Die Klimapolitik in der Europäischen Union und in Deutschland hat sich mit der Verabschiedung von Netto-Null-Zielen deutlich verändert. Eine neue Entwicklung ist die Bedeutung von Carbon Management. Der Sammelbegriff umfasst neben der Abscheidung und Speicherung von CO2 (Carbon Capture and Storage, CCS) auch die CO2‑Abscheidung und Nutzung (Carbon Capture and Utilization, CCU) sowie die Entnahme von CO2 aus der Atmosphäre (Carbon Dioxide Removal, CDR). Es ist wichtig, Klarheit in Bezug auf die Abgrenzung dieser einzelnen Ansätze zu schaffen und ihr Verhältnis zu den sogenannten Restemissionen und schwer vermeidbaren Emissionen zu identifizieren. Dies ist insbesondere deshalb ratsam, weil davon das generelle Ambitionsniveau der Klimapolitik, die zukünftige Ausgestaltung der Politikdesigns sowie deren Verteilungswirkungen abhängen. Aktuelle Politik- und Gesetzgebungsprozesse sollten genutzt werden, um darauf hinzuwirken, dass Carbon Management den Ausstieg aus fossilen Energieträgern nicht verlangsamt. Die neuen Initiativen bieten die Gelegenheit, die Schnittstelle zwischen ambitioniertem Klimaschutz und Industriepolitik aktiv zu gestalten.
Mit dem Netto-Null-Ziel, das in Deutschland 2045 und auf EU-Ebene 2050 erreicht sein soll, ist neben der konventionellen Emissionsminderung eine neue Herausforderung sichtbar geworden: Es stellt sich zunehmend die Frage, wie mit den Emissionen umgegangen werden soll, die als schwer vermeidbar (hard-to-abate) gelten. Je näher die Zieljahre des europäischen und deutschen Klimaschutzgesetzes rücken, desto mehr Aufmerksamkeit richtet sich auf diejenigen Sektoren, in denen eine Umstellung auf erneuerbare Energieträger allein nicht ausreicht, um die Emissionen auf Null zu senken. Neben der Landwirtschaft und der Müllverbrennung werden hier insbesondere die Prozessemissionen der Zement- und Kalkproduktion als Beispiele angeführt.
Vor diesem Hintergrund ist Carbon Management in den Fokus der politischen Entscheidungsträger gerückt. Zwar steht die konkrete Gesetzgebung noch am Anfang, aber sowohl auf europäischer als auch auf deutscher Ebene wurden Prozesse zur Entwicklung von Strategien angestoßen, die Beleg für die Relevanz dieser neuen Carbon-Management-Ansätze sind und eine zukünftige Regulierung vorbereiten. Letztere steckt – auch im Rahmen der jüngst beschlossenen Fit-for-55-Reformen – noch in den Anfängen. Auf europäischer Ebene zeugen neue Initiativen der Europäischen Kommission wie der Net Zero Industry Act, die Zertifizierung von CO2-Entnahmen oder die Diskussionen über das 2040-Klimaziel von der Dynamik. In Deutschland sind es vor allem die angekündigte Novellierung des deutschen Klimaschutzgesetzes und die Erarbeitung von Strategien zum Carbon Management und zum Umgang mit unvermeidbaren Restemissionen, die das neue Engagement in dieser Sache verdeutlichen.
Begriffliche Klarheit: Differenzierung wagen
Bislang werden im Kontext von Carbon Management Begriffe sehr unterschiedlich verwendet. Klare Definitionen sind aber ein wichtiger Ausgangspunkt für zukünftige Regulierung. Unter Carbon Management werden in der Regel die folgenden drei Arten von Prozessketten zusammengefasst: CO2-Abscheidung, Transport und Speicherung (Carbon Capture and Storage, CCS), CO2-Abscheidung, Transport und anschließende Nutzung (Carbon Capture and Utilization, CCU) und CO2-Entnahme aus der Atmosphäre (Carbon Dioxide Removal, CDR).
