Das Schwarze Meer ist ein Spannungsfeld. Es ist Schauplatz der Russland-Nato-Konfrontation und Projektionsfläche der russischen und türkischen Vorstellungen einer regionalen Ordnung. Die Sonderrolle der Türkei in der Region ergibt sich in erster Linie aus der Umsetzung des Vertrags von Montreux, der über weite Teile des vergangenen Jahrhunderts einseitige Einflussbereiche und Vormachtstellungen reduzierte. Die Nicht-Anrainer-Staaten sollen dabei außen vor bleiben. Für die Türkei ist der Vertrag von Montreux ein Machtinstrument. Der russische Einmarsch in der Ukraine im Februar 2022 hat es ihr ermöglicht, dieses Instrument noch stärker im Dienste der eigenen strategischen Interessen einzusetzen. Der Handlungsspielraum der Nato dagegen hat sich in der entstandenen Situation verengt. Zwar ist die Türkei ein wesentliches Element in der kollektiven Verteidigung der Allianz. Seit Ausbruch des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine ist die Nato aber nicht mehr im Schwarzen Meer präsent. Damit fehlt ein wichtiger Pfeiler zur Abschreckung und Verteidigung. Insofern gibt es im Schwarzmeerraum einen Dualismus der Ordnungsvorstellungen auf zwei unterschiedlichen Ebenen: der regionalen und der globalen.
Seit dem Ausbruch des russischen Krieges in der Ukraine am 24. Februar 2022 wird vielen Beobachtern wieder das geostrategische Wechselspiel um Einfluss- und Interessensphären im Schwarzmeerraum vor Augen geführt, dessen Wurzeln weit zurückreichen. Russland verfolgt im Schwarzen Meer seit Jahrhunderten sein Interesse an einem eisfreien und möglichst ganzjährig warmen Zugang zu den vitalen Seeverbindungswegen um Europa herum, der seinen Anspruch als Seemacht untermauert. Bereits 1770 nutzte Katharina II. einen Verband der Ostseeflotte, um weite Teile der osmanischen Flotte in einem Überraschungsangriff in der Ägäis zu versenken und damit den russischen Einflussbereich im Schwarzen Meer auszudehnen. Dank dieses Machtzuwachses sicherte sich Katharina 1772 in Verhandlungen über eine Territorialaufteilung in Osteuropa große Gebiete von Belarus, Litauen und Ostpolen.
Die historischen Kämpfe zwischen dem Russischen und dem Osmanischen Reich im Schwarzmeerraum prägen heute noch die westliche Wahrnehmung des Verhältnisses zwischen Moskau und Ankara. Manche Experten halten deren aktuelle Zusammenarbeit deshalb für »eine historische Anomalie«. Mit einer solchen Sichtweise und den damit verbundenen Erwartungen wird jedoch die Dynamik in den Beziehungen zwischen Moskau und Ankara nach dem Zusammenbruch der beiden Imperien ignoriert und auch die Bedeutung unterschätzt, die der Vertrag von Montreux heute noch für die Türkei hat. Mit dem Vertrag von 1936 sicherte sich die Türkei die Souveränität über den Bosporus, das Marmarameer und die Dardanellen. Das Dokument regelt nicht nur den Zugang durch die Meerengen, sondern auch die Aufenthaltsdauer von Kriegsschiffen – und damit die militärische Balance – im Schwarzen Meer.
Ankara betrachtet den Vertrag von Montreux als Instrument der regionalen Sicherheit, das nicht nur den eigenen Interessen, sondern auch denen der Anrainer- und Nicht-Anrainer Staaten dienen soll. Dies wurde zuletzt erneut in der Art und Weise offenbar, wie Ankara sich am 28. Februar 2022, vier Tage nach dem Kriegsbeginn in der Ukraine, auf das Übereinkommen berief. Unter Bezugnahme auf Artikel 19, der die Durchfahrt von Kriegsschiffen kriegführender Akteure betrifft, erklärte der damalige türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu, dass »alle Länder, ob Anrainer oder nicht, gewarnt wurden, Kriegsschiffe durch die Meerenge zu schicken«. Damit reagierte Ankara auf die Forderung der Ukraine, die Meerenge für russische Kriegsschiffe zu schließen, und minimierte zugleich mit Bedacht ein Eskalationspotential.
