Der russische Angriff auf die Ukraine wird über den militärischen Konflikt hinaus schwerwiegende Folgen für die euro-atlantische Sicherheit haben. In einer ersten multiperspektivischen Lageanalyse nimmt die SWP eine Einordnung vor im Hinblick auf die russische Innenpolitik, die Situation in der Ukraine, westliche Sanktionen und die Antwort der Nato, Chinas Rolle und das Völkerrecht.
Mit der Entscheidung, offen und massiv die Ukraine anzugreifen, kulminiert der längerfristige Trend zur Militarisierung der russischen Außenpolitik. Neu ist, dass die Streitkräfte diesmal nicht begrenzt, sondern wesentlich umfassender eingesetzt werden und die russische Führung bereit ist, militärische Risiken einzugehen und Kosten in Kauf zu nehmen (z.B. Gefallene).
Dies verweist auf eine grundlegend veränderte Kosten-Nutzen-Kalkulation des Kremls. Ökonomische Verluste (Sanktionen) spielen dabei kaum mehr eine Rolle, handlungsleitend sind Belange nationaler Identität und außenpolitischer Machtprojektion. Das spiegelt sich in der pseudo-historischen Argumentation wider, mit der Putin der Ukraine das Existenzrecht als souveräner Staat abspricht, ebenso wie in den Maximalforderungen, die er an die Ukraine und die Nato stellt. Putins Aufruf zur »Demilitarisierung« der Ukraine zeigt, dass er eine bündnisfreie Ukraine nicht mehr als ausreichendes Ziel ansieht; stattdessen geht es ihm um die Schaffung eines Vasallen, der zur Selbstverteidigung nicht mehr fähig ist. Die Forderung nach einer »Entnazifizierung« der Ukraine belegt, dass der militärisch erzwungene Austausch der politischen Führung durch eine pro-russische Marionettenregierung integrales Teilziel der Militäroperation ist.
Unabhängig davon, welche Pläne Russlands Führung für die Zeit nach dem Einmarsch verfolgt (Vasallenstaat, Inkorporation in einen Unionsstaat mit Belarus, Teilung): Die Kontrolle über die Ukraine gilt als Voraussetzung dafür, eine Einflusszone im postsowjetischen Raum zu etablieren und mittelbar die euro-atlantische Sicherheitsordnung zu eigenen Gunsten neu zu gestalten. Die im Dezember 2021 den USA und der Nato vorgelegten Vertragsentwürfe zeigen, dass es Moskau im postsowjetischen Raum nicht um eine sicherheitspolitisch motivierte Pufferzone geht; als solche werden die Territorien der östlichen Nato-Mitglieder anvisiert, aus denen sich die Allianz militärisch zurückziehen soll.
Mit dem Einmarsch in die Ukraine sind Gespräche mit Russland über Fragen der euro-atlantischen Sicherheitsordnung vorerst obsolet. Nato und EU müssen sich auf weitere russische Provokationen und auf die Möglichkeit einer Eskalation über das Gebiet der Ukraine hinaus einstellen. So droht Putin implizit mit einer nuklearen Eskalation, sollten sich westliche Staaten in den Konflikt einmischen; auch Zusammenstöße auf See und in der Luft besitzen Eskalationspotential. Vor allem müssen sich EU- und Nato-Staaten bewusst werden, dass sie längst Teil russischer Kriegsführung sind: Im militärischen Denken Russlands werden moderne Kriege nicht mehr formal erklärt. Vielmehr stellen sie sich als Realität ein und werden auch mit nichtmilitärischen Mitteln geführt. Desinformation ist fester Bestandteil eines »mentalen Krieges«, in dem die Deutungshoheit über den Konflikt gewonnen werden soll. Parallel sind neben Cyberangriffen eine Ausweitung von Subversion und nachrichtendienstlichen Aktivitäten zu erwarten.
Moskaus Aggression gegen die Ukraine ist nicht innenpolitisch motiviert. Sie ist kein Versuch, den Mobilisierungseffekt der Krimannexion zu wiederholen. Vielmehr geht es darum, neo-imperialistische und revisionistische Ziele zu erreichen.