Sammelbegriffe wie Carbon Management, die Gemeinsamkeiten betonen, sind politisch attraktiv. Sie erlauben es, komplexe Technologien einfach zu kommunizieren. Im konkreten Fall dient der Begriff auch dazu, das gerade in Deutschland lange umstrittene CCS in ein neues Narrativ einzubinden. Darüber hinaus bietet er die Möglichkeit, Interessenkonflikte zwischen politischen Akteuren und Branchen, die im Hinblick auf CCS, CCU oder CDR unterschiedliche Schwerpunkte setzen, zunächst offen zu halten. Um die klimapolitischen Chancen und Risiken des Carbon Management zu identifizieren, müssen dessen drei Bestandteile und ihre jeweilige klimapolitische Funktion aber differenziert werden.
Unterirdische Speicherung: CCS
CCS umfasst Prozessketten, bei denen CO2 abgetrennt und verdichtet wird, um es anschließend zu Lagerstätten zu transportieren und unterirdisch zu speichern. CCS kann auf verschiedene Weise eingesetzt werden: In Kombination mit fossilen Energieträgern (z. B. Erdgaskraftwerke oder bei der Erzeugung von blauem Wasserstoff), zur weitgehenden Vermeidung industrieller Prozessemissionen (z. B. von Energiezufuhr unabhängige Emissionen in der Zement- oder Kalkproduktion) oder zur CO2-Entnahme durch Speicherung von CO2 aus biogenen Quellen (z. B. Bioenergie plus CCS, BECCS) oder Abscheidung aus der Umgebungsluft (Direct Air Capture plus CCS, DACCS). Die klimapolitische Funktion von CCS hängt entscheidend von der Art der CO2-Quelle ab. Zentrale Kriterien sind darüber hinaus die realisierten Abscheideraten und weitere Emissionen der jeweiligen Prozesskette. Der Reifegrad der einzelnen CCS-Prozesse ist sehr unterschiedlich, auch die Kosten variieren je nach Anwendung stark. Derzeit wird zumeist eine Spanne von 50 bis 150 Euro pro Tonne für Abscheidung an Punktquellen, Transport, Speicherung und anschließendes Monitoring angegeben.
Die Differenzierung nach unterschiedlichen CO2-Quellen und Anwendungsfeldern geht in der Diskussion häufig verloren. Ob und für welche Prozesse CCS in Frage kommt, ist sowohl in Europa als auch in Deutschland eine politisch weitgehend ungeklärte Frage. Vor allem in Deutschland ist die Anwendung im Rahmen der fossilen Stromerzeugung politisch stark umstritten. Die Debatte über Kohlekraftwerke mit CCS hat Ende der 2000er Jahre zu einer erheblichen Polarisierung des Themas geführt. In anderen EU-Mitgliedstaaten, zum Beispiel Polen und Ungarn, wird diese Option offener diskutiert. Außerhalb Europas ist die Kombination von fossilen Infrastrukturen mit CCS ein fester Bestandteil des Diskurses – in China und Indien beispielsweise, Ländern mit deutlich jüngeren Kohlekraftwerken, wird die Nachrüstung von CCS-Technologie als Option diskutiert, um das Risiko von stranded assets als Folge einer ehrgeizigen Klimapolitik zu minimieren.