Die geostrategische Bedeutung des Schwarzmeerraums
Die seit Jahrhunderten existierenden Handelswege durch das Schwarze Meer und an dessen Küsten haben die Region rund um das Binnengewässer zu einem strategisch wichtigen Dreh- und Angelpunkt zwischen dem östlichen Rand Europas und dem Kaukasus sowie den Ausläufern Asiens gemacht. Infolge der europäischen Sanktionen gegenüber russischen fossilen Rohstoffen ist der Raum um das südliche Schwarze Meer herum heute zu einem Hauptumschlagplatz für diese für Russland wichtigen Rohstoffexporte geworden.
Gleichzeitig steht der gesamte Schwarzmeerraum auch im Fokus der chinesischen »Belt and Road Initiative« (BRI), der sogenannten neuen Seidenstraße, denn in der Region treffen sich Handelsrouten nach Europa, zum Mittelmeer und nach Nordafrika. Insbesondere der Handelsweg nach Europa verläuft entweder durch das Schwarze Meer oder durch die Anrainerstaaten bis nach Osteuropa. Hier kreuzen die Warenverkehrsrouten der BRI zudem die russischen Erdgas- und Erdölpipelines.
Diese geostrategisch bedeutende Region westlich des Schwarzen Meeres, wird auch als Intermarium bezeichnet. Hier, zwischen dem Baltikum und der Adria, liegen kleinere und mittelgroße osteuropäische Länder, die sich in der Vergangenheit oft zwischen den Großmächten Europas und Russland behaupten mussten. Im Ost-West-Konflikt waren sie mehrheitlich Einflussgebiete der sowjetischen Außen- und Sicherheitspolitik. Heute gehören diese Staaten überwiegend zur Nato und zur EU und streben im Rahmen der Drei-Meere-Initiative ein größeres Mitspracherecht auch in der Schwarzmeerregion an.
Nicht zuletzt ist der Schwarzmeerraum Schauplatz mehrerer territorialer und ethnischer Konflikte. Zu nennen sind hier vorrangig Transnistrien in der Republik Moldau, Südossetien und Abchasien in Georgien und der Streit zwischen Aserbaidschan und Armenien um Bergkarabach. Diese Spannungen existieren bereits seit dem Zerfall der Sowjetunion. Erst über die Jahre spielten diese eine immer größere Rolle im Verhältnis des Westens zu Russland. Aus Moskaus Sicht sind diese Regionen eine geostrategische Pufferzone, die es durch militärische Präsenz absichert. Der Westen wiederum widmet seine Aufmerksamkeit den postsowjetischen Verwerfungen vorwiegend im Kontext seiner Russland-Strategie. Die Konfrontation zwischen Russland und der Nato hat somit eine unmittelbare Auswirkung auf diese Konflikte, was die Herausbildung einer beständigen Sicherheitsarchitektur verhindert.
Russlands Agieren im Schwarzen Meer
Seit der Annexion der Krim 2014 hat Moskau die Halbinsel ganz im Zeichen des Bastion-Konzepts mit militärischen Fähigkeiten hochgerüstet. Das soll Russland in die Lage versetzen, potentiellen Bedrohungen in einem Raum zu begegnen und wirkungsvoll zu bekämpfen, der seinem Territorium weit vorgelagert ist. Dazu hat die Russische Föderation nicht nur an Land leistungsfähige Frühwarn- und Waffensysteme ausgebaut, sondern auch seine Schwarzmeerflotte mit weitreichenden Land- und Seezielflugkörpern ausgestattet. Mit den seit 2014 akkumulierten militärischen Fähigkeiten hat Moskau seinen Anspruch auf eine Vormachtstellung in der Region noch mal mit größerem Nachdruck signalisiert; darüber hinaus übt es damit zugleich auch Druck auf die anderen Anrainer aus.