Aus der russischen Gesellschaft ist kurzfristig kein nennenswerter Widerstand zu erwarten. Der Staat hat mit seinen systematischen Repressionen zwei Ziele erreicht: er hat die wachsende protestwillige Minderheit im Land eingeschüchtert. Und er hat die Oppositionsstrukturen zerschlagen, die auf politischer Ebene und in der Zivilgesellschaft noch vorhanden waren. Größere Kundgebungen wie gegen die Annexion der Krim und den Krieg im Donbas 2014 und 2015 sind heute schwer vorstellbar. Die Ermordung von Boris Nemzow im Februar 2015, eines der Anführer der damaligen Proteste, wirkt im Rückblick wie ein düsteres Omen auf die jetzige Situation.
Andererseits wird dieser Krieg keine Mobilisierungswirkung entfalten. In der russischen Gesellschaft sind die Traumata aus zwei Tschetschenienkriegen, dem Afghanistankrieg und dem Zweiten Weltkrieg nach wie vor präsent. Insbesondere die Erinnerung an Letzteren ist systematisch in ein »defensives« Propagandanarrativ eingebaut worden, das auch jetzt gezielt eingesetzt wird. Ziel der russischen Spezialoperation, so Putin, sei die »Entnazifizierung« der Ukraine. Russland verteidige sich gegen eine vom Westen gesteuerte »faschistische Bande«. Ohne dieses Narrativ dürfte es schwierig werden, die russische Bevölkerung auf Dauer für den Feldzug einzunehmen. Sollte es in den nächsten Wochen zu größeren Verlusten der russischen Armee kommen, wird dies im Innern des Landes vertuscht werden – ähnlich wie die Zahl der Gefallenen im Donbas 2014 und 2015.
Repressionen werden weiter zunehmen. Das zeigt das harte Vorgehen gegen die wenigen Menschen, die am ersten Tag der Aggression in Moskau und anderen Städten auf die Straße gingen. Aber auch die strikte Zensur und Verfolgung unabhängiger Medien werden weiter zunehmen. Die landesweit ausgestrahlte Sitzung des Nationalen Sicherheitsrates zur Anerkennung der »Volksrepubliken« am 21. Februar war eine Demonstration der Allmacht Putins gegenüber den Führungsspitzen von Regierung, Parlament und Sicherheitsdiensten. Der russische Präsident hat die teilweise stark verunsichert wirkenden Mitglieder des Sicherheitsrats zugleich in kollektive Haftung für den Angriffskrieg genommen – ebenso wie den belarussischen Machthaber Lukaschenko, der endgültig nur mehr ein williges Instrument der russischen Politik ist.
Der Krieg gegen die Ukraine könnte mittelfristig durchaus destabilisierend auf die russische Autokratie wirken. Kurzfristig ist das jedoch kaum zu erwarten. Die Rede vom Anfang des Endes der Putinschen Herrschaft, die jetzt verschiedentlich zu hören ist, mag deshalb berechtigt sein. Die Ukraine, die gerade von russischen Panzern überrollt wird, rettet sie jedoch nicht.
Mit dem russischen Angriff auf die gesamte Ukraine ist das schlimmste denkbare Szenario in der aktuellen Russlandkrise Wirklichkeit geworden. Trotz der militärischen Übermacht Russlands ist gegenwärtig noch unklar, welchen Verlauf der Krieg in den nächsten Tagen nehmen wird. Angesichts des erbitterten ukrainischen Widerstands muss mit einer dramatischen Ausweitung der russischen Luftangriffe gerechnet werden, die zahlreiche zivile Opfer in der Ukraine fordern würde.
Bislang war die Strategie des Westens, in Abstufungen zu sanktionieren, um dem russischen Präsidenten Auswege aus der Eskalation zu lassen. Drei Argumente sprechen nun dafür, ohne Zeitverzug maximale Sanktionen einzuleiten. Erstens ist nicht ausgeschlossen, dass härteste Sanktionen den Ausgang des Krieges noch beeinflussen können. Zweitens hat der Westen mit der Sanktionsdrohung in den vergangenen Wochen seine ganze Glaubwürdigkeit in die Waagschale geworfen, um einen Krieg gegen die Ukraine zu verhindern. Bleibt es bei punktuellen Maßnahmen, ist nicht nur die Glaubwürdigkeit der Sanktionspolitik beschädigt, sondern auch diejenige jedweder kostspieligen Außenpolitik. Drittens ist der Krieg gegen die Ukraine ein Präzedenzfall, aus dem auch Peking eigene Lehren ziehen dürfte.