Sowohl die EU-weite als auch die deutsche Modellierung gehen bis 2030 für CCS in Verbindung mit unterschiedlichen CO2-Quellen von einem geringen Einsatz aus. Allerdings wird mit einem Einsatz von 550 Millionen Tonnen (Mt) CO2 bis 2050 in der EU, und 34–73 Mt CO2 in Deutschland bis 2045 gerechnet. In welchem Umfang und für welche Anwendungen CCS in Deutschland und Europa als legitimer Bestandteil der Klimapolitik angesehen wird, dürfte eine der umstrittenen Debatten an der Schnittstelle von Klima- und Industriepolitik werden. Neben den aufwendigen Speicherinfrastrukturen – die wegen der großen Potentiale zunächst vor allem in Nordwesteuropa erschlossen werden –, spielt auch die Anbindung an CO2-Transportinfrastrukturen eine wichtige Rolle. Nicht alle potentiellen CCS-Anwender sind in den großen industriellen Clustern verortet (z. B. Kalk- und Zementwerke in Deutschland); der finanzielle und infrastrukturelle Aufwand für den Transport des CO2 per Pipeline, Schiff oder LKW wäre hier deutlich höher.
Kohlenstoff als Ressource
Zweitens umfasst der Begriff Carbon Management die Abscheidung, den Transport und die anschließende Nutzung von Kohlenstoff (Carbon Capture and Utilization, CCU). Im Gegensatz zu CCS wird CO2 hier nicht in geologischen Formationen gespeichert, sondern in Produkten verwertet. Die klimapolitische Funktion hängt neben der Herkunft des CO2 und der Prozesskette maßgeblich von der Lebensdauer des Produkts ab. Der Einsatz als Ressource ist einerseits physikalisch in Form einer direkten Nutzung möglich, zum Beispiel in Nahrungsmitteln, Getränken oder Lösungsmitteln. Zum anderen kann CO2 chemisch oder biologisch umgewandelt und unter anderem zur Herstellung von Chemikalien, synthetischen Kraftstoffen, Baustoffen oder Düngemitteln verwendet werden.
Bei CCU ergeben sich große Herausforderungen, was die klimapolitische Bilanzierung betrifft – insbesondere in Bezug auf die Dauerhaftigkeit der Speicherung gibt es je nach Produkt und Lebenszyklus Probleme bei der Anrechnung. Bei den meisten CCU-Prozessketten handelt es sich lediglich um eine Verzögerung der Emission, die zwischen Tagen und Wochen (z. B. synthetische Kraftstoffe) und mehreren Jahrzehnten (z. B. Baustoffe wie Carbonfaser und Holz) liegen kann. Politisch forciert wird das Thema CCU vor allem von der chemischen Industrie, die auch im und nach dem Netto-Null-Jahr noch CO2 als Grundstoff benötigt. Würde man das CO2 aus dezentralen Punktquellen wie Zement- und Kalkwerken sowie Müllverbrennungsanlagen nutzen, müssten Investitionen in die CO2-Transportinfrastruktur getätigt werden. Selbst bei weitgehender Umnutzung des bestehenden Erdgasnetzes wären Pipeline-Neubauprojekte nötig.
CO2 aus der Atmosphäre entnehmen
Drittens werden unter dem Begriff Carbon Management auch Methoden der CO2-Entnahme (Carbon Dioxide Removal, CDR) zusammengefasst. Im Unterschied zu denjenigen CCS- und CCU-Anlagen, die mit CO2 aus fossilen Quellen »arbeiten«, weisen CDR-Prozessketten netto-negative Emissionsbilanzen auf. Erreicht werden diese dadurch, dass das CO2 entweder aus biogenen Quellen oder der Umgebungsluft stammt. Das CO2 kann in geologischen Speicherstandorten, in terrestrischen oder ozeanischen Reservoirs oder in langlebigen Produkten gespeichert werden – CCU und CCS können also Bestandteil von CDR-Prozessketten sein.