In seiner maritimen Doktrin vom 31. Juli 2022 deklariert Russland das Schwarze Meer und das angrenzende Asowsche Meer als wichtiges nationales Interessengebiet. Die Region hat damit den gleichen Rang wie die Ostsee und das Mittelmeer. Diese Einstufung bezieht sich auf sämtliche militärische und zivile Politikfelder, also sowohl auf Aspekte der Sicherheit wie auch auf Fragen des Wohlstands, der wirtschaftlichen Entwicklung etc. Speziell der russischen Schwarzmeerflotte kommt eine besondere Bedeutung als Instrument der russischen Außen- und Sicherheitspolitik und Vollstreckerin der maritimen Doktrin zu. Die Schwarzmeerflotte ist eine von vier Flottenverbänden. Ihr Auftrag ist die regionale Machtprojektion. Sie ist auch ein wesentlicher Ausgangspunkt für das militärische Agieren Russlands im Mittelmeer und im Nahen Osten. Jenseits des Bosporus erhält sie regelmäßig Unterstützung von Einheiten der Ostseeflotte, der Nordflotte und gelegentlich auch der Pazifikflotte. Diese Interaktion der russischen Flottenverbände macht deutlich, dass der Kreml den geografischen Raum von der Arktis und dem Nordatlantik über den Ostseeraum bis hin zum Schwarzen Meer als ein einheitliches geostrategisches Gebilde betrachtet. Der Einsatz verschiedener Ressourcen, egal ob politischer, diplomatischer, militärischer oder wirtschaftlicher Art, ist hier Teil eines gemeinsamen strategischen Kontexts.
Durch den Krieg in der Ukraine hat sich auch die Bedrohungs- und Gefahrenlage im Schwarzen Meer deutlich verändert. Neben der fortgesetzten Militarisierung der Region insbesondere durch Russland, sind es vor allem die Auswirkungen der völkerrechtswidrigen Aggression, die neue Gefahren und Konfliktlinien erzeugen. Der zivile Schiffs- und Handelsverkehr konzentriert sich nun auf das Dreieck zwischen dem Bosporus, dem rumänischen Donaudelta und der russischen Hafenstadt Novorossiysk. Nur vereinzelt sind Schiffe im Bereich der südlichen Ukraine oder dem Zugang zum Asowschen Meer unterwegs. Die wichtigen Seeverbindungswege innerhalb des Schwarzen Meeres sind infolge des Krieges deutlich bedrohter und fragiler. Über weite Teile des Jahres 2022 hinweg waren auch die Schiffsbewegungen entlang der rumänischen und bulgarischen Schwarzmeerküste wegen gelegentlich gesichteter Treibminen stark eingeschränkt. Dabei handelte es sich um losgerissene Ankertauminen aus den ukrainischen Küstengewässern. Streitkräfte beider Parteien sollen solche Minen dort gelegt haben. Aufgrund ihres Alters, mangelnder technischer Wartung und widriger Witterungsbedingungen haben sich Minen losgerissen und sind vereinzelt bis zum Eingang des Bosporus getrieben. Sie stellten für die zivile Seefahrt eine unberechenbare Bedrohung dar und mussten in einer gemeinsamen Anstrengung türkischer, bulgarischer und rumänischer Streitkräfte geortet und entschärft werden.
Relevanz für die Nato
Seit der Verabschiedung ihres neuen Strategischen Konzepts auf dem Gipfel in Madrid im Juni 2022 betrachtet die Nato Russland ausdrücklich als größte Bedrohung der euroatlantischen Sicherheit. Insbesondere die von Moskau betriebene Militarisierung maritimer Räume ist aus Sicht der Allianz Anlass zur Besorgnis. Der Schwarzmeerraum ist für die Sicherheit der Bündnispartner von herausgehobener strategischer Bedeutung.
Bereits als direkte Antwort auf die Krim-Annexion 2014 erhöhten die Nato und einzelne westliche Alliierte unilateral ihre Präsenz in der Region. Als Teil der Nato-Mission »Air Policing« patrouillieren seitdem alliierte Flugzeuge im Luftraum über dem Schwarzen Meer, Rumänien und Bulgarien. Nach dem Nato-Gipfel in Warschau im Jahr 2016 wurde in Rumänien und Bulgarien an Land die sogenannte »Tailored Forward Presence« etabliert. Mit den Beschlüssen des Gipfels von Madrid im Jahr 2022 bilden diese Elemente den Grundstock für die neu eingerichteten Battle Groups der Allianz in Rumänien, Bulgarien und Ungarn. Unter der Flagge der Nato sollen diese multinationalen Truppenkontingente den Kernauftrag des Bündnisses – Abschreckung und Verteidigung – stärken. Damit hat sich unter anderem in Rumänien die Zahl der US-Truppen von etwa 1.000 Soldaten im Januar 2022 auf heute etwa 3.000 verdreifacht. Die Amerikaner haben mit den Truppenkontingenten der leicht beweglichen 101. Fallschirmjägerdivision nicht nur hoch einsatzbereite und kampfstarke Verbände in das besonders exponierte Rumänien verlegt, sondern nutzen deren Präsenz und Nähe zum Kampfgeschehen in der Ukraine auch zur kontinuierlichen Aufklärung und Informationsgewinnung. Dazu werden auch regelmäßig Drohnen im internationalen Luftraum über dem Schwarzen Meer eingesetzt. Rumänien ist derzeit zum Dreh- und Angelpunkt der alliierten und amerikanischen Präsenz in der Schwarzmeerregion und der dort eingeleiteten Maßnahmen zur Erhöhung der Abschreckungs- und Verteidigungsbereitschaft der Nato geworden.