Bei den Sofortmaßnahmen ist entscheidend, dass ihre Wirkung unmittelbar eintritt. Das gilt vor allem für Finanzsanktionen. Die EU sollte gemeinsam mit den USA alle großen russischen Banken vom internationalen Zahlungsverkehr abschneiden. Auch wenn ein Ausschluss von SWIFT dem wenig hinzufügen würde, sollte dieser Schritt jetzt folgen, um Einigkeit im Westen herzustellen. Durch ein Einfrieren der russischen Zentralbankreserven, von denen knapp die Hälfte im Zugriff westlicher Jurisdiktionen liegt, lässt sich der finanzielle Spielraum des russischen Regimes einengen. Sofortige Wirkung kann auch das Abschalten von Software- und Online-Dienstleistungen für russische Staatsunternehmen entfalten.
Diese Sanktionen werden für den Westen kostspielig sein. Russland wird auf die Sanktionen reagieren, allerdings ist sein Repertoire eingeschränkter. Zudem sind bei den meisten Gegensanktionen die Kosten für Moskau mindestens ebenso so hoch wie jene für die westlichen Staaten. Beispielsweise könnte Russland den Export bestimmter Rohstoffe begrenzen. Für Deutschland wäre mittelfristig vor allem ein Stopp von Erdgas-Lieferungen problematisch. Ein europäischer Notfallplan für den Winter 2022/2023 ist insofern dringend erforderlich. In einem Extremszenario könnte Moskau zudem westliche Investoren in Russland enteignen. Der Bestand deutscher Direktinvestitionen in Russland beläuft sich derzeit auf rund 20 Milliarden US-Dollar. Allerdings sind auch russische Investoren international exponiert, weshalb eine solche Maßnahme für Moskau ebenfalls mit großen Risiken behaftet wäre.
Die ukrainische Führung hat bis zum Tag der russischen Invasion alles versucht, um Panik im Land zu vermeiden, Russland keinen Anlass für eine neuerliche Intervention zu geben und neue diplomatische Initiativen anzuknüpfen. Außerdem hat sich Präsident Selenskyj stark darum bemüht, die ökonomischen Folgen der Krise über Steuersenkungen und die Ausrufung eines »Ökonomischen Patriotismus« zu lindern.
Im politischen Spektrum der Ukraine ist eine neue Geschlossenheit zu beobachten, die angesichts der Bedrohung und des nun erfolgten Angriffs Russlands auch notwendig ist. Einen Schulterschluss vollzogen alle Parlamentsfraktionen, die eine »Koalition der Verteidigung« ankündigten, aber auch Selenksyj und sein Vorgänger Poroschenko. Es wird interessant sein, zu verfolgen, ob die wichtigsten Oligarchen der Ukraine, beispielsweise Rinat Achmetov und Igor Kolomoiskij, wie schon 2014 eine wichtige Rolle bei der Verteidigung des Landes spielen wollen und können. Pro-russische Kräfte in der Ukraine sind nun gezwungen, klar Position zu beziehen – es zeigt sich überdies, dass sie seit 2014 zu einem marginalen Faktor geworden sind.
Die Armee hegte bis zum Angriff die optimistische Hoffnung, dass Russland nur im Osten der Ukraine angreifen würde. Dies war eine Fehleinschätzung. Nun müssen sich die Streitkräfte, wie in Worst-Case-Szenarien befürchtet, einer Vollinvasion aus diversen Richtungen erwehren. Trotz der Aufrüstung der ukrainischen Armee, besserem Training und acht Jahren Kriegserfahrung steht zu befürchten, dass die Ukraine dem Druck der russischen Armee nicht lange standhalten kann.