Klar ist, dass der Einsatz von CDR-Methoden mittelfristig notwendig sein wird, um Netto-Null-Ziele zu erreichen. Szenarien des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) gehen von netto-negativen CO2-Emissionen in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts aus, um das Temperaturziel des Pariser Klimaabkommens einzuhalten. Viele klimapolitische Strategiedokumente auf europäischer und deutscher Ebene zeigen, dass auf dem Weg zu Netto-Null-Emissionen sowohl CO2-Entnahmen in den Sektoren Landnutzung, Landnutzungsänderung und Forstwirtschaft (LULUCF), wie zum Beispiel durch Wiederaufforstung, als auch CCS-basierte Entnahmemethoden wie BECCS und DACCS zum Einsatz kommen müssen. Auch marine Entnahmemethoden finden in jüngster Zeit vermehrt Beachtung (SWP-Aktuell 20/2023). In politischen Debatten werden unter dem Sammelbegriff Carbon Management für gewöhnlich lediglich CCS-basierte CDR-Methoden gefasst; LULUCF-basierte CDR-Methoden firmieren auf EU‑Ebene unter »Carbon Farming« und in Deutschland als Bestandteil von »Natürlichem Klimaschutz«.
LULUCF-basierte Methoden sind schon jetzt eine Komponente der Klimapolitik. Das EU-Klimagesetz erlaubt bereits die Anrechnung von 225 Mt netto CO2-Entnahmen aus dem LULUCF-Sektor, um das 55-Prozent-Ziel zu erreichen. CCS-basierte Methoden (z. B. BECCS, DACCS) hingegen sind bislang nicht in die deutsche oder europäische Klimapolitik integriert. Im Fit-for-55-Paket wurde diese Diskussion weitgehend ausgeklammert. Dass diese Integration eine der anstehenden klimapolitischen Aufgaben ist, ergibt sich aus allen großen Modellierungsstudien zum Erreichen von Netto-Treibhausgasneutralität und wurde inzwischen sowohl von Entscheidungsträgern in Brüssel als auch von der Bundesregierung klar benannt (SWP-Aktuell 37/2022).
Die zentrale politische Herausforderung besteht darin, die Rolle der CO2-Entnahme in der Klimapolitik zu klären. Kritische Stimmen aus der Zivilgesellschaft und der Wissenschaft befürchten, dass der Ausbau der Entnahmekapazitäten zu einer Verrechnung mit fossilen Emissionen führen könnte. Befürworter verweisen hingegen auf die zu erwartenden Restemissionen, die nicht oder nur zu sehr hohen Kosten vermieden werden können, und sehen das Erreichen der Netto-Null-Ziele in Gefahr, wenn nicht ausreichend CO2-Entnahmekapazitäten aufgebaut werden.
Streitthema Restemissionen
Mit der fortschreitenden Operationalisierung der Netto-Null-Ziele in konkrete politische Maßnahmen werden die sogenannten Restemissionen zu einem Hauptgegenstand der klimapolitischen und ‑wissenschaftlichen Debatte. Obwohl der Begriff mittlerweile in den meisten Positionspapieren relevanter Stakeholder auftaucht und auch Eingang in den Koalitionsvertrag und die EU-Gesetzgebungsprozesse gefunden hat, bleibt häufig unklar, was einzelne Akteure darunter verstehen. Bisher haben sich weder einheitliche Verwendungen noch einvernehmliche Definitionen zentraler Begriffe (darunter Restemissionen, Residualemissionen, Prozessemissionen, schwer/ nicht vermeidbare Emissionen) etabliert.
Problematisch ist das insbesondere deshalb, weil die konkrete Definition und Größe der erwartbaren Restemissionen erhebliche Auswirkungen auf die klimapolitische Ambition, auf Politikdesigns und auf mögliche Verteilungswirkungen zwischen Sektoren hat. Um Unklarheiten in der politischen Debatte, in den anlaufenden Strategieprozessen und bei zukünftigen Regulierungsinitiativen vorzubeugen, schlagen wir folgende begriffliche Unterscheidung vor (siehe Grafik 1).
