Die Ratifizierung des EU-Konjunkturpakets zum Wiederaufbau nach der Pandemie hing in Finnland zeitweise am seidenen Faden. Dort macht sich Unzufriedenheit breit, dass die Belange der kleinen Länder zu wenig gehört werden. Ein Weckruf für die EU, meinen Minna Ålander und Paweł Tokarski.
Eine Entscheidung des Verfassungsausschusses des finnischen Parlamentes bereitete dieser Tage Kopfschmerzen: Mit einer knappen Mehrheit von neun zu acht Stimmen verfügten die Abgeordneten, dass das Parlament das große EU-Konjunkturpaket für den wirtschaftlichen und sozialen Wiederaufbau nach der Pandemie, Next Generation EU (NGEU), mit einer Zweidrittelmehrheit statt wie üblich mit einfacher Mehrheit ratifizieren muss. Damit ist die Regierung auf Stimmen der Opposition angewiesen. Mit dem Konjunkturpaket steht und fällt auch der mehrjährige Finanzrahmen der EU für die Jahre 2021-2027. Die finnische Regierung brachte das in eine schwierige Lage, und eine Zeit lang sah es so aus, als könnte die Ratifizierung scheitern. Dass sich die Situation in einem traditionell verlässlich pro-europäischen Land dermaßen zuspitzen konnte, ist ein Weckruf, grundsätzlicher über die Ursachen dieser Entwicklung und mögliche Folgen für die EU nachzudenken.
Der Verfassungsausschuss begründete sein Votum damit, dass das NGEU mit EU-eigener Schuldenaufnahme den Charakter der Union fundamental verändern und Finnland in einem nie dagewesenen Maße zwingen würde, Souveränität zu übertragen. In dem Beschluss kulminierte eine Debatte, die seit der Vorstellung der deutsch-französischen Initiative für einen Covid-Wiederaufbaufonds im Mai 2020 in Finnland kontrovers geführt wird. Ein zentrales Argument gegen das Konjunkturpaket stützt sich auf eine simple Rechnung: Finnland soll knapp drei Milliarden aus dem Fonds erhalten, aber bis zum Jahr 2058 über sechs Milliarden Euro einzahlen.
Eine zusätzliche Dramatik erhielt die Situation, als die Nationale Sammlungspartei (Kansallinen Kokoomus) ankündigte, sich in der am 12. Mai anstehenden Abstimmung zu enthalten. Obwohl die Partei eine der traditionell europafreundlichsten Parteien Finnlands und die einzige pro-europäische Oppositionspartei ist, könne sie das Paket als weiteren Schritt in Richtung Transferunion nicht unterstützen, so ihre Begründung. Sie bemängelte auch, dass das Paket für Finnland schlecht verhandelt worden sei. So habe die Regierung unter Premierministerin Sanna Marin die Änderungsvorschläge der Partei in den Verhandlungen ignoriert, darunter insbesondere die Forderung, den Anteil der nicht zurückzuzahlenden Zuschüsse im NGEU zu reduzieren. Auch habe sie sich nicht effektiv genug mit den sogenannten »frugalen Vier« – Dänemark, Niederlande, Österreich und Schweden – verbündet. Die Regierung hielt dagegen, dass Finnland im neuen langfristigen EU-Haushalt, über den am Mittwoch mitentschieden wird, insgesamt gut 500 Millionen Euro für Landwirtschaft und Regionalförderung für die dünn besiedelten Regionen Ostfinnlands bekommen hat. Das sei weit mehr, als Finnland mit den »frugalen Vier« an Beitragsrabatten hätte aushandeln können. Zudem lasse sich die Rolle Finnlands als Nettozahler in der EU nicht ändern.
Am vergangenen Freitag kam die Entwarnung: Weil sie sich nicht auf eine gemeinsame Haltung zum NGEU einigen konnte und aus Angst vor den Folgen für die EU hat die Nationale Sammlungspartei die Empfehlung zur Enthaltung zurückgezogen. Damit hat sich die Situation entschärft. Zwar haben einige Abgeordnete der Oppositionspartei – und selbst vereinzelte Vertreterinnen und Vertreter der regierenden Finnischen Zentrumspartei (Suomen Keskusta) – angekündigt, gegen das NGEU zu stimmen, doch die Zweidrittelmehrheit für die Ratifizierung gilt als sicher. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Kontroverse über die finnische EU-Politik beigelegt ist. So fordern Expertinnen und Experten in Finnland, dass grundsätzlich über die Zukunft der EU nachgedacht wird, anstatt immer wieder krisengetrieben neue Integrationsschritte zu improvisieren.
Zu Finnlands Staatsräson gehören ein sehr starkes Bekenntnis zur Rechtsstaatlichkeit und ein legalistisches Verständnis von internationalen Abkommen. Dies spiegelt sich auch in der Debatte über den Wiederaufbaufonds und seine Ratifizierung wider. Viele kritische Stimmen bewerten die enorme Schuldenaufnahme durch die EU auf der Grundlage des Art. 122 AEUV als Verstoß gegen die EU-Verträge bzw. im besten Fall als ihre sehr großzügige Interpretation. Entgegen den Empfehlungen von Expertinnen und Experten setzte sich diese Haltung im Verfassungsausschuss durch. Während die Bedenken an sich legitim sein mögen und die Rechtsgrundlage durchaus hinterfragt werden kann, haben unter anderem finnische Europaabgeordnete den Verfassungsausschuss scharf kritisiert: Er habe sich in die Vertragsinterpretation eingemischt, die in die alleinige Zuständigkeit des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) falle. Der finnische Präzedenzfall berge damit die Gefahr, dass die Interpretationshoheit des EuGH durch Eingriffe nationaler Institutionen unterminiert wird.
Die Diskussion um das NGEU in Finnland bringt auch die Ängste kleinerer EU-Staaten vor einer Dominanz des deutsch-französischen Tandems zum Ausdruck, die sich nach dem Brexit noch verstärkt haben. Die Länder fürchten, in eine tiefere politische und fiskalische Integration gezwungen zu werden, ohne dass eine angemessene Diskussion über den politischen und rechtlichen Rahmen stattfindet. Die EU und die Eurozone werden in den kommenden Jahren viele wichtige Themen angehen müssen, wie zum Beispiel fiskalische Regeln oder die Stabilisierung der übermäßigen Staatsverschuldung. Die soeben gestartete Zukunftskonferenz bietet eine Gelegenheit für Berlin, auf seine Partner in Helsinki zuzugehen und ihre Bedenken in die Debatte über die Zukunft der Union einzubringen. So könnte Deutschland, ein traditionell enger Verbündeter Finnlands in der EU, ein starkes Signal aussenden, dass die Anliegen der kleineren Mitgliedstaaten gehört und ernst genommen werden.
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