So bleiben der ukrainischen Führung im Wesentlichen zwei realistische Optionen: die Niederlage durch das Zurückdrängen des Feindes um Tage hinauszuzögern und damit Russlands Kalkül eines schnellen Sieges zunichtezumachen. Dies würde der russischen Führung großen außen- und auch innenpolitischen Schaden zufügen und das russische Narrativ einer sehr kurzen »Spezialoperation« konterkarieren. Doch ist diese Option mit dem Risiko hoher Verluste und Zerstörungen in der Ukraine verbunden. Eine andere Möglichkeit wäre die Bitte an Moskau, schnell in Verhandlungen einzutreten, wobei auch hier anhaltender und vor allem erfolgreicher militärischer Widerstand der Schlüssel wäre, um Russland zumindest von Maximalforderungen wie einem Regierungswechsel oder der Stationierung russischer Truppen abzubringen.
Die Nato betont, dass sie in der Ukraine militärisch nicht eingreifen werde. Ihre Aufgabe sei der Schutz der Alliierten, ihre Abschreckungs- und Verteidigungsmaßnahmen seien defensiver Natur (»preventive, proportionate and non-escalatory«). Dabei ist ein Übergreifen der militärischen Handlungen auf das Bündnisgebiet durch unintendiertes oder geplantes russisches Vorgehen nicht auszuschließen.
Das Bündnis muss nun verstärkt über konventionelle, hybride und nukleare Szenarien nachdenken. Putins Verweise auf »Konsequenzen […], die Sie in Ihrer Geschichte noch nie erlebt haben«, können als nukleare Drohung verstanden werden. Implizit hat Russland dies bereits durch Übungen mit atomwaffenfähigen Raketen am 19. Februar unterstrichen.
Bereits über die letzten Wochen hat das Atlantische Bündnis die Alarmbereitschaft erhöht, die Überwachung im See- und Luftraum intensiviert, sich mit Prüfaufträgen auf weitere Szenarien vorbereitet und neue Planungen verabschiedet, etwa die Aufstellung neuer multinationaler Kampftruppen in Rumänien. Diese Maßnahmen wurden mit den Beschlüssen der Nato-Sondersitzung am 24. Februar 2022 verstärkt: Die Nato-Verteidigungspläne wurden aktiviert, zusätzliche Land-, See- und Luftkräfte entlang der östlichen Grenze des Bündnisgebietes in höhere Alarmbereitschaft versetzt, die Kommandolinien angepasst, so dass der Nato-Oberbefehlshaber in Europa (SACEUR) nun mehr Entscheidungsgewalt über die ihm unterstellten Truppen hat.
Weitere Maßnahmen sind geplant. Auf der nächsten Nato-Sondersitzung am 25. Februar 2022 könnte die Nato-Russland-Grundakte aufgehoben werden. Diese betont unter anderem Grundprinzipien wie territoriale Integrität, sieht aber auch den Verzicht auf die dauerhafte Stationierung substantieller Kampftruppen in den neuen Mitgliedstaaten vor. Neben der politischen Botschaft würde eine solche Aufkündigung der Nato die Möglichkeit bieten, größere Verbände in den Territorien der am meisten exponierten Alliierten zu stationieren: im Nordosten (Baltikum, Polen) und Südosten (Rumänien, Bulgarien).
Neben dem Management der akuten Krise stellt sich schon jetzt die langfristig zu beantwortende Frage, wie die Nato in einer zukünftig konfrontativen Sicherheitsordnung in Europa mit Russland umgehen wird und welche Anpassungen im politischen, wirtschaftlichen, aber auch verteidigungspolitischen Bereich notwendig sein werden. Die Ablösung einer kooperativ-integrativen Ordnung durch eine konfrontative Ordnung, in der Russland militärische Mittel zur Durchsetzung seiner Interessen einsetzt, erfordert einen stärkeren Fokus auf Abschreckung und auf Verteidigung der Alliierten. Dazu gehört zum Beispiel eine Anpassung der Verteidigungsplanung angesichts veränderter russischer Truppenstationierung und Intentionen, und dazu wiederum sind zusätzliche Beiträge der einzelnen Staaten nötig.
Die EU ist durch den russischen Angriff auf die Ukraine in ihren Grundfesten herausgefordert – als Friedensprojekt, als Verfechter einer multilateralen Weltordnung, in seiner Verantwortung für die Sicherheit seiner Mitglieder und in seiner Wirtschaftsordnung.