In der maritimen Domäne ist die Präsenz der Allianz in der Region seit Ausbruch des Angriffskriegs und dem Inkrafttreten der von der Türkei verhängten Einschränkungen der Passage des Bosporus weitestgehend zum Erliegen gekommen. Neben den im Schwarzen Meer stationierten Einheiten Bulgariens, Rumäniens und der Türkei gibt es keine externen alliierten Marinestreitkräfte mehr im Schwarzen Meer, so wie es seit 2014 nahezu kontinuierlich der Fall war. Auch Manöver und Übungen des Bündnisses finden auf See nicht mehr statt.
Dabei war es eines der Kernanliegen der Nato nach den Beschlüssen des Gipfels von Wales im Jahr 2014, den Schwarzmeerraum stärker in den eigenen Planungen zu berücksichtigen und dort militärische Sicherheitsstrukturen zu etablieren. Im maritimen Hauptquartier der Allianz in Northwood, Großbritannien, sollte zur Koordinierung der Maßnahmen und des Übungsgeschehens eigens eine »Black Sea Coordination Function« eingerichtet werden. Dadurch sollten auch die Voraussetzungen für die kontinuierliche Erstellung eines Lagebilds über die Schiffsbewegungen geschaffen und insgesamt ein besseres Verständnis für die Entwicklungen in der Region gewonnen werden. Im Jahr 2016 schlug Bulgarien vor, diese maritime Koordinierungsfunktion von Northwood auf eine »Regional Naval Coordination Presence« in Varna zu übertragen. Der Vorschlag fand breite Unterstützung unter den Mitgliedstaaten, einzig die Türkei lehnte die Initiative ab, so dass die Entscheidung weiter aussteht. Ankara hat ein Interesse daran, den Einfluss externer Akteure auf die Region, vor allem den der nicht zur Region gehörenden Alliierten und der Allianz als Organisation, zu begrenzen und damit ihre eigene Position im Schwarzmeerraum zu stärken.
Interessenlage der Türkei
Die Türkei hat im Schwarzmeerraum zwei Hauptanliegen: Erstens ist die Regierung in Ankara darauf bedacht, mit ihrer Politik Russland nicht zu provozieren. Zweitens geht es ihr darum, die Führungsrolle des eigenen Landes in der Region gegenüber der Nato zu sichern. Als die USA im Jahr 2005 die Nato-Seeraumüberwachungsoperation »Active Endeavour« vom Mittelmeer auf das Schwarze Meer ausdehnen wollten, stießen sie auf großen Widerstand der Führung in Ankara. Diese argumentierte, die Nato sei bereits mit der Türkei als Bündnispartner in der Region ausreichend vertreten.
Um für Sicherheit im Schwarzen Meer zu sorgen, hat die Türkei eigene Strukturen und Kooperationsangebote initiiert. Bereits 2001 rief sie einen regionalen ständigen Kooperationsverband, die BlackSeaFor, ins Leben. Hauptaufgabe dieses Verbands, dem alle sechs Schwarzmeer-Anrainerstaaten angehören, sind gemeinsame Marineübungen und die Durchführung von Rettungsoperationen und humanitären Einsätzen. Im Jahr 2004 startete die Türkei die nationale Operation Black Sea Harmony, die dazu dienen soll, ein besseres maritimes Lagebild innerhalb der eigenen Schwarzmeergewässer zu erstellen und etwaige terroristische Bedrohungen abzuwehren. Die türkische Regierung hat seither allen Anrainerstaaten, auch Russland, eine Beteiligung an dieser Mission und den dafür eingerichteten Strukturen angeboten. Offiziell nimmt Russland seit 2006 an Black Sea Harmony teil. Mit der multinationalen Öffnung der Operation erklärte man in den begleitenden Protokollen die Vertrauensbildung und die Erhöhung der maritimen Sicherheit im Schwarzen Meer zu den Hauptaufgaben des Kooperationsformats.
