konflikts.
Auf längere Sicht jedoch – über die Spanne von zwei oder drei Präsidentschaften – könnte die Corona-Pandemie die gesellschaftlichen Grundlagen für eine global ausgerichtete amerikanische Sicherheitspolitik weiter schwächen; zumindest wenn es nicht gelingt, die sozioökonomischen Ungleichheiten in den USA abzufedern.
Deutschland und andere Partner der USA müssen sich darauf einstellen, dass der Streit über sicherheitspolitische und militärische Lastenteilung in der Nato an Heftigkeit und Virulenz gewinnt.
Es ist gut möglich, dass Washington aufgrund der wirtschaftlichen Pandemie-Folgen dauerhaft in Europa stationierte Truppen reduzieren und gegebenenfalls einzelne Standorte schließen wird. Der amerikanische Fokus würde sich noch mehr in Richtung China und den Indo-Pazifik verlagern – verbunden mit bereits bekannten Forderungen aus Washington, sich an die Seite der USA zu stellen, was alle relevanten Konfliktpunkte mit Peking angeht.
Im März 2020 ist in Deutschland eine Debatte über die nukleare Teilhabe und damit indirekt auch über die Atomwaffenpolitik der USA ausgebrochen. Abrüstungsbefürworter hierzulande können nicht darauf hoffen, dass Amerika in der Folge der Covid‑19-Pandemie weniger Geld in die Modernisierung und Flexibilisierung seines Atomwaffenarsenals investiert. Nuklearwaffen sind auch für die USA »asymmetrische Waffen«, die militärische und technologische Nachteile in anderen verteidigungspolitischen Bereichen kompensieren können. Nuklearwaffen behalten im Zuge der Großmachtkonkurrenz eine hohe Bedeutung – und diese nimmt eher zu, wenn teure konventionelle Waffensysteme, beispielsweise Flugzeugträger, in Folge der Corona-Pandemie zusammengestrichen werden müssen.
Schließlich scheint die Annahme plausibel, dass die USA insbesondere dort ihr sicherheitspolitisches Ambitionsniveau zurückschrauben werden, wo die Konflikte mit China und anderen Großmächten von bislang sekundärer Bedeutung sind – und wo die USA bereits seit Jahren aus ihren »endlosen Kriegen« aussteigen wollen. Das betrifft vor allem den Mittleren Osten und Afrika.
Beide Regionen sind indes für Deutschland und Europa besonders relevant. Und so könnten Letztere in Zukunft dort noch mehr auf ihr eigenes sicherheitspolitisches Gewicht angewiesen sein.
Sofern die Corona-Krise langfristig tatsächlich die gesellschaftliche Akzeptanz in den USA für eine international ausgerichtete Sicherheitspolitik und internationale Bündnisse untergräbt, bekommt die Idee einer größeren sicherheitspolitischen Eigenständigkeit Europas eine zusätzliche Bedeutung.
Dr. Marco Overhaus ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Amerika.
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doi: 10.18449/2020A44