Als erste Reaktion hat die EU – in enger Abstimmung mit den USA, aber auch mit dem Ex-Mitglied Großbritannien – weitreichende Sanktionen gegen Russland erlassen. Die Union ist mit ihrem Binnenmarkt und als größter Handelspartner Russlands der zentrale Rahmen zur Durchsetzung dieser Sanktionen. Sie ist aber auch ein Vehikel, die Einigkeit des Westens aufrechtzuerhalten. So paradox es klingen mag: Die viel gescholtene Einstimmigkeitsregel hat die EU nicht daran gehindert, zweimal nacheinander innerhalb von weniger als 48 Stunden Sanktionen gegen Russland zu verhängen. Sie hat auch dazu geführt, dass sich selbst Staaten mit engen Beziehungen zu Russland wie Ungarn dem gemeinsamen Kurs angeschlossen haben. Viele mittel- und osteuropäische Staaten kritisieren aber auch Deutschland für seine Ablehnung von Sanktionen im Energiebereich oder dem Swift-Abkommen. Gleichsam wird die EU versuchen – so lange dies noch möglich ist –, die Ukraine wirtschaftlich zu unterstützen. Eine militärische Rolle wird die EU abgesehen von einer Unterstützung der Ukraine in der Cyberabwehr absehbar nicht spielen.
Eine zweite unmittelbare Herausforderung für die EU wird die Bewältigung der Sekundäreffekte des Krieges sein. Viele Menschen aus der Ukraine werden in der EU Schutz suchen. Gefordert sind schnelle humanitäre Hilfe, der Aufbau von Aufnahmekapazitäten und, mittelfristig, eine Regelung, wie diese Menschen innerhalb der EU verteilt werden können. Gleichzeitig muss sich die EU auf die Folgen vorbereiten, die der Krieg, aber auch die Sanktionspolitik für die eigene Wirtschaft haben wird. Die zu erwartenden massiven Auswirkungen auf die Gas- und Ölpreise werden der ohnehin hohen Inflation weiter Auftrieb geben – mit der Gefahr einer Destabilisierung der Eurozone. Falls es zu einer Beeinträchtigung der Energieversorgung kommt, sollten die EU-Staaten zusammenarbeiten, um möglichst mit ihrer gemeinsamen Marktmacht alternative Lieferungen sicherzustellen.
Mittel- bis langfristig gilt es, die Abhängigkeit von russischen Energieträgern und damit die Anfälligkeit massiv zu reduzieren. Dies stärkt langfristig die Green-Deal-Agenda, aber auch das Bemühen um alternative Importquellen. Auf der anderen Seite muss die EU die noch einmal gestiegene sicherheitspolitische Abhängigkeit von den USA mit einer deutlichen Stärkung europäischer militärischer Fähigkeiten abfedern. Hierfür braucht es die engstmögliche Koordination mit der Nato, aber auch Spielräume in den nationalen Haushalten, um notwendige Investitionen zu tätigen.
Laura von Daniels, Marco Overhaus, Johannes Thimm
Die USA stehen wieder im Zentrum europäischer Sicherheit – trotz der angestrebten Hinwendung nach Asien. Für sie und ihre Verbündeten muss sich nun zeigen, wie wirksam ihre wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Instrumente gegenüber Russland sind und wie groß der innenpolitische Rückhalt für deren Einsatz ist.
Wie angekündigt hat Präsident Biden nach der russischen Invasion in die Ukraine Finanz- und Wirtschaftssanktionen nochmals verschärft, eng abgestimmt mit der EU und den anderen G7-Staaten. Neue US-Sanktionen zielen auf weitere Personen aus Putins Führungskreis und große private Finanzinstitutionen, nachdem bereits staatliche Entwicklungsbanken sanktioniert worden sind und der Handel mit russischen Staatsanleihen auf Primär- und Sekundärmärkten blockiert wurde. Die Maßnahmen werden breiteren Teilen der russischen Bevölkerung die Kosten der Kriegshandlungen vor Augen führen. Besonders verheerende Folgen für die russische Wirtschaft werden langfristig Verbote von Technologie-Exporten haben. Kurzfristig sind jedoch weitere Maßnahmen erforderlich. Bisher wartet Biden aus Rücksicht auf Europa noch ab mit dem Ausschluss Russlands vom SWIFT-Abkommen. In den USA wächst jedoch der politische Druck, entsprechenden ukrainischen Forderungen nachzugeben.