Neben dem Streben, sich eine Führungsrolle als Nato-Mitglied im Schwarzen Meer zu sichern, ist es ein weiteres Anliegen der türkischen Regierung, der Präsenz der USA entgegenzuwirken. Besonders problematisch für Ankara ist somit nicht die Präsenz der Nato in der Region als solche, sondern die Auswirkungen der US-amerikanischen Politik. Dies hat mit den sicherheitspolitischen Erfahrungen der Türkei im Nahen Osten zu tun. Als Folge der US-Intervention in Irak 1991 haben die irakischen Kurden im Norden des Landes ein autonomes Gebiet etabliert, das aus türkischer Sicht ein Sicherheitsproblem darstellt. 2003 verweigerte Ankara den USA im Zusammenhang mit dem zweiten Krieg in Irak die Nutzung von Militärstützpunkten durch amerikanische Einheiten. Die Türkei sieht in der US-amerikanischen Politik im Nahen Osten eine Quelle der Instabilität nicht nur für sich selbst, sondern auch für den Südkaukasus. So verhinderte Ankara im August 2008, nach dem Ausbruch des Krieges zwischen Georgien und Russland, dass die zur US-Navy gehörenden Krankenhausschiffe USNS Mercy und USNS Comfort ins Schwarze Meer gelangen konnten. Auch aktuell ist das bilaterale Verhältnis zwischen der Türkei und den USA stark belastet. Sowohl Ankara als auch Washington betrachten sich gegenseitig als Widerpart der eigenen regionalen Interessen, ob im Nahen Osten, im östlichen Mittelmeer oder auch im Schwarzmeerraum. Nicht zuletzt deswegen verfolgt die Türkei einen Sonderweg unter den Nato-Staaten, der auch im Schwarzmeerraum sichtbar ist.
Nach der Krim-Annexion 2014 hat die Türkei sich zwar den westlichen Sanktionen gegen Moskau nicht angeschlossen, aber gleichwohl eine militärische Zusammenarbeit mit der Ukraine angebahnt. Ihr Ziel war es nicht nur, die Lücken bei den eigenen Produktionskapazitäten zu schließen, sondern auch, die militärischen Fähigkeiten der Ukraine zu erhöhen. Im türkischen Idealbild der regionalen Ordnungsstruktur spielt die Ukraine eine wesentliche Rolle zur Einhegung russischer Hegemonialansprüche. Vor diesem Hintergrund hat sich eine für beide Seiten wichtige Handels- und Rüstungskooperation herausgebildet. 2015 lieferte die Türkei erste militärische Munition in die Ukraine. 2016 wurde ein Abkommen über strategische Zusammenarbeit in der Verteidigungsindustrie unterzeichnet. Und 2019 schlossen beide Seiten einen Deal über die Lieferung türkischer Drohnen an die Ukraine.
Vor dem Beginn des Krieges in der Ukraine am 24. Februar 2022 entsprach die Politik der Türkei weitgehend dem Ansatz der Nato gegenüber Russland, nämlich Abschreckung und Dialog. Im Unterschied zur Allianz hält Ankara auch heute noch an diesem Konzept fest. Im Dialog mit Russland zu bleiben hat es der Türkei ermöglicht, sich als Vermittler zwischen Moskau und Kiew zu etablieren. Besonders mit den Bemühungen um die Schwarzmeer-Getreide-Initiative im Sommer 2022 verknüpfte Ankara die Hoffnung, dass damit ein Schritt Richtung Waffenstillstand gemacht werden könne. Das Festhalten an dem Balancieren zwischen Abschreckung und Dialog gegenüber Russland erklärt sich nicht nur mit den spezifischen bilateralen Beziehungen zu Moskau.