Wir definieren Restemissionen als eine Größe, die lediglich beschreibt, welche Emissionen im und nach dem Netto-Null-Jahr tatsächlich in die Atmosphäre gelangen. Davon unterscheiden wir die schwer vermeidbaren Emissionen, die von unterschiedlichen Akteuren aus je eigenen Motivlagen und mit verschiedenen Begründungen als solche eingestuft werden. Die Gründe, Emissionen als schwer vermeidbar zu beschreiben, sind vielfältig. In der politischen Debatte werden folgende drei Begründungslogiken variantenreich miteinander kombiniert: erstens, biologische oder chemische Charakteristika bestimmter Prozesse (z. B. Methanemissionen aus der Tierhaltung oder CO2-Emissionen beim Brennen von Zementklinker); zweitens, politisch und ökonomisch schwer vermeidbare Emissionen (z. B. im Zusammenhang mit Risiken der Deindustrialisierung und von Carbon Leakage oder strategische Infrastrukturen in der Energie-, Nahrungsmittel- und Gesundheitsversorgung und im Militärbereich); drittens, technische Gegebenheiten und unzureichender technologischer Fortschritt. Hier wird zum Beispiel auf Emissionen aus dem Flug- und Schiffsverkehr oder auf begrenzte Abscheidungsraten beim Einsatz von CCS und CCU verwiesen.
Die Unterscheidung zwischen den tatsächlich ausgestoßenen Restemissionen und solchen Emissionen, die als schwer vermeidbar charakterisiert werden, ist eine wichtige begrifflich-analytische Klärung. Sie ermöglicht es, die emittierten Emissionen und vorgelagerten politischen Auseinandersetzungen über schwer vermeidbare Emissionen getrennt voneinander zu adressieren.
Darüber hinaus macht die Herausarbeitung der Begründungslogiken sichtbar, dass Emissionen, die beispielsweise in klimaökonomischen Modellen oder anderen techno-ökonomischen Analysen als vergleichsweise leicht vermeidbar gelten, wegen der außerordentlichen Beharrungskraft oder der Sonderstellung einzelner Sektoren in der politischen Praxis durchaus schwer vermeidbar sein können. Schließlich wird durch die Unterscheidung von Rest- und schwer vermeidbaren Emissionen deutlich, dass der Konflikt über Letztere politischer Natur ist und nicht durch eine eindeutige Definition beigelegt werden kann. Begriffliche Klarheit und klare Differenzierungen sind wichtig, sie sollten aber keine unbegründeten Hoffnungen in die Lösung dieser Konflikte schüren. Denn die politischen Auseinandersetzungen darüber, was im Netto-Null-Jahr als »legitime« Restemission gilt, werden sich in den kommenden Jahren weiter verschärfen.
Drei Funktionen für Carbon Management
Um Unklarheiten in der politischen Debatte und zukünftiger Regulierung zu vermeiden, gilt es auch die verschiedenen klimapolitischen Funktionen von Carbon Management im Verhältnis zu schwer vermeidbaren Emissionen und Restemissionen auseinanderzuhalten. Lässt man Überlappungen der Prozessketten im Detail der Anwendungen vorerst unberücksichtigt, hat Carbon Management in der Klimapolitik auf dem Weg zu Netto-Null-Emissionen drei Aufgaben (siehe Grafik 1):
CCS bietet die Möglichkeit, schwer vermeidbare Emissionen zu reduzieren. Wird CCS beispielsweise in der Zement- und Kalkproduktion eingesetzt – dem prominentesten Beispiel für nicht energiebedingte Prozessemissionen – kann das Verfahren eingesetzt werden, um die schwer vermeidbaren Emissionen zu reduzieren. Die Nutzung von CO2 in CCU-Prozessketten indes kann – je nach Lebenszyklus des Produkts – den Ausstoß in die Zukunft verlagern und zusätzlich zu möglichen Substitutionseffekten damit zumindest vorübergehend zum Erreichen des Netto-Null-Ziels beitragen. Alle Emissionen, die weder durch CCS reduziert noch durch CCU verzögert werden oder in deren Prozessketten anfallen, müssen durch CO2-Entnahmen ausgeglichen werden. Erst diese dritte Funktion von Carbon-Management-Ansätzen ermöglicht es, das Netto-Null-Ziel einzuhalten. Damit wird deutlich, dass das gesamte Portfolio an Carbon-Management-Verfahren ein wichtiger Baustein zum Erreichen der Klimaziele ist. Gleichzeitig zeigt sich die Wichtigkeit, Carbon-Management-Politik im Kontext der klimapolitischen Funktion zu denken.
