Zur Überwindung kollektiv erlebten Leids
SWP-Studie 2016/S 11, 10.06.2016, 30 Seiten ForschungsgebieteMenschliche Gemeinschaften bemühen sich in sehr unterschiedlicher Weise darum, die kollektive Erinnerung an Leid zu bewältigen, das ihnen von anderen zugefügt wurde oder das sie selbst anderen angetan haben. Die vorliegende Studie behandelt wesentliche Aspekte verschiedener Beispielfälle, in denen dieses Unterfangen gelungen oder gescheitert ist. Versucht wird, die jeweils wirksame Dynamik auf gesellschaftlicher wie politischer Ebene zu identifizieren und mit den Erfahrungen anderer Gemeinschaften zu vergleichen. Dabei gelangt die Studie zum Ergebnis, dass zivilisatorischer Fortschritt bei der Bewältigung kollektiv erlebten Leids von der Fähigkeit abhängt, einen gesellschaftlichen Konsens über Aussöhnung als Teil einer neuen kollektiven Erinnerungskonstellation zu entwickeln. Solch ein Konsens kann aus den Zukunftshoffnungen jener Generation erwachsen, die das Leid selbst erlebt hat und nicht wiederholt sehen möchte. Er kann sich aus neuen Narrativen ergeben, die unter veränderten politisch-sozialen Rahmenbedingungen entstehen. Er kann ebenso Ergebnis geschickter politischer Führung sein – mitunter zielt diese aber auch darauf, erlebtes Leid nicht zu bewältigen, sondern zu verschweigen.
Die Studie kommt überdies zum Schluss, dass praktische Politik sich der Erkenntnisse bedienen kann, die aus der Analyse erfolgreicher bzw. erfolgloser Aussöhnungsprozesse resultieren. Politisches Handeln kann dazu beitragen, dass einer Gesellschaft der Schritt gelingt, Konsens über die Notwendigkeit von Aussöhnung zwischen Opfern und Tätern herzustellen. Europa, mit seiner Geschichte erfolgreicher Aussöhnungsanstrengungen, und Deutschland, das im Zentrum der meisten dieser Bemühungen steht, tragen hier vielleicht sogar eine moralische Verantwortung. Äußerste Vorsicht ist allerdings geboten, wenn sich ein Staat in Fragen anderer Gesellschaften zu Wort meldet, die diese in der Tiefe ihrer Identität berühren.