Nach dem 24. Februar 2022 näherte sich die Türkei nicht etwa dem Westen wieder an, sondern sie baut seither ihre Beziehungen zu Russland weiter aus. Der Krieg in der Ukraine hat den Wert Ankaras auch für Moskau zweifelsfrei erhöht. Dies gilt vor allem für die Handelsbeziehungen und den Energiebereich. Im Oktober 2022 hat Putin zum Beispiel Erdogan beim Treffen in Astana angeboten, in der Türkei eine Gasdrehscheibe aufzubauen. Ob diese Idee, von der Ankara seit langem träumt, realisierbar ist, bleibt zwar unklar, die türkische Seite ist sich ihres eigenen Wertes für Russland aber durchaus bewusst. So darf die Erdogan-Regierung mit der Verschiebung von Gaszahlungen in Höhe von 20 Milliarden US-Dollar an Gazprom auf 2024 und mit einem 25 Prozent-Rabatt auf den Gaspreis rechnen. Insbesondere die Zusammenarbeit im Bereich der Kernenergie ist zu einem der wichtigsten Pfeiler in den türkisch-russischen Beziehungen geworden. Das Interesse Ankaras an dieser Energiequelle reicht bis in die 1960er Jahre zurück. Die Einweihung des von Rosatom gebauten Kernkraftwerks Akkuyu am 27. April 2023 wurde in der Türkei als »Schritt in die globale Atomliga« gefeiert. Das Atomkraftwerk Akkuyu soll 10 Prozent des türkischen Strombedarfs bereitstellen.
Die oppositionellen Parteien in der Türkei kritisieren zwar die wirtschaftliche Abhängigkeit ihres Landes von Russland, doch auch sie sehen eine funktionierende Beziehung mit Moskau als unerlässlich an, »wenn nicht aus freien Stücken, dann aus Verpflichtung«. Diese Ansicht spiegelt sich in der öffentlichen Meinung in der Türkei wider. In einer vom European Council on Foreign Relations beauftragten Umfrage betrachten 55 Prozent der Befragten in der Türkei Russland als notwendigen Partner, 14 Prozent als Verbündeten mit geteilten Werten und Interessen, 18 Prozent als Rivalen und 8 Prozent als Gegenspieler.
Türkisch-Russische Ordnungsvorstellung für den Schwarzmeerraum
Seit dem 24. Februar 2022 ist in vielen europäischen maritimen Räumen jede Form der Kooperation zwischen dem Westen und Russland zum Stillstand gekommen. Nicht nur stellen wirtschaftliche und politische Sanktionen eine Antwort des Westens auf den russischen Bruch des Völkerrechts dar, vielmehr ist auch jegliches Vertrauen gegenüber Russland auf Jahrzehnte hinaus erschüttert. Das betrifft sowohl Herausforderungen durch den Klimawandel, wirtschaftliche Kooperation, Fischereischutz, territoriale Streitigkeiten, Aspekte der Sicherheit des zivilen Seeverkehrs, aber auch Fragen der Rüstungskontrolle und der sicherheitspolitischen Verständigung in institutionellen Strukturen und in bilateralen Vereinbarungen. Weder in der Arktis noch in der Ostsee werden auf absehbare Zeit die genannten Aufgaben gemeinsam mit Russland, dem flächenmäßig größten Land im eurasischen Raum, einer gemeinsamen Bearbeitung zugeführt werden.
Im Schwarzen Meer ist die Lage eine andere. Hier treffen Großmachtambitionen auf regionale Ordnungsvorstellungen. Aus Sicht westlicher Analysten ist das Schwarze Meer ein »Schwarzes Loch« oder auch ein »trübes Gewässer«. Für Ankara und Moskau hingegen stellt der Schwarzmeerraum eine Art von informellem Kondominium dar. So herrscht hier seit dem Ende des Ost-West-Konflikts ein Einvernehmen zwischen den beiden darüber, wie die regionale Ordnung aussehen soll. Das Schwarze Meer zählt sowohl für Russland als auch für die Türkei zu den Zonen privilegierten Interesses. Externe Akteure möchte man gern außen vor halten. Diese Sichtweise erinnert an Carl Schmitt und seine Ausführungen zu »Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte«. In einem zumindest nicht offiziell, aber erkennbar abgestimmten Agieren haben die Türkei und Russland im Schwarzen Meer zusammen eine regionale Kontrolle errichtet, die das Gewässer de facto zu einem (gemeinsamen) Mare Clausum macht. Im gegenseitigen Einvernehmen und in einem ständigen Wechselspiel der Vertretung eigener Interessen ist das Schwarze Meer zu einem von Russland und der Türkei kontrollierten, dominierten und geschlossenen Raum geworden.