Obwohl die Ukraine kein Nato-Mitglied ist, haben die USA seit 2014 erhebliches politisches und sicherheitspolitisches Kapital in das Land investiert, unter anderem durch Solidaritätsbekundungen und Waffenlieferungen. Sollte sich der Krieg in der Ukraine länger hinziehen oder in einer »zermürbenden Besatzung« (US-Präsident Biden) münden, stünde Washington vor der Frage, ob es seine bisherige militärische Unterstützung für die ukrainische Regierung aufrechterhalten soll. Dies könnte gegebenenfalls dazu dienen, Einfluss auf eine etwaige »Nachkriegsordnung« zu nehmen.
Washington hat in den letzten Wochen seine militärischen Beiträge zum Schutz der Nato bereits deutlich aufgestockt. Ein Risiko bleibt für die US-Regierung dabei, ob China die Spannungen in Osteuropa ausnutzt, um beispielsweise den Druck auf Taiwan zu verstärken.
Innenpolitisch hat die Biden-Regierung derzeit einigen Handlungsspielraum. Wichtige Stimmen beider Parteien drängen darauf, den Druck auf Russland noch weiter zu erhöhen, doch in der Krise liegt die Initiative beim Präsidenten. In der Minderheit sind populistisch-konservative Republikaner, die argumentieren, dass der Krieg in der Ukraine amerikanische Interessen nicht tangiere und die wirtschaftlichen Kosten nicht wert sei. Allerdings lehnt die US-Bevölkerung bislang mehrheitlich eine aktive Rolle der USA in der Ukraine ab. Höhere Energie- und Benzinpreise könnten dazu führen, dass die Kritik am amerikanischen Engagement zu einem Streitpunkt bei den Zwischenwahlen wird und die derzeitige Einigkeit erodiert.
Nadine Godehardt, Hanns Günther Hilpert
Wie China den russischen Angriff auf die Ukraine bewertet, ist derzeit nicht leicht einzuschätzen. Bislang gibt es keine klare Stellungnahme der chinesischen Staats- und Parteiführung, es wurden lediglich bekannte Positionen wiederholt: China nehme die Sicherheitsbedenken aller Länder – inklusive der Russlands – ernst; Amerika verhalte sich wie ein Kriegstreiber; die nationale Souveränität und territoriale Integrität aller Länder – inklusive der Ukraine – müsse gewahrt werden.
Ausdrücklich wird von offizieller Seite betont, dass die Ukraine nicht mit Taiwan zu vergleichen sei. Im Unterschied zur Ukraine, die als unabhängiger Staat angesehen wird, handele es sich bei Taiwan um einen historischen Teil Chinas. Dabei mag der russische Angriff auf die Ukraine für bestimmte Kräfte durchaus ein interessanter »Modellfall« für die chinesischen Taiwan-Aspirationen sein. Aber diese Stimmen sind in der Minderheit und repräsentieren nicht die offizielle Sichtweise Pekings. Um diese chinesische Minderheitsposition nicht unnötigerweise aufzuwerten, sollten es deutsche und europäische Stimmen darum auch möglichst vermeiden, eine inhaltlich-logische Verbindung zwischen der Ukraine und Taiwan zu konstruieren. Schon vor dem russischen Angriff hat die Sprecherin des chinesischen Außenministeriums Hua Chunying Chinas strikte Ablehnung internationaler Sanktionen gegen Russland formuliert. Offen ist zum jetzigen Zeitpunkt, inwiefern China Russland über bereits beschlossene Zusagen hinaus wirtschaftlich unterstützen wird. Eine zusätzliche Unterstützung Moskaus würde die EU-China-Beziehungen jedenfalls nachhaltig belasten.
