Was vor einem Jahr als Protest junger Menschen gegen eine Preissteigerung bei der Metro begann und sich bald zu massiven Demonstrationen ausweitete, mündete am 25. Oktober in ein Plebiszit, in dessen Zuge eine neue Verfassung befürwortet wurde. Doch auf dem Weg dahin muss Chile noch große Herausforderungen meistern, meint Claudia Zilla.
Die profunde Unzufriedenheit der chilenischen Bevölkerung mit der tradierten Politik und der geltenden Wirtschaftsordnung hatten seit Oktober 2019 zu Demonstrationen und gewaltsamen Ausschreitungen in der Andenrepublik geführt. Im Ergebnis einigten sich die traditionellen politischen Parteien auf ein »Übereinkommen für den sozialen Frieden und die neue Verfassung«, das unter anderem die Durchführung eines bindenden Referendums über die Eröffnung eines Verfassungsprozesses vorsah.
Am letzten Sonntag nun stimmten 78,27 Prozent der Wählerinnen und Wähler dafür, dass das Land eine neue Verfassung erhält. Diese soll, auch dafür hat sich mit 78,99 Prozent eine deutliche Mehrheit ausgesprochen, eine direkt gewählte Verfassungsgebende Versammlung erarbeiten. Damit werden viele der zivilgesellschaftlichen Forderungen, die im Zuge der Demonstrationen erhoben wurden, institutionell aufgegriffen und diskutiert. Dass nur rund 51 Prozent der Wählerschaft an die Urnen gingen und sich damit der Trend niedriger Wahlbeteiligung seit der Abschaffung der Wahlpflicht fortsetzt, macht zugleich sichtbar, wie groß die Verdrossenheit gegenüber Parteien und institutionalisierter Politik ist. Bis zum Inkrafttreten einer neuen Verfassung werden die Chileninnen und Chilenen noch zweimal um ihre Stimmabgabe gebeten: im April 2021 für die Wahl der Mitglieder der Verfassungsgebenden Versammlung sowie voraussichtlich Ende 2022 für die Entscheidung über den neuen Verfassungstext. Bei diesem so genannten Ausgangsreferendum wird im Unterschied zum Eingangsreferendum vom 25. Oktober die Wahlpflicht gelten. Sollte es zu einem Votum gegen den neuen Text kommen, bleibt die aktuelle Verfassung in Kraft.
Die Verfassungsgebende Versammlung wird sich unter anderem mit dem Verhältnis von Gesellschaft und Politik, von Wirtschaft und Staat sowie privatem und öffentlichem Sektor auseinandersetzen müssen. Auch die Anerkennung von Minderheiten und die Ausweitung von Rechten, etwa die Einführung von Sozialrechten oder des Rechts auf eine saubere Umwelt, werden Thema sein. Die Chance ist groß, dass daraus ein neuer Gesellschaftsvertrag mit großer Ursprungslegitimität hervorgeht – anders als beim geltenden Verfassungstext, der zwar mehrere demokratisierende Reformen erfahren hat, jedoch unter der Pinochet-Diktatur entstand. Doch eine neue Verfassung allein wird Chile nicht in den demokratischen und sozialen Rechtsstaat verwandeln können, nach dem sich so viele sehnen. Sie kann nur den normativen Rahmen schaffen, in dem pluralistischere und inklusivere Aushandlungsprozesse innovative Sozial- und Wirtschaftspolitiken hervorbringen können. Hierzu müssen die etablierten Eliten aber bereit sein, ihre Privilegien aufzugeben, Kompromisse zu machen, Konflikte auszuhalten und sich mutig auf ergebnisoffenere politische Verfahren einzulassen. Mit Blick auf andere Beispiele aus der Andenregion hat der chilenische Kongress vorsorglich gesetzgeberisch die Gefahr ausgeräumt, dass die Verfassungsgebende Versammlung durch Selbstermächtigung eine umfassende Volkssouveränität für sich beansprucht oder der verfassungsgebende Prozess thematisch wie zeitlich aus den Fugen gerät. Auch ist festgelegt worden, dass Chile eine Republik bleibt sowie ratifizierte internationale Verträge und rechtskräftige Urteile Geltung behalten.