Die drei Funktionen – Reduktion und Verzögerung von schwer vermeidbaren Emissionen sowie Ausgleich von Restemissionen – sind jeweils mit unterschiedlichen politischen und wirtschaftlichen Interessen, Akteursallianzen und regulatorischen Herausforderungen verknüpft. Wird der klimapolitische Zusammenhang zwischen den drei Ebenen (schwer vermeidbare Treibhausgasemissionen, Carbon Management, Restemissionen) in Zukunft nicht explizit gemacht, werden sich Carbon-Management-Initiativen verstärkt der Kritik ausgesetzt sehen, Ausdruck einer Verzögerungstaktik zu sein, die einen ambitionierten Klimaschutz unterläuft. In welchem Umfang die einzelnen Ansätze zum Erreichen der Klimaziele im Netto-Null-Jahr und darüber hinaus eingesetzt werden müssen, wird wesentlich davon bestimmt werden, wie erfolgreich konventionelle Emissionsminderungen in den nächsten zwanzig Jahren ausfallen. In welchem Maße Carbon Management bis dahin einsatzbereit sein wird, hängt vor allem davon ab, wie die Regulierung und Integration in bestehende klimapolitische Instrumente voranschreitet und wer – welche EU-Mitgliedstaaten, Sektoren, Unternehmen – in den Aufbau der erforderlichen Abscheidungs-, Transport- und Speicherkapazitäten investiert.
Chancen und Risiken für ambitionierten Klimaschutz
Im Rahmen der aktuell zahlreichen Prozesse zur Entwicklung von Carbon-Management-Strategien und zukünftiger Gesetzgebungsverfahren ergeben sich Chancen und Risiken für einen ambitionierten Klimaschutz.
Die Chancen liegen vor allem darin, dass sich Carbon Management als wichtiger Ansatz zur Gestaltung der Schnittstelle zwischen Industrie- und Klimapolitik etablieren kann. Verschiedene, teilweise konkurrierende Politikziele wie Emissionsreduktion, Umweltschutz, Energieversorgungssicherheit, Standortsicherung, Wirtschaftswachstum und resiliente Lieferketten könnten hier gleichzeitig verhandelt werden. Carbon-Management-Politik wird damit zu einer wichtigen Plattform für die Austragung politischer Spannungen und aufkommender Verteilungskonflikte, aber auch für Synergien. In ähnlicher Form gilt das auch für die Schnittstelle zwischen Agrar- und Klimapolitik, die im Zuge der Debatte um Restemissionen immer wichtiger und umkämpfter werden wird (SWP-Aktuell 37/2022).
Darüber hinaus ist die aktive Auseinandersetzung mit dem Thema der erste Schritt für neue internationale Kooperationen. Neben der Technologieentwicklung und möglichen neuen Absatzmärkten ergibt sich mit einer aktiven Carbon-Management-Politik auch die Chance, Maßstäbe und Standards in diesem Bereich mitzugestalten – zum Beispiel durch die Zertifizierung von CO2-Entnahmen oder durch CO2-Injektionskapazitätsziele im Net Zero Industry Act auf EU-Ebene. Des Weiteren bieten multilaterale Verhandlungen, zum Beispiel im Rahmen des Artikels 6 zur internationalen Zusammenarbeit im Paris Agreement, oder die G7- und G20-Formate Foren für eine verstärkte Zusammenarbeit. Internationale Kooperation ist vor allem auch deshalb eine relevante Dimension, weil in Ländern mit großen und zum Teil weiterwachsenden Kohlekraftwerksflotten bzw. hohen Exporten fossiler Energieträger CCS und CCU hauptsächlich als Option zur Absicherung fossiler Geschäftsmodelle diskutiert wird.