Gegenwärtig scheint sich Peking auf dem Kurs eingerichtet zu haben, das Vorgehen Russlands zu akzeptieren und nicht zu verurteilen, gleichzeitig aber die Situation in der Ukraine sowie die Reaktionen der USA und Europas genauestens zu beobachten. Da der innere Führungszirkel der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) anscheinend noch keine eindeutige Leitlinie vorgegeben hat, ist dies ein günstiger Zeitpunkt für Deutschlands und Europas außenpolitische Akteure, den direkten Austausch mit Peking zu suchen. So könnte die deutsche Bundesregierung zum einen ihre Position zum russischen Angriff auf die Ukraine direkt vermitteln und Peking zum anderen dazu auffordern, sie in ihrer Haltung gegenüber Russland zu unterstützen. Deutschland sollte seine politische Hebelwirkung gegenüber China nicht unterschätzen, gerade auch vor dem Hintergrund der Entscheidung, das Genehmigungsverfahren für Nord Stream 2 vorerst zu stoppen. Diese Entscheidung dürfte in Peking überrascht haben.
Der bewaffnete Angriff Russlands auf die Ukraine stellt eine schwere Verletzung des völkerrechtlichen Gewaltverbots nach Artikel 2 Ziffer 4 der UN-Charta dar. Bereits mit der Anerkennung der selbsternannten »Volksrepubliken« Luhansk und Donezk hatte Russland gegen Völkerrecht verstoßen. Für die Führung in Moskau spielen völkerrechtliche Erwägungen als Entscheidungsmaßstab offenbar keine Rolle. Gleichwohl bedient sich der Kreml der Sprache des Völkerrechts, um seinem Handeln Legitimität zu verleihen. Die Ansprachen des Präsidenten vom 21. und 24. Februar spiegeln dieses Bemühen wider. Vier zum Teil miteinander verknüpfte Argumentationsansätze sind erkennbar.
Erstens behauptet Präsident Putin, man habe die »Gräueltaten« und den »Völkermord« an Millionen Menschen im Donbas Einhalt gebieten müssen. Dass Russland das Recht in Anspruch nimmt, eigene Bürger und Landsleute im Ausland zu schützen, ist unter anderem Bestandteil der russischen Militärdoktrin. Insoweit stützt sich Moskau allerdings nicht auf internationale Normen und Prinzipien, wie etwa auf das Konzept der Responsibility to Protect, sondern auf die eigene Verfassung.
Zweitens beruft sich Russland auf die Kooperationsvereinbarungen mit den beiden »Volksrepubliken« vom 21. Februar. Diese Begründung läuft auf die Behauptung hinaus, dass die Verlegung russischer Truppen in die betreffenden Gebiete in der Ostukraine auf Anforderung und mit Zustimmung der dortigen Behörden erfolgt sei.
Drittens konstruiert der Kreml einen Fall kollektiver Selbstverteidigung, nämlich der Verteidigung der beiden »Volksrepubliken« gegen einen bewaffneten Angriff durch die Ukraine. In diesen Kontext ordnet sich auch die Aussage Präsident Putins ein, Russland werde die Ukraine »demilitarisieren und entnazifizieren«.
Viertens spricht Präsident Putin von einer fundamentalen Bedrohung Russlands durch den Westen, vor allem in Gestalt der Nato-Osterweiterung, unter Einbindung des »Regimes« in Kiew. Die Argumentation zu diesem Punkt gibt am meisten Anlass zu Besorgnis. Die USA und ihre westlichen Partner hätten nach dem Zerfall der Sowjetunion umgehend versucht, Russland »fertigzumachen und zu vernichten«. Für Russland sei es »eine Frage von Leben und Tod«. Es bestehe eine sehr reale Bedrohung für die Existenz des russischen Staates, der Westen habe die rote Linie nun überschritten. Daher habe Russland die Entscheidung getroffen, im Einklang mit Artikel 51 der UN-Charta – also in Ausübung des völkerrechtlichen Selbstverteidigungsrechts – militärische Maßnahmen einzuleiten. Unabhängig davon, dass die Begründung für die Inanspruchnahme dieses Rechts sachlich nicht trägt, zeigt sich, dass Russland hier einem extrem weiten Verständnis präventiver Selbstverteidigung folgt, das vom Völkerrecht in keiner Weise gedeckt wird.
Mehr dazu finden Sie in unserem Fokusthema »Krieg in der Ukraine«.