Die heutige Wahrnehmung der Beziehungen zwischen Ankara und Moskau wird von der Führungsdiplomatie zwischen Erdogan und Putin dominiert. Das ist einerseits nachvollziehbar. Durch direkte, persönliche Kommunikation kann man viel regeln, wie zum Beispiel die Telefonate belegen, mit denen sich die beiden Präsidenten im März 2022 auf die Durchfahrt türkischer Schiffe ins Asowsche Meer verständigten, um Engpässe an Sonnenblumenöl in der Türkei zu vermeiden. Angesichts der weitgehenden Isolierung Russlands durch den Westen wünscht sich auch Putin eine weitere Verfestigung des Verhältnisses zur Türkei unter Erdogan, mit dem der Kreml-Chef nach eigenen Worten »nicht nur angenehm, sondern auch sicher« arbeiten kann.
Doch gerade im Schwarzmeerraum lässt sich eine Konstante beobachten, die über die persönlichen Verhältnisse hinaus Bestand hat. Die Kontrolle über die Meerenge war ein ewiger Streitpunkt in der Geschichte der russisch-türkischen Beziehungen. Seit Anfang des 20. Jahrhunderts geht es zwischen den beiden allerdings nicht mehr um den Kampf um Vormacht. Das Konkurrenzverhältnis gibt es zwar immer noch, prioritär ist für beide Akteure jedoch, die durch den Vertrag von Montreux gesicherte Machtbalance im Schwarzmeerraum beizubehalten und die militärische Präsenz der westlichen Akteure zu beschränken. Vor diesem Hintergrund ist auch der ukrainische Wunsch, das Schwarze Meer in stärkerem Maße zu einem von der Nato kontrollierten Seegebiet zu machen, auf absehbare Zeit nicht realisierbar. Vor allem die Türkei wird an ihren regionalen Ordnungsvorstellungen für den Schwarzmeerraum festhalten.
Ausblick und Empfehlungen
Die Russland-Türkei-Partnerschaft ist zwar eng, sie ist allerdings keine Allianz. Die Türkei bleibt für Russland in erster Linie ein Nato-Mitglied. Aus Sicht Moskaus ist das Land am Bosporus ein ernstzunehmender Akteur, gerade wegen dessen Nato-Mitgliedschaft. Bei ihrem Balanceakt zwischen Abschreckung und Dialog gegenüber Russland ist für die Türkei Ersteres nicht weniger wichtig als Letzteres. Ankara hat zwar eine Tradition, den US-Kriegsschiffen den Zugang zum Schwarzen Meer zu verwehren, beliefert aber zugleich US-Flugzeuge in der Region mit Treibstoff. Als die Ukraine im Jahr 2019 zur Stärkung ihrer Flotte Korvetten mit Seezielflugkörpern suchte und von den USA und Großbritannien nicht das Gewünschte bekam, war einzig die Türkei bereit, darüber einen Vertrag zu schließen. Vor dem Krieg war man in den USA besorgt, ob die Verteidigungsbeziehungen zwischen der Türkei und der Ukraine über die bloße Abschreckung Russlands hinausgehen und womöglich das Potential haben könnten, Moskau einen casus belli zu liefern. Die Türkei selbst nimmt sich auch nach dem russischen Angriff auf die Ukraine nicht als bedroht wahr, dafür überwiegen andere Bedrohungsperzeptionen. Ankara sieht auch das Risiko einer etwaigen Konfrontation Russlands mit der Nato als gering an, hat man doch seine eigenen bilateralen Beziehungen zu Moskau.
Das türkisch-russische Verhältnis lässt sich vor diesem Hintergrund am ehesten als eine funktionale und transaktive Zweckgemeinschaft verstehen. Diese folgt oft situationsbedingt einer pragmatischen Kooperationsbereitschaft. Das Ziel dieses wechselseitigen Verhältnisses ist es, das Schwarze Meer als geschlossenen Raum, als Mare Clausum, im Sinne eigener regionaler Ordnungsvorstellungen zu erhalten. Dabei bleibt die Nato für die Türkei eine wichtige Rückfallposition um russischem Einflussstreben zu begegnen, und für den Fall, dass die Beziehungen mit Moskau sich deutlich verschlechtern. Innerhalb der Nato nutzt die Türkei ihre besondere Rolle und ihre eigenen Beziehungen, um ihrer Stimme im Westen Geltung zu verschaffen. Die türkische Außen- und Sicherheitspolitik gleicht somit am ehesten einem Pendel, das sich zwischen den beiden Polen von Abschreckung und Dialog gegenüber Russland hin- und herbewegt. Das Pendel neigt sich situationsbedingt immer am stärksten in die Richtung, aus der man den größten politischen Gewinn ziehen kann.