Um zu verhindern, dass der Verfassungsprozess das Land lange lahmlegt, hat der Kongress einen sehr straffen Arbeitsplan aufgestellt: Die Verfassungsgebende Versammlung wird neun bzw. maximal zwölf Monate lang tagen dürfen. Da der neue Verfassungstext »auf dem weißen Blatt« – also ohne vorausgehende Verfassungsentwürfe oder konkrete, umfassende Verfassungsprojekte als Grundlage – entsteht, ist der Zeitdruck allerdings immens. Dies einmal mehr, als für die Annahme der Beschlüsse stets eine aufwendig zu beschaffende Zweidrittelmehrheit erforderlich ist.
Bis Chile eine neue Verfassung hat, werden nichtsdestotrotz noch gut zwei Jahre vergehen, da die Verfassungsgebende Versammlung ihre Arbeit laut Plan erst im Mai 2021 aufnimmt. So lange muss Chile aber weiterregiert werden. Präsident Sebastián Piñera, dessen Regierungskoalition in der Verfassungsfrage gespalten war, bemühte sich zuletzt um eine positive Leseart des Plebiszits im Sinne einer Stärkung der chilenischen Demokratie und versprach bedeutende politische Reformen unabhängig vom Verfassungsprojekt. Dennoch wird es eine große Herausforderung für seine Regierung sein, Erwartungsmanagement entlang des Verfassungsprozesses zu betreiben und Chile durch die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im November 2021 zu führen – während die Verfassungsgebende Versammlung noch tagt. Ein erneuter Ausbruch von Gewalt sollte unbedingt vermieden werden.
Der Verfassungsgebenden Versammlung wird ihrerseits die gewaltige Aufgabe zukommen, für die Inklusion zu sorgen, die die meisten Bürgerinnen und Bürger Chiles in zahlreichen Bereichen vermissen. Während dank des außerordentlichen Engagements der Frauenbewegung die Genderparität für die Verfassungsgebende Versammlung bereits festgeschrieben ist, wird im Kongress noch über die Beteiligung von Indigenen und unabhängigen Kandidatinnen und Kandidaten diskutiert. Neben der physischen Vertretung verschiedener Gesellschaftsgruppen (deskriptive Repräsentation) ist aber auch deren inhaltlicher Einfluss (substantive Repräsentation) im Gremium für eine gelingende Beteiligung unabdingbar. Hierfür ist es notwendig, dass die Verfassungsgebende Versammlung Mechanismen zur Kommunikation mit der Zivilgesellschaft etabliert; im Zuge der Proteste sind im letzten Jahr zahlreiche Dialogforen entstanden, die einen Beitrag zum Verfassungsprozess leisten möchten.
Viele der Vorzüge, die der chilenischen Demokratie in den letzten Dekaden aus guten Gründen zugeschrieben wurden, sind einem stark strukturierten Parteiensystem mit hoch institutionalisierten und an Konsens orientierten politischen Parteien zu verdanken. Dieses Modell begann zu versagen, als die Stabilität zur Starre wurde und sich die politischen und ökonomischen Eliten, unter anderem aufgrund von Oligarchisierungstendenzen und Korruption, zunehmend von der breiten Gesellschaft abkoppelten. Diese verlor die Geduld und äußerte ihren Unmut im letzten Jahr massiv auf den Straßen. Auch im verfassungsgebenden Prozess werden die politischen Parteien ausschlaggebend sein. Es ist zu hoffen, dass sie die dringende Notwendigkeit erkennen, sich neuen Akteuren, Anliegen und Anschauungen zu öffnen, damit sie zentrale Instanzen auch des künftigen politischen Systems Chiles bleiben können.
Diese Text ist auch bei euractiv.de erschienen.
Das südamerikanische Land sucht nach einem neuen Gesellschaftsvertrag
doi:10.18449/2020A23
Hegemonie, Konsens und Wettbewerb in fragilen Demokratien
doi:10.18449/2019A69