In der Weltpolitik breitet sich mit Blick auf China als zentrale Bedrohung für die westlich-liberale Weltordnung zunehmend ein Gefühl der Ausweglosigkeit aus. Dies prägt ein Debattenklima, das die Sicht auf alternative Schlussfolgerungen verstellt, meint Nadine Godehardt.
Die Weltpolitik befindet sich in einer Phase großer Veränderungen. Alte Machtstrukturen beherrschen noch den politischen Alltag, sind aber nicht mehr unangefochten. Neue Ideen einer postliberalen Ordnung sind am Horizont bereits sichtbar. Die Weltordnung steckt fest in einem Zustand des »Interregnum«. Dieser ist nach Antonio Gramsci geprägt davon, dass die großen Massen nicht mehr daran glauben, »woran sie zuvor glaubten«. Zweifel wachsen an dem Erfolg der Globalisierung, des liberalen Fortschritts sowie der These von Francis Fukuyama, dass Demokratie und Marktwirtschaft sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion endgültig und global durchsetzen würden.
Zwei Entwicklungen verstärken die zunehmende Orientierungslosigkeit in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft. Erstens ist der Globus, wie der Soziologe Bruno Latour es beschreibt, für die Globalisierungs- und Optimierungspläne der Moderne zu klein geworden. Klimawandel ist sichtbar und betrifft alle, und so werden dem liberalen Modernisierungsweg deutlich seine Grenzen aufgezeigt. Zweitens hat das westlich-liberale Fortschrittsnarrativ sein Momentum verloren. Spätestens seit der Finanzkrise 2008 hat das von den USA global gestützte Wirtschaftssystem Risse bekommen, beispielweise durch die wachsende soziale Ungleichheit, die Privatisierung der digitalen Märkte oder die zunehmende Polarisierung der politischen Welt. Mit den Worten des konservativen politischen Theoretikers Patrick J. Deneen ist der Liberalismus gescheitert, weil er zu erfolgreich war. Ebenso treffend resümieren die Politikwissenschaftler Helge Jordheim und Einar Wigen, dass die jahrhundertealte Selbstwahrnehmung Europas, und noch mehr der USA, als globaler Motor des politischen, sozio-kulturellen und wirtschaftlichen Fortschritts von den gegenwärtigen Erfahrungen der Krise, des Stillstands und einer Welt, die elementar aus dem Rhythmus kommt, abgelöst wird.
In der Auseinandersetzung mit Chinas Aufstieg werden diese Bedrohungen für die liberale Weltordnung besonders sichtbar. Aus Sicht der USA ist China unter der Führung von Xi Jinping die entscheidende Disruption, die es zu kontrollieren gilt. Beide Staaten bewegen sich demnach auf eine »neue Ära der Großmächtekonkurrenz« zu, denn auch Peking bleibt in seinen Positionen standhaft. Die chinesische Führung unterscheidet mittlerweile offen zwischen den institutionalisierten Formen der internationalen Ordnung, in denen sich China aktiv engagiert, und den zugrundeliegenden Werten der (aus chinesischer Warte) von den USA dominierten westlich-liberalen Weltordnung, die sie deutlich ablehnt. Diese Sichtweisen verstärken den Druck auf Politiker und Politikerinnen in den USA, möglichst schnell klare Verhältnisse zu schaffen. Daraus folgt entweder ein Hang zur Dystopie: Der Aufstieg Chinas besiegelt danach automatisch den Abstieg der USA und der westlichen Werte, weshalb es notwendig sei, Chinas Aufstieg mit allen Mitteln aufzuhalten. Oder es entwickelt sich eine Neigung zur Nostalgie: Das Selbstbewusstsein vergangener Zeiten soll wiederbelebt werden. Beide Sichtweisen münden in der postulierten Notwendigkeit, China in seine Schranken zu weisen. Dabei geht es um die Betonung der eigenen Stärke und noch prominenter um die Idee der Abkopplung von China ebenso wie um eine klare Freund-Feind-Unterscheidung. So wird ein Debattenklima der alternativlosen politischen Bekenntnisse begründet, das im Extremfall immer die reale Möglichkeit des gewaltsamen Konfliktes zwischen den USA und China mit einschließt.
Der Zustand des weltpolitischen Interregnums und das Gefühl der Ausweglosigkeit gerade mit Blick auf die wachsende Rivalität zwischen den beiden Großmächten versperrt die Sicht (und zunehmend auch die Lust) auf alternative Schlussfolgerungen. Doch wie könnte ein Ausweg aussehen? Zunächst ist zentral, dass die großen weltpolitischen Veränderungen nicht nur um uns herum passieren, sondern Deutschland und Europa selber Teil dieser Veränderungen sind. Zweitens wird sich China, allen voran die Kommunistische Partei Chinas, weder wirtschaftlich, politisch, sozial oder kulturell so entwickeln wie die USA (oder Europa) sich das wünschen. Die zentrale Frage lautet daher, ob Europa China dauerhaft als Teil der Weltordnung akzeptieren kann, ohne dass die chinesische Führung die westlichen Werte mitträgt. Beantworten wir diese Frage mit Ja, müssten europäische Akteure die Ambivalenzen, mit denen uns China konfrontiert, aushalten. Der Soziologe Andreas Reckwitz bezeichnet diese Fähigkeit als Ambiguitätstoleranz. Im Gegensatz zur US-Forderung nach Abkopplung ist das Aushalten von Ambiguitäten die vermeintlich schwerere Aufgabe; es setzt aber gleichsam einen Endpunkt unter die Bekenntnispolitik, die Diplomatie eher behindert als befördert. Letztlich geht es für Europa weniger darum, für oder gegen die USA respektive China zu sein, als mittelfristig neue, produktive Ordnungsstrukturen zu gestalten, in denen zentrale Elemente der europäischen Wertevorstellungen weiterhin integriert bleiben.
Dieses »Kurz gesagt« ist in gekürzter Fassung auch in der Printausgabe des Tagesspiegels erschienen.
Eine neue SWP-Studie befasst sich mit der Rivalität zwischen den USA und China. Im Interview spricht SWP-Direktor Volker Perthes, einer der Herausgeber, über die Dimensionen des Konfliktes, seine internationalen Auswirkungen und die richtige Strategie für Europa, damit umzugehen.
Worum es geht, was es für Europa (und andere) bedeutet
doi:10.18449/2020S01
doi:10.18449/2019S23
doi:10.18449/2019A27
Der Besuch Xi Jinpings in Italien und Frankreich zeigt, wie sehr sich die Interessen und Positionen gegenüber China in der EU unterscheiden. Frankreich, Deutschland und die EU müssen nun Überzeugungsarbeit für eine gemeinsame europäische Politik leisten, meint Gudrun Wacker.
Die digitale Geopolitik ist von zentraler Bedeutung für die EU-China-Beziehungen. Welche Konflikte könnten hier in den nächsten 15 Jahren vorherrschen? Annegret Bendiek, Nadine Godehardt, Jürgen Neyer und David Schulze stellen vier Szenarien vor.