Gleichzeitig bietet Russlands Krieg in der Ukraine der Türkei die Möglichkeit, den Vertrag von Montreux im Sinne eigener Ordnungsvorstellungen zu nutzen und zumindest im maritimen Raum die Präsenz der Nato, der USA oder anderer Akteure zu marginalisieren. Westliche Wertvorstellungen stehen im sicherheitspolitischen Denken und Agieren der Türkei hinter den eigenen regionalen Ordnungsinteressen zurück. Dies wird sich auch auf absehbare Zeit nicht ändern.
Die Präsenz der Nato im Schwarzmeerraum und damit der Schwerpunkt alliierter Abschreckungs- und Verteidigungsmaßnahmen gegenüber Russland wird sich auf Rumänien und Bulgarien konzentrieren. Die transatlantische Allianz wäre jedoch gut beraten, die Türkei nicht zum Quertreiber zu stigmatisieren und sich deren Ordnungsvorstellung und Interessen zunutze zu machen. Indem der Türkei mehr Verantwortung bei der Ausgestaltung sicherheitspolitischer Strukturen übertragen wird, könnten die Schwarzmeerregion mittelfristig eher stabilisiert und Friktionen minimiert werden. Im Hinblick auf die Nato wäre vorstellbar, dass die Türkei die Führung der regionalen Koordinierungsfunktion übernimmt. Andere alliierte Anrainer wie Bulgarien und Rumänien könnten aufgrund ihrer Lage und der derzeitigen Sicherheitsbedrohungen mit Aufgaben zur Räumung von Minen oder der Überwachung der Handelsrouten beauftragt werden. Dies würde den Vorstellungen und Interessen Ankaras in der Region entgegenkommen, die Türkei aber zugleich wieder enger in die Umsetzung der Maßnahmen zur Stärkung der Abschreckungs- und Verteidigungsfähigkeit der Nato einbinden. Die notwendige stärkere Integration der Ukraine in die europäische Sicherheitsarchitektur, die auf dem anstehenden Gipfel in Vilnius einen Schritt vorankommen könnte in Form einer realistischeren Nato-Beitritts-Perspektive, wird ebenso Auswirkungen auf die künftige regionale Ordnung im Schwarzen Meer haben.
Die im Juli 2022 vereinbarte Schwarzmeer-Getreide-Initiative unter Federführung der Türkei verdeutlicht, dass man ohne Ankara in der Region nicht auskommt. Eine auf Minilateralismen basierende Ordnungsstruktur im Schwarzmeerraum – jenseits von Nato oder EU – hat unter Umständen das größere Potential, nach einer Einstellung der russischen Aggression sowohl die Ukraine und ihre Sicherheitsinteressen wie auch Russland einzubinden. Aus den türkischen Initiativen wie BlackSeaFor oder Black Sea Harmony könnte eine permanente regionale Struktur erwachsen, die sich den nicht-militärischen, aber dennoch sicherheitspolitisch relevanten Aspekten im Schwarzmeerraum wie Seenotrettung, dem Kampf gegen organisierte Kriminalität oder den Folgen von Umweltverschmutzungen sowie dem Fischereischutz widmet.
Fregattenkapitän Göran Swistek ist Gastwissenschaftler in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik.
Daria Isachenko ist Wissenschaftlerin am Centrum für angewandte Türkeistudien (CATS).
Das Centrum für angewandte Türkeistudien (CATS) wird gefördert durch die Stiftung Mercator und das Auswärtige Amt.
© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2023
Alle Rechte vorbehalten
Das Aktuell gibt die Auffassung der Autorin und des Autors wieder.
SWP-Aktuells werden intern einem Begutachtungsverfahren, einem Faktencheck und einem Lektorat unterzogen. Weitere Informationen zur Qualitätssicherung der SWP finden Sie auf der SWP-Website unter https://www. swp-berlin.org/ueber-uns/ qualitaetssicherung/
SWP
Stiftung Wissenschaft und Politik
Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit
Ludwigkirchplatz 3–4
10719 Berlin
Telefon +49 30 880 07-0
Fax +49 30 880 07-100
www.swp-berlin.org
swp@swp-berlin.org
ISSN (Print) 1611-6364
ISSN (Online) 2747-5018
DOI: 10.18449/2023A36