In Kasachstan nehmen anti-chinesische Einstellungen zu, jüngst kam es zu Protesten unter dem Slogan »Nein zur chinesischen Expansion«. Doch es geht nicht allein um die Angst vor der wirtschaftlichen Übermacht des Nachbarn. Andrea Schmitz über die Hintergründe.
Anfang September kam es in mehreren Städten Kasachstans zu Kundgebungen, die eine schon seit Längerem schwelende anti-chinesische Stimmungslage in Teilen der Bevölkerung offenbaren. Ausgelöst wurden die im Hinblick auf die Zahl der Teilnehmer unspektakulären, jedoch über mehrere Tage anhaltenden Proteste durch Gerüchte, dass China beabsichtige, Fabriken und chinesische Arbeitskräfte in die Provinz Mangystau im Westen des Landes zu transferieren. Dort befinden sich Kasachstans große Ölreserven, die mit Hilfe ausländischer Investoren, darunter auch der China National Petroleum Corporation (CNPC), gefördert werden. Namentlich in dieser Region wird seit Jahren gegen schlechte Arbeitsbedingungen, die Besserstellung ausländischer Fachkräfte gegenüber den Kasachen und für mehr Jobs protestiert; im Dezember 2011 waren dort bei der Niederschlagung von Massendemonstrationen durch die Polizei Dutzende zu Tode gekommen. Doch blieben die jüngsten Proteste nicht auf Westkasachstan beschränkt: Auch in anderen Landesteilen wandten sich Aktivisten gegen einen befürchteten Ausverkauf des Landes an China. Unter dem Slogan »Nein zur chinesischen Expansion« forderten sie die Regierung auf, die Beziehungen mit der Volksrepublik zu überdenken und gar den Staatsbesuch von Präsident Tokajew in Peking am 10. September abzusagen. Vertreter von Regierung und Behörden bemühten sich eilends, die Protestierenden darüber aufzuklären, dass es sich bei den vermeintlichen »chinesischen Fabriken« um kasachisch-chinesische Hightech-Unternehmen handele, die zur Modernisierung des Landes beitragen und insbesondere den Lebensstandard in den unterentwickelten Provinzen heben würden. Keineswegs würden ausschließlich chinesische Technologien und Materialien verwendet, zudem würden hauptsächliche lokale Arbeitskräfte eingestellt.
Tatsächlich sind die Investitionsprojekte, die solche Unruhe verursachen, Teil eines Pakets über insgesamt 55 Joint Ventures im Wert von rund 27 Milliarden US$, die unter dem Dach der sogenannten Seidenstraßeninitiative (Belt and Road) und ihres kasachischen Komplementärprojekts, der Konnektivitätsstrategie »Weg in die Zukunft« (Nurly Zhol) schon vor Längerem vereinbart worden waren. Kasachstan, in dessen Hauptstadt die chinesische Strategie zur Erschließung neuer Märkte 2013 offiziell vorgestellt worden war, ist dabei als Energielieferant und Transportkorridor von zentraler Bedeutung für China. Umgekehrt bietet sich mit Belt and Road für Kasachstan die Möglichkeit, mit Hilfe chinesischer Investitionen und Technologien die lange vernachlässigte Modernisierung der Wirtschaft voranzutreiben und zu einem der weltweit größten Warenumschlagplätze aufzusteigen. Zu diesem Zweck setzt man seit einiger Zeit verstärkt auf die Privatisierung von Staatsunternehmen. Anteile von Unternehmen des Bergbau- und Metallurgiesektors, der Öl- und Gasindustrie sowie von Unternehmen des Energie-, Transport- und Kommunikationswesens stehen zum Verkauf; durch Public Private Partnerships werden zudem Projekte im Wohnungsbau, den kommunalen Dienstleistungen sowie im Gesundheitswesen realisiert. Durch die großangelegte Privatisierung will man den staatlichen Anteil an der Gesamtwirtschaft bis 2021 auf 15 Prozent senken. Es liegt auf der Hand, dass diese Pläne ohne chinesisches Kapital nicht zu verwirklichen sind. Doch über die Bedingungen der Investitionen und die Modalitäten ihrer Allokation werden nur Informationen allgemeiner Art kommuniziert.
Dass die wachsende ökonomische Verflechtung mit China in Kasachstan Unbehagen bereitet, ist nicht nur eine Folge von Informationsdefiziten. Projekte, die unter dem Dach von Belt and Road in Entwicklungs- und Schwellenländern umgesetzt werden, sind oft an Bedingungen geknüpft, die der Bevölkerung keinen erkennbaren Nutzen bringen. In die Kritik geraten ist vor allem die Bevorzugung chinesischer Firmen und chinesischer Fach- und Arbeitskräfte in von China finanzierten Projekten, die auch in Kasachstan moniert wird; höchst umstritten ist nicht zuletzt die Implementierung von digitalen Überwachungssystemen aus China zur Kontrolle des öffentlichen Raumes, die offenbar zum Standard wird in Ländern, die sich ökonomisch eng an die Volksrepublik binden. Dazu zählen auch die zentralasiatischen Nachbarländer Kasachstans, von denen einige bei China hoch verschuldet sind.
Nicht nur die Angst vor der ökonomischen Dominanz des Nachbarn ist für anti-chinesische Einstellungen in Kasachstan verantwortlich. Chinas Politik gegenüber der muslimischen Bevölkerung in der an Kasachstan grenzenden Provinz Xinjiang ist seit Monaten Thema in der kasachischen Öffentlichkeit; auch bei den Protesten Anfang September wurde sie zur Sprache gebracht. In Kasachstan erregt die chinesische Religionspolitik besondere Abscheu, weil unter den hunderttausenden Muslimen, die seit 2017 in chinesischen Umerziehungslagern verschwanden – ein Bericht der Vereinten Nationen von 2018 nennt die Zahl von einer Million – rund zehntausend ethnische Kasachen sind, die Verwandte in Kasachstan haben. Von der kasachischen Regierung wird das Problem heruntergespielt und zu einer inneren Angelegenheit Chinas erklärt. Der Leiter einer NGO in Almaty, die die Angehörigen von Verschollenen bei der Suche nach Aufklärung unterstützt, wurde im März unter Hausarrest gestellt, Unterlagen und Dokumente verschwanden – und viele vermuten, dass dies auf Betreiben Chinas geschah. Sie fürchten eine zunehmende politische Abhängigkeit Kasachstans von Peking. Zwar wurde der Aktivist im August wieder auf freien Fuß gesetzt, erhielt allerdings für sieben Jahre Berufsverbot.
Der Verlust an politischer Autonomie, der mit der wachsenden ökonomischen Dependenz von China einherzugehen droht, ist eine Herausforderung, der sich die politische Führung Kasachstans stellen muss. Die Initiierung einer breiten gesellschaftlichen Debatte darüber böte Präsident Tokajew die Chance, aus dem Schatten seines politischen Ziehvaters herauszutreten und dem legitimen Bedürfnis nach Transparenz und Mitbestimmung, das sich in den Protesten artikuliert, entgegenzukommen.
doi:10.18449/2019S20
Nach dem Machtwechsel in Kasachstan stehen die Zeichen auf Kontinuität. Doch könnten sich künftig gesellschaftliche Stimmungen stärker Geltung verschaffen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass damit unruhigere Zeiten auf das Land zukommen. Eine Einordnung von Andrea Schmitz.
Chinas »Belt and Road«-Initiative als Anreiz für zwischenstaatliche Kooperation und Reformen an Zentralasiens Grenzen
Potentiale und Dynamiken