Gleichzeitig bergen alle drei Elemente des Carbon Management potentiell das Risiko, dass es zu »Lock-ins« in fossile Infrastrukturen (z. B. Weiternutzung von Erdgas oder blauem Wasserstoff) kommt und der Druck auf die Abkehr von fossilen Energieträgern nachlässt. Konkret steht die Klimapolitik bei steigenden CO2-Preisen vor der Herausforderung, dass bei Prozessen, die sich dazu eignen, CCS- bzw. CCU-Ansätze eingeführt werden, statt das Ziel konventioneller Emissionsminderungen zu verfolgen. Ähnliches gilt für die CO2-Entnahme: Die Aussicht auf die Möglichkeit, Restemissionen in Zukunft durch CO2-Entnahme auszugleichen, kann dazu führen, dass die Ambition, Emissionen zu reduzieren, sinkt. Die Priorisierung der Emissionsreduktion wird zwar in den einschlägigen europäischen und deutschen Strategiepapieren immer wieder deklariert und ist Kernbestandteil der politischen Debatte. Wie diese Priorisierung sich in der konkreten Gesetzgebung langfristig niederschlagen soll, ist jedoch vielfach noch unklar.
Parallel besteht allerdings auch das Risiko, dass Carbon-Management-Ansätze aufgrund politischer Zurückhaltung nicht schnell genug hochskaliert werden und zu früh an die Grenze des politisch Machbaren stoßen. Ohne die Erschließung entsprechender Kapazitäten sind Netto-Null-Ziele aber nach heutigem Kenntnisstand selbst bei ambitionierten Emissionsminderungen nicht erreichbar. Globale und europäische Auswertungen der bisher realisierten CCS-Kapazitäten und der notwendigen Wachstumsraten weisen auf eine große Lücke hin. Ein ähnliches Bild ergibt sich hinsichtlich der Methoden der CO2-Entnahme. Obwohl im Bereich der Forstwirtschaft bereits Entnahmen erreicht werden, gibt es bislang weder die regulatorischen Voraussetzungen noch die Grundlagen für Innovationen in diesem Bereich oder die Umsetzung von großskaligen CDR-Projekten.
Eine Realisierung dieser beiden Risiken (nachlassende Ambitionen bei der Emissionsminderung und zu optimistische Hoffnungen auf eine Skalierung des Carbon Management) hätte das Potential, das Erreichen der Klimaziele erheblich zu gefährden.
Carbon Management um »Lock‑Ins« aufzubrechen
In dieser Gemengelage bieten die aufkommenden Debatten über Carbon Management ein Gelegenheitsfenster, um bisherige »Lock-ins« aufzubrechen. Bei klarer Unterscheidung der Begrifflichkeiten und der klimapolitischen Funktion der einzelnen Ansätze ermöglichen die Carbon-Management-Initiativen eine Diskussion darüber, wie weit Emissionen im Netto-Null-Jahr reduziert sein müssen und welche Abscheidungs-, Speicherungs- und Entnahmekapazitäten bis dahin benötigt werden. Diese politisch unbequeme Debatte sollte sowohl auf deutscher als auch auf europäischer Ebene geführt werden. Denn je größer die Menge an Restemissionen im und nach dem Netto-Null-Jahr ist, desto mehr Entnahmekapazitäten werden benötigt und desto schwieriger wird es, die bereits im deutschen und europäischen Klimaschutzgesetz verankerten Ziele netto-negativer Emissionen einzuhalten.
