Der indische Premierminister Modi versucht, sein Land als Vermittler im Ukrainekrieg zu positionieren. Im Hintergrund stehen aber vor allem Eigeninteressen, meinen Tobias Scholz und Christian Wagner.
Narendra Modis Kurzbesuch in Kyjiw am 23. August war die Fortsetzung eines Drahtseilaktes der indischen Politik im Ukraine-Krieg. Indien hat seine Beziehungen sowohl zu Russland als auch zu den westlichen Industriestaaten seit Februar 2022 ausgebaut und profitiert bislang von dieser Strategie. Es sieht gute Beziehungen zu Russland als Notwendigkeit an, um dessen Abhängigkeit gegenüber Neu-Delhis Erzrivalen China nicht zu stark werden zu lassen. Dem russischen Regime wiederum helfen die gestiegenen Ölexporte nach Indien, Sanktionen zu umgehen. Die westlichen Staaten versuchen ihrerseits, durch neue Initiativen im Rüstungs- und Technologiebereich Indiens Abhängigkeit von Russland zu verringern. Sie sehen in Indien einen unverzichtbaren Partner gegen die hegemonialen Ambitionen Chinas im Indo-Pazifik.
Vor diesem Hintergrund nutzte Premierminister Modi seinen Besuch in der Ukraine, um drei konkrete Interessen seines Landes zu verfolgen.
Erstens bekräftigte er mit dem Besuch in der Ukraine Indiens strategische Autonomie in der Außenpolitik. Wenn Modi formuliert, »auf der Seite des Friedens« zu stehen, hat dies innen- und außenpolitische Dimensionen.
Innenpolitisch stellt er sich gegenüber der Wählerschaft gerne als »Vishwa Guru«, als spiritueller Lehrmeister der Staatengemeinschaft, dar. Daran anknüpfend betont er somit Indiens Ehrgeiz, eine führende internationale Rolle einzunehmen. Außenpolitisch unterstreicht Modi damit seinen Anspruch auf Gleichrangigkeit mit China, das in den letzten Jahren erfolgreich als internationaler Schlichter fungierte. Die chinesische Regierung hatte 2023 ein Abkommen zwischen dem Iran und Saudi-Arabien vermittelt und engagiert sich verstärkt in der Konfliktschlichtung auf dem afrikanischen Kontinent. Indien ist zwar einer der größten Truppensteller für Friedenseinsätze der Vereinten Nationen, hat allerdings bislang kaum Anstrengungen zur Vermittlung in regionalen Konflikten unternommen – zum letzten Mal in den Bürgerkriegen in Sri Lanka in den 1980er und in Nepal in den 2000er Jahren.
Zweitens war Modis Kurzaufenthalt in der Ukraine auch ein Versuch der Schadensbegrenzung gegenüber der westlichen Staatengemeinschaft, mit der Modi bessere Beziehungen anstrebt. Sein Besuch in Moskau und seine Umarmung mit Präsident Putin im Juli hatten dem indischen Premierminister viel Kritik in westlichen Hauptstädten eingebracht. Der Aufenthalt in Moskau fiel nicht nur zusammen mit der Zerstörung eines Kinderkrankenhauses in der Ukraine, sondern auch mit dem NATO-Gipfel zum 75-jährigen Jubiläum des Bündnisses. Dabei ist für Indien die enge wirtschaftliche und technologische Zusammenarbeit mit dem Westen langfristig wichtiger als die Beziehungen zu Russland.
Drittens sollte Modis Besuch auch die durch den Krieg unterbrochene Rüstungskooperation mit der Ukraine wiederbeleben. Bereits vor der russischen Invasion war die Ukraine ein wichtiger Waffenlieferant für Indien. Die Zerstörung von ukrainischen Rüstungsfabriken führte unter anderem dazu, dass Indien kaum noch Ersatzteile für seine Antonov-Transportflugzeuge erhielt und Gasturbinen für die Marine fehlten. Die Antonov-Flugzeuge spielen eine wichtige Rolle bei der Versorgung indischer Truppen im Himalaya, an der Grenze zu China. Die fehlenden Gasturbinen beeinträchtigten den Ausbau der indischen Marine, die im Indischen Ozean der wachsenden chinesischen Präsenz begegnen soll.
Modis Versuch, Indien als Vermittler im Ukrainekonflikt zu positionieren, sollte daher nicht darüber hinwegtäuschen, dass er in erster Linie die Interessen seines eigenen Landes im Blick hat. Die Stimme Indiens mag in Moskau zwar gehört werden, doch verfügt Indien im Unterschied zu China kaum über realistische Einflussmöglichkeiten auf das russische Regime. Während Indien seine sicherheits- und handelspolitischen Interessen zielstrebig verfolgt, bleibt das Land in der Friedensdiplomatie eher ein zahnloser Tiger. Allerdings könnte die nun angestoßene Diskussion über eine Rolle als Vermittler dazu führen, dass westliche Staaten die Regierung in Neu-Delhi in dieser Frage künftig stärker in die Pflicht nehmen.