Dazu sollten erstens die anlaufenden Strategie- und Positionierungsprozesse in Berlin und Brüssel – sowohl in der Administration als auch in Verbänden, Nichtregierungsorganisationen und Unternehmen – an der begrifflichen Klarheit arbeiten. Über welche der drei Facetten des Carbon Management wird konkret gesprochen und welche CO2-Quelle (fossil, biogen oder direkt aus der Umgebungsluft) ist gemeint? Darüber hinaus ist es von zentraler Bedeutung zu klären, zu welchem Zweck sie eingesetzt werden sollen: zur Reduktion oder Verzögerung von schwer vermeidbaren Emissionen oder zum Ausgleich von Restemissionen? Die bisherigen konflikthaften Debatten über CCS haben gezeigt, dass von der angestrebten klimapolitischen Funktion nicht nur regulatorische Details abhängen, sondern auch die politische Durchsetzbarkeit und gesellschaftliche Akzeptanz.
Zweitens wird eine Plattform benötigt, die mittelfristig eine Taxonomie für die Anwendungsfelder von Carbon Management entwickelt. Wir stehen erst am Anfang einer kontroversen Diskussion darüber, was als »legitimer« Einsatz von Carbon Management gilt. Die frühzeitige Entwicklung eines Governance-Mechanismus, der das Portfolio von Ansätzen nicht als Selbstzweck administriert, sondern in den Kontext von schwer vermeidbaren und Restemissionen einbettet, kann dazu beitragen, dass eine polarisierte Debatte über notwendige Abscheidungs-, Transport- und Speicherinfrastrukturen vermieden wird. Darüber hinaus böte eine solche Plattform die Möglichkeit, frühzeitig Governance-Strukturen für Netto-Negativ-Treibhausgasemissionen nach 2050 zu initiieren. Schließlich muss es auch über das Netto-Null-Jahr hinaus Anreize zur weiteren Reduktion von Restemissionen und zum Ausbau von Entnahmekapazitäten geben.
Drittens: Um das Netto-Null-Ziel zu erreichen, sind Carbon-Management-Ansätze notwendig. Diese sind aber kein Ersatz für drastische Emissionsreduktionen. Vielmehr stellen sie eine zusätzliche Herausforderung dar, um das Klimaziel zu erreichen. Nach diesem Kriterium der Zusätzlichkeit sollten sie in die deutsche und europäische Klimapolitik integriert werden. Dabei stehen harte Auseinandersetzungen darüber bevor, wie das Thema Restemissionen an den Schnittstellen der Klimapolitik zu anderen Politikfeldern wie der Industrie- und Agrarpolitik adressiert werden kann. Ein erster Schritt in diese Richtung ist die Etablierung von Zieldesigns, die auch in den Zwischenschritten bis 2045 bzw. 2050 sowohl explizite Ziele für Mindestreduktionen als auch für die Hochskalierung der CO2-Entnahme enthalten.
Die bevorstehende Diskussion über das EU-Klimaziel für 2040 und die angekündigte Novellierung des deutschen Klimaschutzgesetzes sind entscheidende Interventionspunkte für die grundsätzliche Ausrichtung der Carbon-Management-Politik. Dabei ist es wichtig, das Portfolio an Ansätzen nicht als Brückentechnologien zu etablieren, die den Ausstieg aus fossilen Energieträgern behindern. Eine ambitionierte Klimapolitik sollte Carbon Management strategisch einsetzen, um bestehende sektorale technische Lock-ins, politische Trägheiten und Pfadabhängigkeiten aufzubrechen und um an der Schnittstelle von Industrie- und Klimapolitik Innovationen anzustoßen, die helfen, die Restemissionen im Netto-Null-Jahr zu minimieren und auszugleichen.
Felix Schenuit ist Wissenschaftler im Projekt CDRSynTra. Dr. Miranda Böttcher ist Wissenschaftlerin im Projekt ASMASYS. Dr. Oliver Geden ist Leiter des SWP-Anteils dieser vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Verbundprojekte, Senior Fellow in der Forschungsgruppe EU / Europa und Leiter des Forschungsclusters Klimapolitik.
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DOI: 10.18449/2023A30